30. Urkunden und Einladungen
Es war eine surreale Situation, als Annabella zusammen mit ihrem Vater in dessen holzvertäfelter Schreibstube saß und Vitus durch den Türrahmen trat. Es war das erste Mal, dass die beiden Männer bewusst aufeinandertrafen. Das Licht der untergehenden Sonne tünchte die Stube in helles Orange und Staub tanzte als stiller Schleier durch die Luft.
Daumen knetend blickte Annabella ihren Verehrer an und sogleich erhitzten sich ihre Wangen. Wie sollte sie bei diesem Anblick auch nichts empfinden? Vitus trug die Uniform der Manavaer Gendarmerie: Ein hellgraues Jackett mit seinem Dienstabzeichen auf der Brust und auf den Schulterkappen, eine schwarze Hose und auf Hochglanz polierte Schuhe. Die schwarze Schirmmütze hatte Annabella noch nie an ihm gesehen, aber scheinbar wollte Vitus - wenn er schon den Gouverneur traf - makellos auftreten. Und nach ihrem Geschmack war ihm das gelungen.
Vitus zog sich die Kappe vom Kopf, klemmte sich diese zwischen die Finger, und ging zum Schreibtisch. Zwischenzeitlich war er beim Coiffeur gewesen und hatte Wachs in seinen kurzen Haaren verteilt, um diese ordentlich zur Seite zu scheiteln. Seine unfrisierte Variante hatte Annabella aber fast schon besser gefallen.
"Dagar mit Euch, Herr vasta Mangold", sagte Vitus mit samtig tiefer Stimme.
Der Gouverneur erhob sich mit geschwellter Brust und reichte ihm die Hand. "Danke, dass Ihr Euch so kurzfristig Zeit genommen habt, Herr ..."
Annabella hatte ihrem Vater Vitus' Namen schon mehrfach mitgeteilt, aber scheinbar legte Wendelin Wert darauf, seinem Gegenüber das Gefühl der Unbedeutsamkeit zu geben. Warum er das tat, war ihr nicht klar, aber sie hatte eine leise Ahnung. Die Eifersucht eines Vaters auf den Mann, der ihm die Tochter stehlen würde. Scheinbar war Wendelin doch nicht auf den Kopf gefallen, wenn sich in dieser Hinsicht etwas anbahnte.
"Arlstein", vervollständigte Vitus knapp, während er dem Gouverneur die Hand schüttelte.
Wendelin löste sich und deutete auf den freien Polsterstuhl neben Annabella. "Bitte."
Vitus nickte und setzte sich neben sie. Eine Reaktion ihres Körpers auf seine Nähe blieb nicht aus. Ihr Herz klopfte gegen ihre Rippen, was für diese Situation völlig unangemessen war, und Annabella musste sich konzentrieren, um nicht in Tagträumereien zu versinken.
Mit den Akten in seinem Schoß strich Vitus das Jackett glatt. "Nun, ich denke eher, dass ich Euch zu Dank verpflichtet bin, da Ihr mich anhört."
"Wie soll ich auch nicht, wenn mich meine Tochter schon darum bittet?", erwiderte Wendelin mit einem Lächeln. Dann kniff er die Augen zusammen. "Ihr wart also mit ihr in Akalua?"
Annabella unterdrückte ein Seufzen: Sie hasste es, wenn man über sie in der dritten Person sprach, obwohl sie im selben Raum war.
Vitus nickte und schluckte. Sein Teint wirkte im Licht der untergehenden Sonne golden. "So ist es."
Ebenso golden war das blonde Haar ihres Vaters, der sich in seinem Sessel zurücklehnte und die Arme verschränkte. "Meine Tochter sprach von Kreaturen, denen ihr dort begegnet seid. Was hat es damit auf sich?"
"In Euren Ohren mag es verrückt klingen, aber die Neumond-Morde und der Akalua-Angriff wurden von denselben Tätern begangen." Vitus legte die Akten auf den Schreibtisch des Gouverneurs. "Alles begann vor acht Monaten am Tag der Wintersonnenwende."
Vitus blätterte in der dicksten Akte und stoppte bei den Zeugenaussagen der überlebenden Wachmänner. "Undefinierbares Trommeln, religiöser Gesang - Chanten -, und tanzende Feuerbälle, die Spiralen und Kreise durch die Dunkelheit zogen."
Wendelin löste die Verschränkung seiner Arme und schlug die Beine übereinander. "Klingt für mich eher nach einem Lahscha-Rausch als nach einer ernstzunehmenden Zeugenaussage."
Dem Blickduell hielt Vitus stand und erwiderte unbeirrt: "Acht Männer haben diese Vorkommnisse bestätigt. Möglicherweise behandelt Rolf vasta Graudorn sein Personal schlecht, aber dass alle zum selben Zeitpunkt im Rausch waren, glaube ich nicht. Eben weil es Wachmänner sind."
"Meinetwegen", gab der Gouverneur zurück.
