25. Helewawae
Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, als Annabella im flackernden Gaslicht in einem ihrer Gesetzesbücher las. Bald stand ihre Abschlussprüfung an und für eine gute Vorbereitung opferte sie ganze Nächte, wenn es sein musste.
Als jemand an der Tür klopfte, fuhr Annabella stöhnend hoch und verdrehte die Augen. "Welcher Tonto nervt denn jetzt noch?"
Regelmäßig bekam sie eigentlich nur von Olivia Besuch. Möglich auch, dass sich Ricardo nach den neuesten Geschehnissen wieder Hoffnungen machte.
In Erwartung Ricardos öffnete Annabella entsprechend genervt die Tür. Die langen hellbraunen Haare ließ sie unordentlich in alle Richtungen hängen, um möglichst abstoßend zu wirken. "Was willst …", fauchte sie, doch dann stockte Annabella. "Du?" Ihr Mund schloss und öffnete sich, als ihr die Worte fehlten. "Du lebst?"
"Sieht wohl so aus", bemerkte Vitus keuchend. Offenbar war er gerannt. Seine schwarzen Haare wirkten länger, denn im Gegensatz zu sonst trug er diese nicht in einem gewachsten Seitenscheitel. Ein Veilchen an seinem Auge schwoll gerade ab. Seine hohen Wangen waren eingefallen, als wäre Vitus gerade aus einer langjährigen Haft entlassen worden. Wenigstens stank er nicht nach Dreck und Kerker. "Schön, dass du dich so freust", meinte er trocken.
Als Vitus vor ihr stand und so tat, als wäre nie etwas gewesen, wallte dieselbe Hilflosigkeit in Annabella auf, die sie empfunden hatte, als sich der Makha an ihr hatte vergehen wollen. Vitus hatte sie - entgegen seines Versprechens - im Stich gelassen und nur wegen ihm wäre sie beinahe missbraucht worden.
Jetzt stand er hier, ohne ein Wort der Entschuldigung oder der Erkundigung, wie es Annabella ergangen war. Wut kochte in ihrem Bauch und brodelte heiß durch ihre Adern. Mit einem Arm holte sie aus und verpasste Vitus eine schallende Ohrfeige auf seine lädierte, linke Gesichtshälfte.
Vitus hob die Hand an seine Wange und blickte sie schockiert an. "Was...?"
Da Annabella den Arm noch erhoben hatte, hielt sie sich nicht zurück und ohrfeigte Vitus ein zweites Mal - dieses Mal mit dem Handrücken auf die rechte Wange.
"He, das tut weh", stöhnte er.
"Das will ich doch hoffen." Annabella verschränkte die Arme und kniff die Augen zusammen. Hoffentlich fühlte sich Vitus unter ihrem giftigen Blick unwohl.
Er sah dämlich aus, als er sich mit beiden Händen seine Wangen rieb. Wie ein Kaninchen, das sich putzte. "Wieso?"
"Jetzt denk doch mal scharf nach." Wie konnte er vergessen haben, was an dem Abend geschehen war, an dem sie einander zuletzt gesehen hatten? Der Tanz, der Fol-Kokos, Ricardo … und dass Vitus sie wieder allein gelassen hatte?
Seine Miene hielt noch wenige Augenblicke stand, doch dann gab er seine Schuld zu. Er seufzte tief und sein Brustkorb senkte sich merklich. "Es tut mir leid", sagte Vitus und fasste sich an die Stirn.
Annabella ließ ihn schmoren. Sie wollte wissen, ob er wirklich wusste, was ihm leid zu tun hat.
"Ich wollte dich nicht schon wieder allein lassen, aber irgendwie bin ich in diese Situation geraten…" Sein Adamsapfel wanderte auf und ab. "Ich wurde von den Drogenleuten enttarnt und verfolgt und ich wollte dich nicht auch noch in Schwierigkeiten bringen."
"Nicht in Schwierigkeiten bringen…", knurrte sie und knirschte die Zähne. "Die hatte ich auch so, aber Danke für deine Sorge."
"Was ist denn passiert? Hat Ricardo…?"
