29. Freimoor und Danbei
"Beeindruckende Vorstellung."
Vitus zuckte so heftig zusammen, dass er beinahe aus seinem Sessel gefallen wäre. Sein Kopf schnellte in die Höhe. Im Türrahmen stand Annabella.
Ein Anblick, der Vitus heiß und kalt werden ließ und er schluckte. "Danke."
Sie huschte herein und schloss hinter sich die Tür zur kahlen Schreibstube. Ihr pastellorangefarbenes Kleid, das er schon vom gemeinsamen Ausflug ins Wokolo-Tal kannte, war der einzige Farbtupfer. "Woher weißt du, dass die alte Hochbrunn säuft?"
Vitus deutete vage auf sein Gesicht. "Wegen der Kupferrose. Man sieht die Adern an Wangen und Nase. Ist bei Alkoholikern immer so. Setz dich doch." Er deutete zu dem ungemütlich aussehenden Stuhl gegenüber seines Schreibtischs.
"Danke", gab Annabella mit einem Nicken zurück und setzte sich. Trotz ihres geringen Gewichts knarrten die Stuhlbeine.
Er lehnte sich in seinem schwarzen Sessel zurück und führte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. "Dann erzähl mal, was du aus deinem Verflossenen rausbekommen hast und ob du ihm Einhalt gebieten konntest."
"Glaub mir: Ricardo war nicht das Problem", sagte Annabella und fuhr voller Hohn fort: "Im Gegensatz zu dir ist er nämlich bis zum Schluss bei mir geblieben, obwohl es fast seinen Tod bedeutet hätte."
"Ich …", begann Vitus und stockte. Er wollte nicht, dass Ricardo eine bessere Stellung bei ihr hatte als er selbst. "Es tut mir leid. Ich hab die Zeit mit dir mehr als genossen …", beteuerte er mit dünner Stimme. Konnte es sein, dass er sich gerade zum Tonto machte? Statt einfach den Mund zu halten, faselte Vitus weiter: "… und meinetwegen hätten wir für immer weiter tanzen können, aber diese Leute und die Drogen…"
"Ja ja, die Drogen", warf Annabella mit einem Augenrollen ein.
Vitus seufzte. Die Drogen hatten sich schon zwischen ihn und Machalla gedrängt. Ob es überhaupt eine Chance für ihn und Annabella gab?
"Man könnte meinen, du seist selbst abhängig, so sehr vergisst du alles andere um dich herum", warf sie ihm vor.
Damit hatte sie nicht unrecht. Aber wie sollte er die Geister der Vergangenheit je hinter sich lassen, wenn das Ganze für immer so weiterginge?
"Wie dem auch sei", fuhr Annabella fort. "Nachdem mich ein halbes Dutzend Makha vergewaltigen wollte, mir dann aber ein anderer Makha geholfen hat, wollten mich irgendwelche Kolonisten entführen. Ricardo ist zu mir zurückgekommen und wir sind ins Meer geflüchtet, um zur Innenstadt zu schwimmen."
"Schwimmen? In die Innenstadt?", fragte Vitus und runzelte die Stirn. "Aber die Strömung."
Annabella reckte das Kinn. "Genau das hat Ricardo auch gesagt, und doch ist er bei mir geblieben. Ich wäre beinahe krepiert, aber er hat mich Mund zu Mund beatmet und mir eine Herzmassage gegeben." Sie legte eine Hand an ihre Brust. "Genau hier."
Wollte sie Vitus unter die Nase reiben, dass ihr Verflossener ihre Lippen mit den seinen berührt hatte? Und dass er eins ihrer sekundären Geschlechtsorgane in der Hand gehabt hatte? Wollte sie Vitus damit eifersüchtig machen?
"Ich weiß, wie Wiederbelebungsmaßnahmen funktionieren", sagte er unter einem Stöhnen und rieb sich die Nasenwurzel.
Ihre Augen funkelten, als sie die Arme verschränkte. "Er hat mir das Leben gerettet - nachdem ich ihn für dich ausgehorcht habe. Und als Dank dafür hab ich ihn abgewiesen und ihm erneut das Herz gebrochen."
Empfand sie so etwas wie Mitleid für ihren Verflossenen? Vitus zuckte mit den Schultern. "So ist das Leben. Als Mann sollte er eigentlich gewöhnt sein, den Frauen hinterherlaufen zu müssen. Warum sollte es ihm anders gehen als mir?"
Annabella kniff die Augen zusammen, starrte ihn vernichtend an und grollte: "Du läufst den Frauen nicht hinterher: Du erpresst sie! Und dann lässt du sie sitzen, verschwindest und bringst sie in Gefahr!"
Heikles Thema. Vitus entschied sich für eine Ablenkung. "Darf ich dir Tee oder Kaffee anbieten? Oder sonst etwas?"
"Außerdem …" Annabella erhob ihren Zeigefinger und abermals die Stimme. "… brauchst du dir auf die gestrige Nacht überhaupt nichts einzubilden, klar? Ich bin immer noch angeschlagen wegen dieser Untoten, auch wenn ich dieses Mal ungeschoren davon gekommen bin."
