21. Mehrwert und Gegenvorschlag
Unentwegt rann Vitus' Blut aus seiner aufgeplatzten Oberlippe und der Geschmack von Eisen beschwerte seine Zunge. Jeder Atemzug stach gegen seine Rippen und er versuchte, so flach wie möglich zu schnaufen. Pochender Schmerz ließ ihn schwindeln und trieb ihm den Schweiß aus den Poren.
In seiner Schwäche ließ Vitus den Kopf hängen. Wäre er nur rechtzeitig davongekommen: In den Gassen des Makha-Viertels hätten ihn diese Häscher nie gefunden. Dort kannte Vitus jedes Schlupfloch und jedes Versteck auswendig. Es war seine Heimat, in der er eine glückliche Kindheit und eine traurige Jugend erlebt hatte.
Doch statt in den vertrauten Gassen des äußeren Rings war er nun hier, in irgendeinem muffigen Keller, in dem es nach Moder und nasser Erde roch. Mit gefesselten Händen hockte Vitus auf dem feuchten Boden und lehnte sich dabei gegen eine kalte Wand. Spitze, grobe Steine bohrten sich in seinen Rücken. Kein Fenster, kein Schacht, keine Lampe. Die Dunkelheit sollte ihn brechen.
Vitus grinste, was ihm ein Stechen an Nase, Wange und Auge bereitete. Allen voran seine linke Gesichtsseite war mit Schlägen malträtiert worden. Normale Foltermethoden von Verbrechern. Was sie von ihm wollten?
Die Schmerzen machten seinen Aufenthalt in der Finsternis zu einem endlosen Strudel, der ihm jegliches Zeitgefühl raubte. Wie lange war Vitus schon hier?
Seine Befreiungsversuche scheiterten kläglich, da neben den rauen Stricken, die seine Handgelenke wundrieben, auch Eisenschellen angebracht waren, die bei jeder Bewegung klapperten.
Vitus blieb nichts anderes übrig als stillzuhalten, den Schmerz zu vergessen und zu warten, bis seine Entführer auftauchten. Oder würden seine Kameraden eintreffen? Ob sie ihn finden könnten?
Allerdings wusste Vitus nicht mal selbst, wo er war. Zu oft war er ohnmächtig geworden. Er seufzte und lehnte seinen Kopf gegen die Wand, was mit einem pochenden Schrei durch seinen Schädel bestraft wurde.
Trotz der Dunkelheit drehte sich die Welt um ihn herum. Ein Schwindel überfiel Vitus, als wäre er ein außer Kontrolle geratenes Steuerrad auf einem Schiff, das gegen sturmhohe Wellen kämpfte.
Mit Sicherheit hatte er eine Platzwunde am Kopf oder gar eine Gehirnerschütterung. Zimperlich waren die Drogenleute nicht mit ihm umgegangen, was ihn zu dem Schluss brachte, dass er wirklich mitten ins Wespennest gestochen hatte.
Eine halbe Ewigkeit war vergangen, als Vitus das dumpfe Knarzen einer Tür hörte. Dann besann er sich und hörte wuselnde Schritte um sich herum. Eine Gruppe von Männern trat im dumpfen Schein von Fackeln an ihn heran. Die kahlen Kellerwände glänzten vor Feuchtigkeit.
Ein Schleier aus Staub dämpfte das Licht. Trotzdem war es grell genug, dass es Vitus rechtes Auge blendete. Das linke war wegen der Schläge zugeschwollen, doch auch mit nur einem konnte Vitus erkennen, dass sich eine hünenhafte Silhouette vor ihm aufbaute.
Verhüllt unter Kapuzen und hinter Masken platzierten sich die Männer wie Statuen vor Vitus. Generell ein gutes Zeichen - immerhin wollten sie ihr Gesicht vor ihm als Zeugen verbergen. Es war also möglich, dass sie Vitus am Leben ließen.
Die Schritte verstummten vor ihm. Es folgten keine Worte der Erklärung oder der Begrüßung. Stattdessen bückte sich einer von den Männern hinunter und verpasste ihm einen Schlag gegen die ohnehin schon schmerzende, linke Gesichtshälfte.
