31. Ensemble und Amüsment
Während Annabella in ihr Gesetzbuch starrte, schweiften ihre Gedanken zu der gemeinsamen Nacht mit Vitus und in ihrem Magen schienen hunderte Schmetterlinge aufzuflattern. Ergangen war es ihr mit noch keinem Mann so, dass allein ein Gedanke an ihn ihr Herz zum Toben brachte.
Vielleicht fühlte sie sich angezogen von dem Verruchten, das Vitus umgab. Als wohlgesittete Tochter sollte sie sich davon eigentlich abgestoßen fühlen, aber gerade das hatte seinen Reiz.
Annabella dachte an sein markantes Gesicht, auf dem das spitzbübische Grinsen eigentlich keinen Platz hatte, und wieder hob sich ihr Magen, als würde sie aus ein paar Metern Höhe von den Klippen ins Meer springen.
Letztlich wandte Annabella den Blick vom Gesetzestext ab, stützte ihre Stirn in beide Hände und starrte die Schreibtischplatte an. Unter einem tiefen Seufzen hob sich ihr Brustkorb, als sie sich eine Tatsache endlich und ohne Wenn und Aber eingestand. Ich bin verliebt.
Irgendwie fürchtete sie sich vor dem Gouverneursfest, bei dem Annabella zwangsweise auf Vitus treffen und vermutlich die Funken fliegen würden. Denn dass es ihm nicht anders ging und er ernsthafte Gefühle für Annabella hegte, war selbst für sie nicht mehr zu übersehen.
***
In den folgenden Tagen hatte sich Annabella auszureden versucht, dass Vitus eine Chance bei ihr hatte und zählte jeden Missstand auf. Er war zu alt, er war nur Beamter, der Adelstitel fehlte und im Stich hatte er sie auch noch gelassen.
Doch der Gedanke an die Neumondnacht, die sie gemeinsam in ihrem Bett verbracht hatten, trieb ihr immer noch die Schamesröte ins Gesicht - oder besser gesagt ihre lüsternen Gedanken am Morgen danach.
Dies war insoweit ungünstig, als dass Annabella auf einem steinigen Podest in der Ecke des säulengestützten Ballsaals stand. Schließlich spielte sie auf ihrer Querflöte mit einem kleinen Ensemble das Empfangslied für das Gouverneursfest.
Andererseits war ihre Gesichtsfarbe einerlei - niemand der ankommenden Gäste schenkte der Kapelle neben der akustischen auch noch die visuelle Aufmerksamkeit. Dafür aber behielt Annabella den Eingang genau unter Beobachtung wie eine Katze das Mauseloch.
Bei Rolf vasta Graudorns Erscheinen im Saal fühlte sie einen Schlag in die Magengrube. Dank dieses Tontos wollte die halbe Innenstadt einen Rachefeldzug gegen die Ulakas. Würde Nak'Umawea gefunden werden … Annabella schüttelte sich innerlich. Ihr blieb nur zu hoffen, dass Wendelin den Inselrat von den Nachtwanderern überzeugen, den Angriff zurückhalten und einen Boten aussenden konnte.
Ihr war schon die Idee gekommen, die Ulakas vor den Soldaten zu warnen, jedoch sprach sie kein Ulakisch. Außerdem war sie mit ihrem Studium und den Nachtwanderern genug belastet. Vielleicht endete das Ganze auch ohne ihr Zutun positiv.
Als Werner vasta Thalbach mit seiner Frau eintrat, wandte sich Annabella ab und blickte aus den Sprossenfenstern am anderen Ende des Saals in den Garten, wo Fackeln im Wind der Abenddämmerung züngelten. Sie wusste, dass Ricardo folgen würde und dem wollte sie weder ihre Aufmerksamkeit schenken noch Hoffnungen machen.
Im Augenwinkel sah Annabella die Thalbachs zu deren Platz gehen und sich setzen. Erst dann wandte sich Annabella, in Erwartung der Gendarmen, wieder dem von grauen Säulen gestützten Saaleingang zu. Die Wände waren kahl, dafür war das Deckenfresko, das den tarargossischen Himmel und das Meer zeigte, hübsch anzusehen.