Ihr Gesicht war rot angelaufen, weil sie erst am Ende ihrer Schimpftirade wieder Luft holte. Irgendwie hatte sie das gewisse Etwas, wenn sie sich aufregte. Etwas, das Vitus fast schon herausforderte, sie noch mehr zu provozieren. Andererseits wollte er nicht auch noch eine hysterische Gouverneurstochter in seiner Schreibstube haben. Vermutlich hielten seine Kameraden in den Nachbarstuben ohnehin schon Gläser an die Wände und pressten ihre Ohren an den Glasboden, um die beiden zu belauschen.
"Du bist aber nicht gekommen, um mit mir über gestern zu reden und die Gründe auszudiskutieren, warum du mich in dein Bett gelassen hast?"
Annabella straffte ihre Schultern. "Nein, ich wollte nur nochmal gesagt haben, dass du dir nichts darauf einzubilden brauchst und das Ganze einmalig war."
Ja ja, dachte Vitus: Wart nur ab bis zum nächsten Neumond, dann werden wir schon sehen. Sein Gedanke lag ihm auf der Zunge, doch er schwieg. Stattdessen träumte er von der nächsten Neumondnacht.
Seine Fantasien trieben ihm ein süffisantes Grinsen auf die Lippen. Würde ihr die gestrige Nacht wirklich Nichts bedeuten, würde Annabella nicht derart auf diesen Umstand beharren. Sie wollte mehr von ihm. Und mit dieser Erkenntnis entlud sich eine geballte Ladung Glücksgefühl in seinem Bauch.
Vitus presste nur die Lippen zusammen und machte: "Mhm." Jedes Wort hätte er gekrächzt, so hatte sich der Schleim in seiner Kehle angesammelt. Vitus hatte eine echte Chance bei ihr, er dürfte diese nur nicht verschenken.
"Wie dem auch sei", fuhr Annabella fort. "Unsere Vereinbarung. Du kriegst die Informationen, die ich aus Ricardo rausgequetscht habe, wenn ich den Bericht habe."
Zumindest tanzte sie nicht lange um den heißen Brei herum. Vitus stand auf und ging zu seinem Tresor im Wandschrank. Gelangweilt suchte er den richtigen Schlüssel an seinem Bund und entriegelte die Tür. Das verrostete Ding ließ sich nur mit einem Quietschen öffnen, doch verwahrte es Dokumente zu brisanten Kriminalfällen sicher.
Ganz unten lag Gustav vasta Mangolds Totenbericht, den er Annabella versprochen hatte. Zwar gab Vitus in dem Moment den einzigen Beweis für Gustavs Ermordung aus der Hand, aber er hatte ohnehin keine Ambitionen, in diesem Fall weiter zu ermitteln. Annabella hatte ihm vollends den Kopf verdreht und er wollte sie - aber nicht im Kerker.
Mit schweren Schritten, fast schon theatralisch, kehrte Vitus zurück und legte den Bericht in die Mitte seines Schreibtischs. Als Annabella danach fasste, zog er das Papierbündel zurück. "Erst Ricardos Informationen."
"Erst den Bericht. Du kannst mir alle absonderlichen Papiere hinlegen. Ich will es sehen!", forderte Annabella.
Vitus verdrehte die Augen. "Hier." Fast schon geknickt murmelte er: "Dass du mir das zutraust."
Wie ein Verdurstender sich auf ein Wasserloch stürzte, so lechzte sie nach dem Totenbericht. Ihre Augen flogen gar über die Zeilen und Vitus sah ihr die schwere Denkarbeit direkt an. Dann runzelte Annabella die Stirn. "Erstickt? Mit einem Kissen?"
"Der grüne Samt, in den er gebissen hat, klebte in den Zahnzwischenräumen und Partikel davon waren auch in seiner Luftröhre", erklärte Vitus in einem Satz, was im Bericht auf über zwanzig Seiten ausgedehnt war. Dann ließ er sich in seinen Sessel fallen, was ihm seine schmerzenden Rippen verübelten. "Mehr steht nicht drin. Also, was hat Ricardo gesprochen?"
Mit einem Rascheln legte Annabella die Papiere übereinander, klopfte sie gerade und steckte den Bericht in ihre winzige Handtasche - ein wahres Platzwunder. "Seine Eltern zwingen ihn zur Arbeit. Da sich Ricardo für die Schreibtischarbeit nicht begeistern kann, fährt er jetzt solange Kutsche, bis er sich bereit fühlt, das Geschäft zu übernehmen. Außerdem hat er von wichtigen Vertragsabschlüssen gefaselt, die seine Passagiere getätigt haben wollen."
Noch ein Grund, Kutscher zu hassen. "Seine Eltern …", sagte Vitus und deutete vage zur Tür.
Annabella nickte. "Regina vasta Thalbach ist seine Mutter, ja. Die hast du gerade kennengelernt."