"Warum schnüffelst du uns hinterher?", fragte der Hüne und baute sich wieder vor ihm auf. Seine Stimme war so tief wie Felsbrocken, die einen Berg hinunter donnerten.
"Ich hab nicht …", begann Vitus, wurde dann aber mit einem weiteren Schlag, dieses Mal gegen die rechte Seite, zum Schweigen gebracht. Darauf, dass die Männer seine Ausrede glauben würden, konnte er nicht hoffen.
"Was weißt du?", brummte die Stimme.
"Dass der Krumme Anker den ekelhaftesten Fol-Kokos aller Zeiten ausschenkt", antwortete Vitus. Ehe er den nächsten Schlag kassierte, kniff er die Augen zusammen. Stattdessen spürte Vitus einen ungeheuerlichen Hieb in seinen Magen, der ihm den Atem raubte. Vitus japste nach Luft. "Was …" Vitus keuchte unter den brennenden Schmerzen, die ihn seine Frage nicht aussprechen ließen.
Sein Gegenüber packte ihn an den Haaren und zog seinen Kopf in die Höhe. Mit der anderen Hand umfasste er Vitus´ Kiefer so fest wie eine Schraubzwinge. "Keine Spielchen. Wir wissen, wer du bist. Was hast du gesehen?"
Vitus´ Luftröhre rasselte, als er immer noch nach Luft schnappte. "Denkst du, ich hab viel gesehen, weil ich einmal durch euer Hinterzimmer gerannt bin?" Obwohl er sich die Gesichter der Menschen darin hatte merken wollen, war seine Erinnerung verschleiert. Vermutlich könnte er keinen Einzigen von ihnen identifizieren.
Der Hüne wandte sich um und brummte: "Was hat er eigentlich verbrochen?"
"Er hat das alte Passwort genannt, ist durch unser Lager gerannt und hat ein Fenster aufgemacht", antwortete einer der Männer.
Unwillkürlich grunzte Vitus, was ihm einen Blitz von seinen Zahnwurzeln aus über seine Nasennebenhöhlen bis hinauf zu seinen Stirnhöhlen sandte. Am witzigsten fand er, dass ihm das Öffnen des Fensters angelastet wurde. Verzweifelt kniff er die Augen zusammen, da er den nächsten Schlag erwartete.
Doch der Hüne reagierte gar nicht auf Vitus´ Spott. Vielmehr war er erzürnt über die Aussage seines Kumpanen. "Er hat ein Fenster aufgemacht?"
"Er war mit der Gouverneurstochter da", fügte ein weiterer Verhüllter an, der an seinen Ärmeln nestelte. "Das ist zwar auch kein Verbrechen, aber …"
"Aber?", empörte sich der Hüne und stemmte die Hände in die Hüfte. "Was hat er gemacht?"
"Er ist ´n Kriminalbeamter und das Fenster hat er aufgemacht, um abzuhauen und um draußen die … Vorgänge zu beobachten", mischte sich schließlich der vierte im Bunde ein. "Wir wissen aber nicht, ob er was weiß."
"Na also!", brummte der Hüne und widmete sich wieder Vitus.
Dem stieg der scharfe Gestank von Schweiß und einer Fol-Fahne in die Nase.
"Wer weiß von deiner kleinen Ermittlung?"
"Es ist …" Vitus zögerte. Zwar könnte er abstreiten, dass er als Kriminalbeamter im Krummen Anker gewesen war, doch glauben würde man ihm ohnehin nicht. Zudem bot ihm eine solche Lüge nicht den Schutz, den er brauchte. "… in der Gendarmerie allgemein bekannt, dass ich im Krummen Anker war. Wenn ich verschwinde, werden sie dort zuerst suchen." Aufgrund der verhüllten Gesichter blieb ihm die Reaktion der Männer verwehrt.
"Wer hat dir den Hinweis auf den Anker gegeben?"
Tommas Molena, der Kutscher. Aber aussagewillige Zeugen respektive Mittäter lieferte man nicht ans Messer. Im Gegenteil: Tommas Molena war, soweit Vitus wusste, per Schiff aus der Stadt geschafft worden und im Moment auf dem Weg ins Mutterland.