Dann trat Gotthart vasta Rax ein. Ihm folgten die Kommissare und Inspektoren, viele bedeutend älter als Vitus. Dass er einer von ihnen war, sprach für seinen Ehrgeiz.
Als sie schließlich Vitus erblickte, setzte ihr Herz einen Schlag aus, nur um dann davon zu fliegen. Gut, dass ihre Finger das Lied von alleine spielten, sonst hätte sie ihre Zerstreuung auch noch kundgetan.
Bisweilen war Vitus der Einzige (abgesehen von - vermutlich - Ricardo), der ihr seine Aufmerksamkeit schenkte und seinen Kopf neigte. Zum Gruße schlug Annabella die Augenlider nieder und blickte ihn dann an. Sein Lächeln schien aufrichtig, voller Bewunderung, doch bevor ihr der Blickkontakt unangenehm werden konnte, wandte sich Vitus ab.
Bis auf diese Weise über dreihundert Gäste in den Saal eingespielt worden waren, verging eine Weile und Annabella musste einen langen Atem beweisen. Umso erleichterter war sie, als Wendelin der Kapelle bedeutete, zum Abschluss zu kommen. Das Ensemble spielte die letzten Takte und endete.
Danach putzte Annabella ihre silbern schimmernde Querflöte noch einmal mit einem Tuch, ehe sie diese im Koffer verstaute. Das Empfangslied war heute ihr einziger Einsatz. Wendelin wollte, dass sie das Fest genoss und sich amüsierte, so wie immer. Eigentlich war ihr das Musikspiel Amüsement genug, andererseits wollte sie die Gelegenheit auch nutzen, um mit Vitus auf Tuchfühlung zu gehen.
Noch atemlos suchte sie nach ihrem Platz an der mit Hibiskus und Magnolien gedeckten Tafel, wo der Gouverneur mit seiner Familie saß. Die Blüten verströmten den süßen Duft eines Gartens und die hereinwehende Brise verteilte die Pollen.
Die Sitzordnung bescherte ihr Tante Olivia als Sitznachbarin, zu Annabellas Linken war der Tisch zu Ende. Annabella stellte ihr Köfferchen auf den Boden und glättete den Rock ihres hellblauen, mit Perlen bestickten Tüllkleides. Dazu lag eine feine Perlenkette um ihren Hals sowie ein Armband um ihr Handgelenk. Das glänzende Perlmutt schmeichelte ihrer leicht gebräunten Haut.
"Hallo Tante", grüßte sie, während sie sich setzte.
Olivia hatte die Arme verschränkt, als ihre giftigen Augen über Annabellas Gesicht huschten und sie ein Grinsen unterdrücken musste. "Was ist da zwischen euch, hm?"
Der Versuch, Unwissenheit vorzutäuschen, würde nicht schaden, vermutlich aber fehlschlagen. "Was meinst du?"
"Wie: Was meinst du? Ist das dein Ernst? Du beleidigst mich", entgegnete Olivia, griff nach ihrem Weinglas und ließ dieses kreisen. Als Annabella nicht sofort antwortete, fuhr sie fort: "Er war einer von zweien, die aktiv zu dir geblickt haben. Aber er war der Einzige, dem du diesen nonchalanten Augenaufschlag geschenkt hast."
"Leck mich", murmelte Annabella.
Zu ihrer Rettung wurde die Vorspeise aufgetischt, sodass sie sich irgendwelche Ausreden ausdenken konnte. Das helle Licht der Gaslampen wurde vom Silberlöffel reflektiert, mit dem sie buchstäblich geboren worden war. Als alle am Tisch ihr Essen hatten, löffelte Annabella wie eine kokette Dame die Manioksuppe mit Kokosmilch. Nach ihrem Geschmack fehlte nur ein wenig Pfeffer.
