26. Das erste Schlachtfeld
Bevor Annabella Vitus weiter ausquetschen musste, fuhr er ungerührt fort: "Fällt ein Ulaka-Krieger im Kampf und wird ihm daraufhin nicht die letzte Ehre erwiesen, ist seine Seele auf der Erde gefangen. Auf der Suche nach Erlösung bindet sie sich wieder an den toten Körper und wandelt mit ihm rastlos umher. So entstehen die Nachtwanderer."
Er seufzte tief und endlich hob er den Blick, um seine Schlussfolgerung mit ihr zu teilen. "Ich denke, die Nachtwanderer, die wir an der Mine gesehen haben, waren ulakische Opfer des Vernichtungsschlags."
Annabella kaute auf ihrer Wangeninnenseite und knetete ihre Daumen. "Aber warum haben sie die Mine jetzt erst angegriffen?", fragte sie.
"Ich kann mich irren, aber ich glaube, dieser Hohlraum, in dem sie lagen, war in den vergangenen Jahrzehnten ihr Gefängnis. Als man den Betrieb an der Akalua-Mine aufgenommen hat, muss es den damaligen Arbeitern gelungen sein, die Leichen der Ulakas in den Hohlraum zu bringen, den Zugang zu verschließen und die Seelen irgendwie zu bannen, sodass diese nicht mehr aus ihrem Grab entfliehen konnten."
Vitus' Blick war düster. Eigentlich blitzte in seinen dunklen Augen immer ein Fünkchen Schalk, doch im Moment war dort nichts als Ernst. Er machte einen Sprung in die Gegenwart und meinte: "Aber nach dreißig Jahren, war die Mine so weit erschöpft, dass sich die Stollen immer tiefer in den Hügel gruben und das, was verborgen bleiben sollte, wurde zu Tage gefördert. Irgendeiner der Arbeiter hat aus Versehen - völlig unwissend, was dort unten ist - eine Felswand zum Einsturz gebracht, die Höhle geöffnet und die gefangenen Seelen befreit. Daher auch der Angriff auf die Mine von innen heraus, was sich mit dem deckt, was die überlebenden Wachmänner sagen."
Annabella vergrub ihr Gesicht in beiden Händen und rieb sich die Augen. Sie erinnerte sich an den Geröllhaufen am schwarzen Loch, vor dem einer dieser Nachtwanderer gestanden hatte. Noch hielt sie tapfer die Gefühle hinter dem Staudamm zurück, den sie in den Wochen nach der Begegnung mit den Helewawae aufgebaut hatte. Doch Annabella fühlte, wie die Barrikade immer brüchiger wurde. "Und jetzt greifen sie an, weil…"
"Weil sie Rachegeister sind. Der Akalua-Hügel war ein heiliger Ort für die Ulakas. Dass die Kolonisten den Hügel ausbeuten wollten, hat ein Tabu überschritten, weshalb es zum Kampf und dem Vernichtungsschlag gekommen ist. Und bis sie Erlösung finden, rächen sie sich an jedem, in dessen Adern nicht ihr Blut fließt."
Dieselbe Panik, die Annabella damals empfunden hatte, kochte langsam hoch und trat über den Damm. Heiß und kalt lief es ihr den Rücken hinab. "Werden sie in die Stadt kommen?"
Vitus zog die Schultern an. "In ihrem Durst nach Rache suchen sie die Orte auf, an denen viel Böses passiert ist. Und Manava wurde auf dem ersten Schlachtfeld gegründet, auf dem die Ulakas je gegen die Eindringlinge gekämpft haben."
"Manava …", hauchte Annabella. Ihre Augen kitzelten, als sich leidiges Tränenwasser bildete. Vor ihrem Ausflug an die Akalua-Mine hätte Annabella ihn ausgelacht und gesagt, dass er ihr mit seinem Mythenkram gestohlen bleiben konnte. Doch jetzt, nachdem sie gesehen hatte, dass diese Nachtwanderer wirklich existierten, war sie gewillt, jedes Wort ohne Zweifel zu glauben. "Was wird passieren? Was haben sie vor?"
"Jeder, der ihnen in die Augen blickt, ist verdammt, auf ewig mit ihnen zu wandeln oder zu sterben."
Nach seinen Worten rollten heiße Tropfen über Annabellas Wangen. Sie bemühte sich nicht mehr, die tapfere Fassade aufrechtzuerhalten. Immerhin hatte Annabella diesen Fluch auf sich gezogen, als sie einem der Nachtwanderer in dessen tiefschwarzen Augen geblickt hatte.
Vitus' Gestalt nahm sie nur noch hinter einem Tränenschleier wahr. Vielleicht aber gab es Hoffnung, denn Annabella hatte in den letzten Wochen nichts von dem Fluch bemerkt. Allerdings brauchte sie Gewissheit. "Aber wann schlagen sie zu?"
"In den Nächten, in denen nicht mal der Mond scheint", brachte Vitus tonlos hervor.
Annabella japste nach Luft. "Der Neumond!" Sofort sprang sie aus ihrem Sessel und stürzte zu einem der Sprossenfenster, doch der Giebel des Nachbargebäudes blockierte ihr die Sicht. Allgemein hatte sie von ihrem Appartement in der Innenstadt aus keinen ansprechenden Ausblick auf den Sternenhimmel.