"Es war klar, dass die Basis außerhalb der Innenstadt liegen muss, denn bei den Kontrollen an der Innenstadtmauer hätte man das Lahscha entdeckt", log Vitus unter einem Keuchen. Dass diese Kontrollen nie wirklich stattgefunden hatten... Er holte tief Luft und fuhr fort: "Irgendwo im Makha-Viertel also - aber in einer Straße, die nicht häufig von Kolonisten besucht wird."
"Ach ja? Und wie bist du ausgerechnet auf den Krummen Anker gekommen?"
Vitus lachte gekünstelt. "Nun ja, ich hab schon achtundzwanzig Schänken zuvor untersucht. Irgendwann musste ich auf die richtige stoßen." Um die Chancen auf sein Überleben zu erhöhen, gab er noch gleich einen Rat. "Wenn das für euch günstig ausgehen soll, dann schlage ich vor, dass ihr die Beweise verschwinden und mich laufen lasst."
"Gegenvorschlag: Wir bringen dich um."
Angesichts der Mordabsichten gegen ihn schlug Vitus´ Herz schneller. "Vergiss nicht, dass nach mir gesucht wird. Bleibe ich verschwunden, dann wissen meine Kameraden, dass wir beim Krummen Anker richtig lagen."
Wieder schlug ihm der Hüne, so heftig wie mit einem Hammer, ins Gesicht. Der Ruck warf Vitus´ Kopf zur Seite. Die Wand hinter ihm war mit Blut besprenkelt.
"Wir werden die Beweise ganz einfach verschwinden lassen - unser Lager im Anker auflösen", höhnte der Mann. "Dann können sich deine Kameraden dumm und dämlich suchen. Und du stirbst."
"Ich muss aber nicht sterben. Ich könnte genauso gut sagen, dass der Krumme Anker sauber war."
"Nur sehe ich den Mehrwert dahinter nicht, dich am Leben zu lassen, im Gegenteil. Nur ein toter Kriminaler ist ein guter Kriminaler." Mit einem kurzen Klicken klappte der Hüne ein Messer auf.
Die Reflektion des Lichts auf der stählernen Klinge blendete Vitus´ Auge, das er unbeholfen zusammenkniff. Der Mann wollte morden. Vitus musste zum Äußersten greifen. "Ich könnte die Ermittlungen gegen den Drogenring behindern. Oder absichtlich Falschinformationen streuen!"
Der Hüne hielt inne. "Ach, ehrlich?"
"Ja." Was Vitus nie tun würde. Nichts lag ihm ferner, als das kriminelle Gesindel, das ohnehin schon steinreich war und sich mit dem Lahscha eine noch goldenere Nase verdiente, zu unterstützen.
"Weißt du was? Ich glaub dir nicht! Und soll ich dir was sagen? Ich hasse Lügner. Die gehören meiner Meinung nach alle abgestochen!" Die letzten Worte spuckte der Hüne geradezu aus. Er holte aus, die Klinge zerschnitt die Luft. Der entscheidende Stich auf Vitus´ Hals.
Vitus kniff die Augen zusammen und presste sich gegen die spitze Felswand in seinem Rücken, konnte er dem Tod doch nicht ins Auge blicken.
Ein Sirren, ein matschiges Geräusch, ein "Hngs" und ein dumpfer Aufprall folgten.
Als Vitus sein Auge wieder öffnete, lag der Hüne mit einem Messer im Kopf inmitten einer Blutlache. Er blickte zu den anderen, die reihum wie die Fliegen umkippten. Die Fackeln landeten im Sand, spendeten aber noch für ein paar Sekunden Licht.
Zumindest noch solange, dass Vitus seinen Retter am Treppenabgang sehen konnte. Der fremde Herr im schwarzen Anzug und mit weißen Handschuhen.
***
Blätter und Zweige raschelten unter Vitus' Schritten. Über Wurzelstöcke und Geäst stolperte er in der Dunkelheit zurück nach Manava, dessen flackernde, verschwommene Gaslichter er schon erkennen konnte.