"Ein Feuer wütet. Die Mine brennt aus und die Flammen greifen auf das Arbeiterlager über. Die Wachmänner fliehen und sperren die Häftlinge im Areal ein. Sechsundfünfzig Tote."
"Sie haben sie eingesperrt?", empörte sich Annabella. Wann sie ihr Mitgefühl entdeckt hatte, wusste sie nicht, aber diese Information traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Wie konnte jemand so etwas Grausames tun und Menschen auf diese Weise in den Tod schicken?
Vitus blickte sie aus tintenblauen Augen an und nickte mit zusammengpressten Lippen. "Nicht, dass ich ein solches Vorgehen befürworte, aber Graudorn ist verpflichtet, das Entkommen seiner Strafarbeiter unter allen Umständen zu verhindern. Seine Wachen haben Anweisungen befolgt, bevor sie selbst geflohen sind."
Es waren zwar bloß Sträflinge gewesen, aber einen solchen Tod hatte niemand verdient. "Das ist schrecklich", hauchte Annabella.
Wendelin räusperte sich. "Aber nicht mehr zu ändern. Wer waren denn diese Angreifer?"
Mit großen Augen wagte Annabella einen Blick zu ihrem Vater. Sie hob die Hand, um auf ihrem Fingernagel zu kauen. Was nun kommen würde, war ihr unangenehm - selbst wenn Vitus diesen Part übernehmen würde.
Auch er gab die Antwort nicht sofort. Scheinbar scheute sich Vitus genauso davor, die Karten auf den Tisch zu legen. "Seit dem Angriff geschehen in Manava unerklärliche Morde an Kolonisten. Plötzlicher Herzstillstand ohne Ursache. Angriffe mit uralten Pfeilen, die längst nicht mehr existieren dürften." Vitus blätterte in allen Akten zu einer bestimmten Seite und schob sie dem Gouverneur unter die Nase. "Und alle fanden an Neumond statt."
"Ritualmorde?", fragte Wendelin und kraulte seinen hellen Bart.
Vitus' Augenbrauen hüpften in die Höhe. "So in der Richtung."
Annabella konnte das Geeiere nicht mehr länger mit ansehen. Ihr Herz klopfte bei dem Gedanken an das, was ausgesprochen werden musste. Nur einmal zusammenreißen ... nur einmal die Scheu überwinden. Und so platzte es aus ihr heraus: "Es sind Nachtwanderer! Untote Ulaka-Krieger! Und sie rächen sich an den Kolonisten."
Obwohl oder gerade weil der Gouverneur verdutzt dreinblickte und perplex zu sein schien, folgte er den weiteren Ausführungen der beiden ohne Einwendungen, Nachfragen oder Skepsis. Vermutlich wäre das ohnehin nicht möglich gewesen, denn Annabella und Vitus sprachen ohne Punkt und Komma und versuchten glaubhaft darzulegen, dass die untoten Nachtwanderer mehr als nur eine Legende waren.
Nachdem die beiden zu einem Ende gekommen waren, starrte Wendelin eine Weile ins Leere, bis er fragte: "Also haben nicht wirklich Ulakas die Mine angegriffen und ein Vergeltungsschlag ist obsolet."
"Die lebenden Ulakas haben mit den Untoten nichts zu tun", meinte Vitus. "Und mit jedem Leben, das die Nachtwanderer nehmen, wird ihre eigene Kraft gestärkt."
"Was soll das bedeuten?"
"Umso länger sie wüten, desto gefährlicher werden sie. Und irgendwann wird die Innenstadtmauer nicht mehr ausreichen, um alle von ihnen aufzuhalten."
Zwischenzeitlich hatte Wendelin offenbar ganz und gar seine Eifersucht auf Vitus vergessen, doch diese kehrte er nun wieder hervor. "Und warum sagt Ihr mir das erst jetzt? Drei Wochen, nachdem Ihr mit meiner Tochter in Akalua wart?"
"Zuerst war ich mir unsicher, womit wir es zu tun haben, und dann war ich beruflich bedingt verhindert", antwortete Vitus ohne den Blick abzuwenden. Wenigstens ließ er sich von Wendelin nicht einschüchtern.
"Wenn das wahr ist ...", begann der Gouverneur und knetete sich die Nasenwurzel. "Verzeiht mir, Herr ..."
"Arlstein."
"..., dass mir Eure Worte reichlich abenteuerlich erscheinen und ich Euch nur deswegen einen Funken Glauben schenke, weil meine Tochter die Vorkommnisse bestätigt."
Annabella starrte ihren Vater nieder. "Denkst du, er verkauft dir gerne irgendwelche Mythenwesen als Wahrheit?"
"Es ist relativ einerlei, was ich denke", erwiderte Wendelin mit einem Schulterzucken. "Immerhin muss ich den Inselrat überzeugen, dass diese Nachtwanderer existieren und auch noch den Minenangriff zu verantworten haben. So, wie ich dieses bornierte Pack kenne, werden sie mich auslachen."
"Dann bring sie zur Mine", keifte Annabella. "Und lass sie am besten von den Nachtwanderern töten. Dann sehen sie es mit eigenen Augen, dass wir die Wahrheit sagen."