Annabella fuhr ihm über den Mund. "Ich will nicht darüber reden! Schon gar nicht mit dir." Vitus hatte für lange Zeit ihr Vertrauen verspielt. Nicht, dass sie je großes Vertrauen in ihn gehabt hätte, aber… Annabella starrte ihn unbeirrt an und verbot sich jede Empfindung. Der Tanz mit Vitus hatte ihre Gefühlswelt auf den Kopf gestellt und eine Leidenschaft in ihr geweckt, die sie zu unterdrücken versuchte.
Denn Annabella wollte nicht, dass diese Leidenschaft einem Mann galt, auf den sie sich nicht verlassen konnte. Was das anging, war sie mit Vitus sogar noch schlechter gestellt als mit Ricardo. Ihr Verflossener war immerhin im Augenblick des sicheren Todes bei ihr geblieben. Der Gedanke half ihr, standhaft zu bleiben und sich nicht wie eine Heulsuse in Vitus' Arme zu begeben. "Ich will, dass du jetzt gehst. Sofort."
Vitus legte seine Hand an den Türrahmen. Vielleicht sollte Annabella die Tür einfach zuschlagen. Ein paar weitere Schmerzen hatte er sich verdient. "Bevor wir in den Krummen Anker gegangen sind, wolltest du unbedingt mit mir über das reden, was wir an der Mine gesehen haben", sagte Vitus schließlich.
Annabella versteinerte, während zu viele Gedanken gleichzeitig auf sie einpreschten. Sie musste ihm zuhören, das wusste auch er. Wortlos trat sie zur Seite. Vitus wartete nicht zu lange, kam herein und hängte sein Jackett an die Messinghaken links der Tür.
Im Ausgehanzug war er nicht mehr. In die weite nachtblaue Hose war lose ein lockeres weißes Hemd gesteckt. Wenigstens war dieses zugeknöpft und mittels Halsbinde fixiert, sodass Vitus nicht allzu schlampig daherkam. Vermutlich hatte er seinen Abend gerade auf dem Kanapee verbracht, als ihn irgendetwas zu ihr getrieben hatte.
Annabella ging voran in ihren kleinen Salon, in dem das rosafarbene Kanapee und ihr Schreibtisch standen, und der am ehesten für den Empfang von Besuchern geeignet war. Der bittersüße Duft eines Nelkenräucherstäbchens empfing sie.
"Dafür, dass du offenbar überstürzt dein Appartement verlassen hast, um mit mir über die Akalua-Mine zu reden, hast du dir reichlich Zeit gelassen", bemerkte Annabella schnippisch, immerhin war es nun zehn Tage her, dass er ihr Informationen zu Akalua versprochen hatte.
Auf ihr Nicken setzte sich Vitus auf das Kanapee, während sie auf ihrem Samtsessel Platz nahm.
"Tut mir leid, ich war verhindert." Ungeniert krempelte er sein Hemd hoch, sodass sie die grün-gelben Flecken auf seinem Oberkörper zu sehen bekam.
Sofort riss Annabella die Hände in die Höhe, um die Sicht zu verdecken, und wandte sich zur Seite. Der Anblick würde sich trotzdem in ihr Gedächtnis brennen.
"Was wird das?" Sie wollte keine halbnackten Männerkörper zu Gesicht bekommen und schon gar nicht auf solch plumpe Art und Weise zu irgendetwas verführt werden. Dass diese Gefahr bei Vitus bestand, war ihr durchaus bewusst. "Ich seh an deinem Gesicht, dass du Schläge hast einstecken müssen, ja? Das reicht als Beweis." Annabella beugte sich zum Zeitungshalter vor ihrem Marmortisch und warf Vitus das Tagblatt von vor drei Tagen lieblos in den Schoß.
Raschelnd hob er dieses an und las vor: "Reise nach Nak´Umawea: Hundertzwanzig Soldaten suchen im tarragossischen Dschungel nach der verborgenen Stadt der Ureinwohner." Mit einem Murren faltete Vitus die Zeitung zusammen und legte sie neben sich. "Tonto."