Der Drogenring hatte irgendwo im Urwald eine geheime Folterstätte, in die man ihn gebracht hatte. Eine kleine Hütte, versteckt hinter Lianen, Büschen und Bäumen, sodass ein Auffinden beinahe unmöglich war. Dennoch versuchte Vitus, sich den Standort zu merken, wollte er doch zurückkommen, um die Leichen zu bergen, die soeben den Tod durch die Hand seines Retters erfahren hatten. Vor allem wollte Vitus herausfinden, wer diese Leute gewesen waren.
Ob er jedoch dazu fähig wäre, sich irgendwas zu merken?
Mit jedem Schritt pochte sein Schädel und das Bild vor seinen Augen pulsierte. Niemals hätte er sich mit einer solchen Gehirnerschütterung aus den Fängen befreien oder gar vor den Männern retten können. Doch dann war er wieder da: Der ominöse Mann aus der Oberschicht. Der, der ihm damals im Kampf gegen Tommas Molena und Stefano vasta Hochbrunn schon einmal geholfen hatte.
Der Mann hatte - nachdem er die Häscher getötet hatte - eine Hand um die Stricke und Eisenfesseln an Vitus´ Handgelenken gelegt, woraufhin ein brodelndes Zischen ertönt war. Es hatte kurz nach heißem Eisen und verbranntem Hanf gerochen, dann war Vitus frei.
"E hele!", hatte ihm der Mann gesagt. "Geh!"
Wenn er der Oberschicht angehörte, warum sprach der Herr dann Ulakisch?
Dass sein Helfer irgendeine ominöse Macht hatte einsetzen können, um die Fesseln zu lösen, hatte Vitus zuerst gar nicht realisiert.
Er war so überwältigt davon gewesen, dass er einfach so lebendig davonkam, dass ihm sogar die Tränen in die Augen gestiegen waren und er sich mit zittrigen Knien erhoben hatte. Vitus hatte sich sogar vor seinem Helfer verneigt und ein Mahalo geflüstert, sich bei ihm bedankt, wenngleich ein einfacher Dank zu wenig war. Dann war der Fremde mit den Schatten verschmolzen und verschwunden - und Vitus hatte die Flucht ergriffen.
Endlich erreichte er die ersten auslaufenden Straßen von Manava. Hier ging festgetretene Erde allmählich in grobes Kopfstein über. Zumindest könnte man ihm hier helfen, doch traute er seinen eigenen Leuten - den Makha - nicht unbedingt über dem Weg.
Er musste zu ihr. Der Fußmarsch dorthin war weit und Vitus konnte nur hoffen, dass sie noch dort wohnte. In den schmalen Gassen, in denen nur ein Eselkarren Platz zum Passieren hätte, boten sich ihm genug Möglichkeiten, sich abzustützen. Das Geländer einer Veranda, die Balken eines Hauseingangs, Straßenlaternenpfosten. Vitus taumelte von einem Punkt zum nächsten, die Welt vor seinen Augen wankte wie ein Schiff bei starkem Seegang. Er wusste, dass er sich nicht hinsetzen dürfte, ehe er bei ihr war - denn dann würde er nicht mehr aufstehen.
Einzig die Aussicht auf Hilfe trieb ihn an, weiterzugehen. Immer noch fand er ein Fünkchen Kraft in sich, wo doch schon längst alle Kraft erschöpft war. Sie würde ihm helfen.
Vitus hoffte, in seinem Zustand völliger geistiger Verwirrung das richtige Haus erwischt zu haben, als er sich auf der Außentreppe nach oben kämpfte. Sein Körper war so verflucht schwer, als würde er eine Wagenladung Kaffeebohnen mit sich schleppen.
Er konnte kaum den Arm heben um anzuklopfen, doch ehe Vitus seine Kraft gesammelt hatte, kippte er vornüber. Sein Kopf schlug gegen die Tür, dann sackte Vitus in sich zusammen. Unter dem Vordach blieb er liegen. Eine merkwürdige Art, anzuklopfen, dachte er mit einem Grinsen.
"Machalla", wisperte er, ehe ihm die Augen zufielen.
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