Ihre Tante ließ sich vom Essen aber nicht ablenken. "Das ist doch gar kein Vorwurf, Annabella", sagte sie leise zu ihr gewandt, sodass es sonst niemand hörte. "Ich meine, er ist fleißig, ehrgeizig, hat große Ambitionen", zählte sie auf. "Und - wie die Jugend sagen würde - ist er auch ein Schnittchen."
Beim letzten Wort verschluckte sich Annabella und hüstelte. Sie klopfte sich leicht auf ihr Brustbein und schluckte. "Wenn er so ein Schnittchen ist, dann mach doch du dich an ihn ran." Immerhin war Olivia nur drei Jahre älter als Vitus und hatte schon seit Jahren keine Beziehung. Zumindest keine, von der Annabella wusste.
"Lass mich da raus", sagte Olivia gedehnt und holte tief Luft. "Er ist zu jung für mich. Außerdem ist er gestört: Der passt viel besser zu dir. Vor ein paar Wochen, als du mir von der Erpressung erzählt hast, warst du genauso wenig von ihm begeistert. Was ist geschehen?"
"Nichts", keifte Annabella. "Und jetzt lass mich." Sie vergaß ihre Haltung und löffelte in heller Aufregung ihre Suppe aus. Ihr ohnehin schon wirbelndes Gefühlsleben stürmte in ihr und sie musste so rot wie eine Koralle sein.
Was geschehen war, fragte ihre Tante. Es war seine Fürsorge, sein Interesse und seine Anerkennung, die sie ihn mögen ließen. Er behandelte sie mit gebührlichem Anstand und Respekt, ohne sie zu irgendetwas zu zwingen. Nun, abgesehen von der Erpressung, aber wenn Annabella ehrlich zu sich war, hätte Vitus gar keine andere Chance gehabt, um sie auf ehrliche Art und Weise auf ihn aufmerksam zu machen.
Die Kapelle setzte ohne Annabella zum nächsten Lied an. Da sie Olivia sowieso nicht belügen könnte, erzählte sie ihr von den Erkenntnissen rund um die Nachtwanderer, von Vitus und der letzten Neumondnacht.
Ihre Tante lauschte ihr mit einem Nicken. "Und jetzt, da ihr gemeinsam geschlafen habt, hast du dich in ihn verliebt."
Annabella ließ ihren Löffel fallen, der gegen die Suppenschüssel klimperte. "Wir haben nicht miteinander … nur nebeneinander!" Ihr Herzschlag pulsierte auf ihren Wangen und sie suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. Lange musste Annabella nicht auf ihre Erlösung warten. Entlang der runden Tische eilte Vitus in ihre Richtung.
Leider war er nicht schnell genug und Olivia konnte noch ihren Kommentar abgeben. "Ich sagte auch nicht, dass ihr miteinander geschlafen habt. Aber scheinbar ist genau das dein Wunsch, wenn du schon nur noch das verstehst."
Annabella verdrehte nur die Augen, dann wandte sie sich ihrem Verehrer zu und ein dämliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen. "Vitus."
"Annabella", sagte er und neigte den Kopf. Er trug eine dunkelgraue Hose und eine Brokatweste im selben Farbton, deren florales Muster silbern schimmerte. Mit dem aufgestellten Hemdkragen und der hellblauen Halsbinde sah Vitus für eine Gouverneurstochter standesgemäß aus.
Dass Annabella heute ihr hellblaues Kleid angezogen hatte, war kein Zufall. Er mochte blau, zumindest glaubte sie das. Und im Gegensatz zu damals im Anker mit Ricardo wollte sie heute farblich zu Vitus passen. Sollte sich die Oberschicht doch den Kopf darüber zerbrechen, ob sich zwischen den beiden etwas anbahnte. Im Grunde wollte sie die Leute genau dies glauben und wissen lassen.
Vitus hielt ihr seine Hand entgegen, die in der beschwingten Melodie fast schon magnetisch wirkte. "Auf einen Tanz?"
Früher hatte Annabella ihn dafür gehasst, dass er sie immer wieder zum Tanz aufgefordert hatte. Trotz aller Abweisung hatte sich Vitus nie davon abhalten lassen: Fast so, als hätte er Spaß an den Demütigungen gehabt, die sie ihm hatte zukommen lassen.