Vitus nickte und erwartete, dass sie noch etwas zu sagen hatte, doch sie schwieg. Ein wenig arg spärlich, befand er. "Ist das alles?", fragte er mit gerümpfter Nase. "Mehr nicht? Lahschaquelle, Kontaktmänner, Verkäufer?"
Sie schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, Vitus. Er hatte kein Lahscha dabei. Ich hab alles versucht, aber er ist dem Thema so vehement - fast schon verbissen - ausgewichen, dass ich nur zu einem Schluss komme."
Für den Hauch einer Sekunden blickten sie einander in die Augen, bis beide sagten: "Er ist Drogenkurier."
Vitus hatte seine Ellenbogen am Tisch abgestützt und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, als er den Kopf hängen ließ. "Das kann ja heiter werden", sagte er unter einem Seufzen. "Wenn es schon bis zum Thalbach-Erben reicht."
"Was willst du jetzt tun?"
Vitus streckte seine Arme über den Kopf. "Eine Durchsuchung des Thalbach-Kontors erscheint mir naheliegend. Wenn sein Vater ihn zwingt, Kutsche zu fahren und Ricardo wirklich ein Drogenkurier ist, dann hat der Vater vielleicht die Geschicke des Rings in der Hand."
"Werner vasta Thalbach", murmelte Annabella und stand auf. Der Stoff ihres pastellfarbigen Kleides raschelte und reflektierte die Morgensonne, als sie sich erhob und zur Tür marschierte.
"Annabella?"
"Hm?" Sie wandte sich noch einmal um.
"Danke für deine Hilfe und deine Meinung. Das macht es mir leichter, irgendwelchen Drogenphantomen hinterherzujagen. Zu wissen, dass man mit seiner Ansicht nicht allein ist, meine ich." Vitus konnte sich auch täuschen, aber er glaubte, so etwas wie den Anflug eines Lächelns mit untergemischten Stolz in ihrem Gesicht zu erkennen.
Annabella klopfte in Anspielung auf den Bericht auf ihr Täschchen. "Es lässt sich nicht abstreiten, dass wir gut kooperieren."
Vitus nickte. "Pass auf dich auf. Immerhin wurde Stefano gestern Nacht getötet."
Sie kniff die Augen zusammen. "Was? Waren deswegen die beiden Weiber hier? Wie wurde er getötet?"
Vitus wollte nicht noch mehr Panik schüren, aber sie würde es ohnehin erfahren. "Von mehreren Pfeilen durchbohrt."
"Genau wie Freimoor und Danbei", hielt Annabella fest und wankte. "Das waren sie … die Nachtwanderer!"
Sofort erhob er sich und ging ihr mit schnellen Schritten entgegen. Der Versuchung, sie in den Arm zu nehmen, widerstand er. "Ich vermute eher, dass der Drogenring Stefanos Ermordung in Auftrag gegeben hat, weil ich ihr Drogenversteck gefunden habe. Sie haben die Morde an Freimoor und Danbei als Vorbild genommen, um die Tat als die des Neumond-Mörders zu tarnen."
"Trotzdem hab ich auf dem Weg hierher von einem halben Dutzend Morde in der letzten Nacht gehört. Tote Kolonisten im Makha-Viertel. Die Nachtwanderer werden aktiver und sie rücken immer näher." Annabella begab sich von selbst in seine Arme.
"Es muss einen Weg geben, um sie aufzuhalten", versuchte Vitus sie zu beruhigen und strich über ihren Rücken. Dass ausgerechnet sie als eigenwillige und starke Frau seinen Zuspruch brauchte, schmeichelte ihm. Und plötzlich erschien ihm seine unverblümte Wunschvorstellung von vor wenigen Minuten falsch. Natürlich wollte er sie, sehnte sich nach ihr, aber letztlich war er nicht nur wegen ihres Körpers in sie verliebt.
"Und welchen?", fragte Annabella mit brüchiger Stimme. "Das sind Geister, die sich an Kolonisten rächen."
"Vielleicht ist es gar nicht so falsch, wenn die Ulakas gefunden werden. Wir könnten sie um Hilfe bitten und fragen, ob sie die Seelen ihrer verstorbenen Krieger erlösen."
"Denkst du wirklich, sie würden das für uns tun? Nach allem, was wir ihnen angetan haben?"
Das war die typische Denkweise der Kolonisten. Vitus aber war ein Makha und sah es anders. "Ich denke, sie wollen ihren Stammesbrüdern die Einkehr ins Jenseits ermöglichen, ja. Außerdem denken die Ureinwohner nicht in der gehässigen Weise wie wir es tun. Vielleicht würden sie uns helfen, wenn wir sie darum bäten."
"Dein Vorschlag? Warten, bis Nak'Umawea gefunden wurde und statt sie anzugreifen, einen Boten senden?"
Vitus nickte.
Annabella senkte den Kopf. "Ich bin sicher, Vater gefällt die Idee - sofern er mir das mit den Nachtwanderern glaubt."
"Wenn du möchtest, sammle ich die Totenberichte und wir überzeugen ihn gemeinsam, dass Untote existieren."
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