"Ja", bestätigte Vitus, der plötzlich neben ihr stand, und legte eine Hand auf ihren Unterarm. "Heute ist Neumond."
"Vitus!", wimmerte Annabella mit flatternden Nasenflügeln. Jetzt konnte sie die Tränenflüsse nicht mehr zurückhalten.
Er hielt ihr ein Taschentuch entgegen, das sie annahm. Genauso hilflos hatte sich Annabella schon vor drei Wochen gefühlt, als Vitus ihr erstmals sein Gespräch mit diesem Nachtwanderer übersetzt hatte.
"Weißt du, ich hab einem von denen in die Augen geblickt." Ihre Stimme brach ab. Ihre Kehle war ein Klumpen, schmerzhaft drückend, als würde eine Eisenkugel darin feststecken. "Ich wollte wegsehen, aber er stand plötzlich im Weg und ich hab ihm in die Augen gestarrt. Ich bin verflucht und der Neumond…"
Vitus fasste ihre freie Hand und knetete diese. "Ich hab ihnen auch in die Augen geblickt. Wenn, dann holen sie uns beide. Aber sei versichert, dass ich alles tun werde, um dich zu beschützen."
Annabella trocknete ihre Wangen, tupfte sich das Wasser aus den Augenwinkeln und schüttelte den Kopf. "Wenn dein Schutz so aussieht wie sonst, kann ich mich gleich eingraben." Es wäre nicht das erste Mal, dass er irgendwas versprach und dann verschwand. "Außerdem bist du verletzt."
"Mehr hab ich nun mal nicht zu bieten", erwiderte Vitus und zuckte mit den Schultern, als wäre ihm sein Schicksal völlig gleichgültig.
Er war viel zu ruhig, immerhin war Vitus genauso verflucht wie Annabella, doch schien es ihn nicht zu belasten. "Da hat uns Gustav ja ein schönes Erbe eingebrockt", sagte Annabella und schniefte. "Ohne seinen Vernichtungsschlag wären die Nachtwanderer gar nicht erst entstanden. Irrsinn, dass ich dafür büßen…" Plötzlich fiel bei Annabella der Fuchsling. "Gustav starb heute vor genau zwei Monaten. In der Neumondnacht! Er … wurde auch von einem Nachtwanderer ermordet!"
Alles umsonst! Das Rendezvous mit Vitus, das Verhör von Ricardo: Sie hatte das nur getan, um sich und ihre Familie vor irgendwelchen unsinnigen Kriminalermittlungen zu schützen und ihre eigene Zukunft zu retten. Dabei entstammte der Mörder gar nicht der Mangold-Familie. Der alte Gouverneur hatte seinen Tod durch seine Tat von vor dreißig Jahren selbst verantwortet und war einem Rachegeist erlegen.
"Wenn du es warst, musst du mich nicht auf die falsche Fährte locken, Annabella", sagte Vitus und hob ihre Hände an. "Ich hab versprochen, die Ermittlungen sein zu lassen und wenn du ihn getötet hast, dann wirst du schon deine Gründe dafür gehabt haben."
Zornig riss sich Annabella von ihm los. "Was unterstellst du mir? Hätte mir Gustav mein Leben verderben wollen, so hätte ich mich rechtlich dagegen zur Wehr gesetzt. Oder traust du mir das nicht zu, weil ich eine Frau bin?", fragte sie und knirschte die Zähne.
"Wenn das jemand schafft, dann allerdings du." Vitus' Stirn glättete sich, als er schmunzelte. "Dich kann man schnell auf andere Gedanken bringen, weißt du das?"
"Du willst scherzen? Ist das dein Ernst?", knurrte sie.
"Irgendwie muss ich dich ja ablenken. Sonst drehst du durch, ehe die Nacht vorüber ist."
"Denkst du?", fragte Annabella und presste ihre Lippen zusammen.
Warmherzig, aber auch neckisch, grinste Vitus, sodass die feinen Grübchen an seinen Mundwinkeln zum Vorschein kamen.
Ein Lächeln, für das sie ihn am liebsten geohrfeigt hätte, denn die Gefahr, seinen schalkhaft blitzenden Augen zu verfallen, war viel zu groß. Mit klopfendem Herzen senkte Annabella ihren Blick auf seine Halsbinde. Blau war offenbar seine Lieblingsfarbe.
Vitus legte seine Hände auf ihre Taille. Unter seiner Berührung spannte sie sich an und hob schreckhaft den Kopf.
"Du bist unverbesserlich", sagte er und zog Annabella in eine Umarmung.
In der plötzlichen körperlichen Nähe erhitzten sich ihre Wangen. Sie hörte den eigenen Herzschlag in ihren Ohren. In einem Sturm aus Begehrlichkeiten, Verzweiflung und Angst vor der bevorstehenden Nacht legte Annabella ihre Arme um seinen Nacken und klammerte sich an Vitus wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring.
Ausgerechnet der unzuverlässigste Sautonto, den sie kannte, gab ihr den Halt, den sie brauchte.
Annabella glaubte selbst nicht, welche Worte plötzlich über ihre Lippen purzelten, doch ihre Zunge war schneller als jeder Gedanke an irgendwelche Konsequenzen. "Bleibst du heute Nacht hier?"
Vitus atmete langsam aus. "Wenn du das willst."
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