Mit leeren Augen starrte Wendelin seinen Schreibtisch an und ließ seinen Blick über die vor ihm ausgebreiteten Akten wandern. Das alte Papier verströmte einen abgestandenen, süßlichen Geruch. "Ich fürchte, Ihr habt mit Eurer Abwesenheit wertvolle Zeit verschwendet, Herr Arlstein. Wir müssen ..." Wendelin seufzte und ließ eine Hand auf die Tischplatte fallen. "Was müssen wir eigentlich tun? Wie setzt man sich gegen Untote zur Wehr?"
"Was das angeht ...", begann Vitus zögerlich: "... so fürchte ich, dass wir jemanden brauchen, der näher an der Thematik dran ist."
In Wendelins blauen Augen lag ein undefinierbarer Schleier. "Wovon sprecht Ihr?"
"Wenn jemand weiß, wie man die Nachtwanderer erlöst, dann sind es die Ulakas."
Der Gouverneur zog eine Augenbraue in die Höhe. "Also müssen wir Nak'Umawea finden und die Ureinwohner um Hilfe bitten, statt sie anzugreifen?"
"Dass ein solcher Angriff nicht die Lösung ist, sollte wohl einleuchten", sagte Vitus.
"Ausgerechnet jetzt, wo der Inselrat so angriffslustig wie nie zuvor ist", kommentierte Wendelin mit einem tiefen Seufzen, sodass sich sein Brustkorb merklich senkte. "Sobald die Stadt gefunden ist, wollen sie den Vergeltungsschlag. Sie ..."
"Papa", unterbrach ihn Annabella. "Verhindere den Angriff, bitte. Dann wirst du eben nicht Gouverneur von Tarragoss, aber dein Gewissen wäre rein."
Über Wendelins Gesicht breitete sich ein süffisantes Grinsen aus. "Ich muss gar kein Gouverneur mehr werden. Weil ich es schon bin."
"Wirklich?", fragte Annabella, legte eine Hand an ihr Brustbein und
atmete erleichtert aus. Zumindest hätten die Ulakas nun einen einigermaßen mächtigen Fürsprecher, der sich nicht so leicht umstimmen lassen würde.
Wendelin grinste wie ein kleiner Schuljunge, der eine Eins im Mathetest nach Hause brachte. "Vor drei Tagen ist die Ernennungsurkunde aus dem Mutterland angekommen."
"Dann kannst du den Angriff verhindern, nicht wahr?", fragte sie.
"Letztlich können sie mich wieder absetzen, wenn dem Inselrat meine Entscheidungen nicht passen, aber das wird dauern. Es verschafft uns Zeit, eine Lösung zu finden, mit der hoffentlich alle zufrieden sind", antwortete der Gouverneur. Zum ersten Mal in diesem Gespräch klang er hoffnungsvoll. "Übrigens wird es am kommenden Wochenende eine Feier anlässlich meiner Amtseinführung geben. Natürlich bist du eingeladen." Dann warf Wendelin einen skeptischen Blick zu Vitus. "Und Ihr ebenso. Für Eure Mühen."
Vitus konnte ein lasches Schmunzeln nicht unterdrücken. "Ich bin leitender Kriminalbeamter. Ich komme schon seit geraumer Zeit zu den Feierlichkeiten ins Gouverneurshaus."
"Ach wirklich?", tat Wendelin überrascht und rieb sich das Kinn. "Seid Ihr nicht derjenige, der meine Tochter immer wieder zum Tanzen holt, obwohl sie ihm mehr als ausdrücklich gesagt hat, dass sie das nicht möchte?"
"Papa!", fauchte Annabella.
Doch Vitus schien es nichts anzuhaben. Stattdessen nickte er mehrfach. "Genau der bin ich!"
"Bei Dagar! Sachen gibt's!", erwiderte der Gouverneur, was wie eine Respektsbekundung klang. "Die Geschichte möchte ich eines Tages wirklich hören."
Welche Geschichte? Die Geschichte darüber, wie Vitus es geschafft hatte, ihre zutiefste Ablehnung in Wohlwollen zu ändern? Wieder erwärmten sich Annabellas Wangen. Einerseits wollte sie vor ihrem Vater keine Männergeschichten ausbreiten. Andererseits hatte alles mit dem Mord an Gustav vasta Mangold und einer Erpressung begonnen . War es eine gute Idee, hiervon zu erzählen, solange der wahre Täter nicht bekannt war? Schließlich würde Wendelin nachfragen, warum sich Annabella darauf eingelassen hatte. Um meinen eigenen Arsch zu retten - und vielleicht auch deinen.
Der Gouverneur kratzte sich perplex an der Schläfe. "Wie dem auch sei. Ich veranlasse, dass die Soldaten zurückgezogen werden und mir und dem Inselrat Begleitschutz für die Akalua-Mine geben. Vielleicht kann eine Begegnung mit diesen Untoten sie von der Unschuld der Ulakas überzeugen."
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