"Ich konnte meinem Vater keine Erklärung für das geben, was an der Akalua-Mine passiert ist und habe auf dich verwiesen. Aber du warst fast zwei Wochen verschwunden. Rolf vasta Graudorn hat den Inselrat aufgehetzt. Sie haben eine Reaktion von ihrem Interimsgouverneur erwartet und irgendjemand wollte mich deswegen sogar entführen. Mein Vater musste den Suchbefehl geben."
Vitus knetete seine Nasenwurzel. "Dann hoffe ich, dass sie die Stadt niemals finden."
Annabella verschränkte die Arme. Sie wollte nicht mit ihm darüber sprechen, was er sich für die Ulakas erhoffte. Ändern würde Vitus es ohnehin nicht können. "Also. Was war das an der Mine?"
Ein verzweifeltes Lächeln zog an seinen Lippen, das sofort wieder erstarb, und Vitus senkte die Hand. "Da unten in der Mine war ein Hohlraum, voll mit Skeletten. Und die gaben sich mit irgendeiner Illusion einen menschlichen Körper."
"Eine Illusion?", fragte sie und runzelte die Stirn. "Mit Magie, oder was?"
"Ich weiß nicht, wie sie es machen."
"Du scheinst aber gewusst zu haben, womit wir es zu tun haben. Du hast mich gewarnt, dass ich ihnen nicht in die Augen blicken dürfe!", knurrte Annabella. "Genug der Ausflüchte. Du hast mit ihnen gesprochen. Du hast mir gesagt, sie würden die Kolonisten jagen. Was war das?"
Vitus räusperte sich. "Es waren - sind - verstorbene Ulaka-Krieger, die nach Rache lechzen."
"Was?", hauchte sie und versuchte, die Information zu verarbeiten. Ihr Gehirn ratterte wie ausgerissene Zahnräder. Das sollte sie glauben? Nahm er sie auf den Arm? Andererseits sollte selbst so eine unsensible Axt wie Vitus verstanden haben, dass man mit so etwas keine Späße machte. "Ist das dein Ernst?"
Ohne das Gesicht zu verziehen, nickte er. Er veralberte sie nicht.
Ihr Mund war trocken und die Zunge klebte ihr am Gaumen. "Untote Ulaka-Krieger", murmelte Annabella und grunzte. "Na toll."
Selbst diejenigen, die den Vernichtungsschlag von vor dreißig Jahren nicht selbst erlebt hatten, wussten, dass die Kolonisten an diesem Tag ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten.
Anstelle von Wasser hatten die Flüsse Blut geführt, tiefrot und zäh, das sich wie eine dicke Moosschicht um die Steine am Ufer gelegt hatte. Auf Geheiß von Gustav vasta Mangold hatte man die Ureinwohner kopfüber an Bäumen aufgehängt, ihnen die Kehle durchgeschnitten und sie ausbluten lassen: Als Warnung an die wenigen überlebenden Ulakas, hatte es geheißen.
Die schlichte Wahrheit jedoch war, dass sich ein Sadist an den Ureinwohnern ausgetobt hatte.
Kraftlos ließ Annabella eine Hand auf ihren Oberschenkel fallen. Da sie selbst keine Ahnung hatte, wollte sie Vitus erstmal glauben. "Und gibt es dafür auch einen Namen?"
Er hatte den Blick gesenkt und schien sich sehr für das marmorierte Muster des Stubentischs zu interessieren, bis er sich räusperte. "In den ulakischen Sagen nennt man sie Helewawae - Nachtwanderer."
***
Zugegeben, ich wollte das alles viel früher ansprechen. Die Enthüllung bzgl. Nachtwanderer kommt glaub ich sehr plötzlich und unvorbereitet... Aber der verdammte Drogenplot hat jetzt einfach mal zehn Kapitel in Anspruch genommen xD
Ich muss jedenfalls noch überlegen, wie ich das verbessern kann. Irgendeinen Textfetzen irgendwo reinstreuen, damit man schon mal selbst mit rätseln kann. Keine Ahnung, ich brauche einfach mehr Zeit zum Überarbeiten *mimimi*.
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