Ohne zu zögern legte Annabella ihre Hand in die seine und erhob sich. Die voluminöse, weiße Tischdecke war um die massiven Tischbeine gebunden, sodass sich ihr ausladender Rock nicht damit verheddern konnte.
Annabella atmete durch. "Schön, dass du mich rettest."
Mit ihr an der Hand ging er voran. Die beiden schlängelten sich um die Tische herum bis zur Mitte des Festsaals, wo die Fläche unter dem größten Kronleuchter zum Tanzen freigehalten worden war.
Annabellas Stöckelschuhe trafen hart auf den Steinboden, doch wurde das Klappern vom Spiel des Musikensembels aus Piano, Ukulele und Panflöte übertönt, das die Zeit bis zu Wendelins Rede überbrückte.
"Vor deiner Tante?", fragte Vitus verdutzt.
Auf der Tanzfläche straffte Annabella die Schultern, reckte das Kinn und begab sich in seine Arme. "Vor meiner Tante, richtig."
Vitus brachte seine Hände in Position. Hauchzart berührten diese Annabella an Finger und Taille. Ganz so leidenschaftlich wie im Krummen Anker würde es bei der gediegenen Musik nicht werden, doch fürs Erste reichte ihr seine Nähe.
Die Glasperlenketten des Kronleuchters über ihnen brachen das Licht der Gaslampen und die Reflektionen legten sich im schummrigen Saal auf sein Gesicht.
"Worum geht's?", fragte er.
Annabellas Brustkorb hob sich, während sie seiner langsamen Führung folgte. "Um dich."
"Um mich?", prustete er und legte den Kopf schief. "Das musst du mir erklären."
"Sie … ich … wir …" Immer wieder setzte sie von Neuem an, da sie nicht recht wusste, was sie ihm sagen sollte. Das erwartungsvolle Schimmern seiner dunklen Augen machte es nicht besser. "Sie versteht nicht, warum ich mich mit dir abgebe."
Ein Lächeln entblößte seine Zähne. "Das verstehe ich auch nicht."
"Ich schon", gab Annabella mit einem Schulterzucken zurück und ließ ihn schmoren, auf dass er auf verheißungsvolle Worte ihrerseits hoffte. "Du hast mich erpresst und nur deswegen gebe ich mich mit dir ab."
Es war eine seiner Eigenarten, dass Annabella ihn beleidigen konnte, so sehr sie wollte: Statt gekränkt zu sein, lachte Vitus. "Die beste Entscheidung meines Lebens."
Da war wieder der Lausbube, der Schabernack trieb, doch seiner Männlichkeit tat das keinen Abbruch. Ihr Herz klopfte fest in ihrer Brust, als sie ihn anhimmelte und nichts zu erwidern wusste.
Manchmal, als sich das Deckenfresko wieder einmal vollständig um Annabella drehte, erblickte sie die Thalbachs. "Mich irritiert, dass mein blöder Ex mit seiner Sippe heute hier ist. Habt ihr bei Werner nichts gefunden?"
"Da war nichts", fasste Vitus zusammen. "Kein Hinweis auf Drogentransporte." Er knirschte die Zähne. "Dabei war es so eindeutig. Jetzt fange ich wieder von vorne an und ich hab keine Idee, wo."
"Tut mir leid", antwortete Annabella. "Vor allem, dass mein Verhör von Ricardo nichts bewirkt hat."
"Ricardo", murmelte Vitus, blickte zum Eingang, dann wieder zu ihr.
Schließlich erklang das Klirren eines Glases, sodass Annabellas Blick zur langen Tafel des Gouverneurs schnellte und das Tanzpaar stehen blieb. Wendelin hatte sich erhoben und mit einer Gabel gegen seinen Kelch geklimpert. Die Rede.
"Sehen wir uns später?", fragte Annabella und ließ ihre Arme sinken.
Vitus nickte. "Ich bitte darum."
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