2. Richter und Gendarmen
Nachdem Annabella mit ihrer Erzählung geendet hatte, prustete Olivia den pechschwarzen Kalalau-Kaffee aus, den sie aus ihrer mit Hibisken verzierten Porzellantasse getrunken hatte. Anschließend wischte sich die Frau in den Dreißigern mit dem Handrücken über den Mund.
Unschicklich, hätte Opa Gustav geschimpft und wenngleich Annabella auf dem dunkelbraunen Ledersessel saß, als habe sie einen Stock verschluckt, so störte sie sich keineswegs an den legeren Umgangsformen ihrer Tante. Diese lümmelte in ihrem Ohrensessel, hatte die Füße auf dem Schreibtisch abgelegt und gab sich auch nicht die Mühe, ihre seidig blaue Richterrobe faltenfrei zu halten.
Das war Olivias Art, Pause von den Strafverhandlungen zu machen, in denen sie eine aufrechte Haltung bewahren musste. Ein Glück, dass Gustav sie nicht so sehen konnte. Und das aus gutem Grund, wenn es nach Herrn Arlstein ging.
"Jemand soll Gustav getötet haben?", fragte Olivia, halb erstickt von dem Schluck Kaffee, den sie hinunter gewürgt hatte. Offenbar wollte sie sichergehen, dass sie alles richtig verstanden hatte. Sie stellte ihre Füße auf den Boden, stützte ihre Ellenbogen auf dem Schreibtisch aus rotbraunem Massivholz ab und nahm in gespannter Erwartung eine aufrechte Haltung an. "Wie kommt er auf sowas?"
Das grelle Tageslicht, das durch die Spitzbogenfenster im Rücken ihrer Tante hereinfiel, brannte Annabella in den Augen. Trotzdem hielt sie den Blick weiter auf Olivia gerichtet. "Er sagt, er habe den Bericht des Leichenbeschauers auf seinem Schreibtisch, der den Mord an Gustav beweist."
"Aha!", gab Olivia von sich. "Er ist Kriminalbeamter, dann sollte er doch lieber mal seiner Arbeit nachkommen, oder nicht?"
Annabella presste die Lippen aufeinander und senkte den Blick auf den geknüpften Floralteppich, der den kalten Steinboden bedeckte. "Er lässt die Ermittlungen gegen das Gouverneurshaus sein, wenn ich dafür mit ihm ausgehe."
Für den Hauch einer Sekunde lag Totenstille im Raum. Dann verzogen sich Olivias Mundwinkel und schallendes Gelächter erfüllte die vertäfelte Schreibstube, in der es sonst nichts zu lachen gab, im Gegenteil. Zahllose, in altes Leder gehüllte Gesetzesbücher füllten die deckenhohen Regale und zeugten vom Ernst des Lebens. In ihnen war minutiös aufgelistet, für welche Verbrechen welches Strafmaß galt.
Bis sich Olivia wieder beruhigt hatte, knetete Annabella ihre Daumen. Sie konnte die Gleichgültigkeit ihrer Tante nicht so ganz teilen. Immerhin wäre Annabella die erste Verdächtige, die ein Kriminalbeamter ausfindig machen würde - und vermutlich die letzte.
Olivia wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln und räusperte sich. "'Tschuldige, aber das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Ein Kriminalbeamter erpresst die Gouverneurstochter um ein Rendezvous und ist bereit, das schlimmste aller Verbrechen zu vertuschen." Sie holte tief Luft und seufzte, sodass ihr Brustkorb in sich zusammenfiel. "Wenn an diesem Mordgerücht etwas dran ist, dann kommt kein normaler Mensch auf die Idee, jemanden damit zu erpressen - schon gar kein Kriminalbeamter."
Unruhig biss sich Annabella die Unterlippe wund. "Und wenn an den Gerüchten doch etwas dran ist? Wenn dieser Arlstein einfach andere Methoden anwendet, um zu bekommen, was er will und dabei sogar die Gerechtigkeit vergisst?"
"Dann ist dein Verehrer leider ein Geistesgestörter, der weggesperrt werden muss. Dann will ich erst recht nicht, dass du mit ihm ausgehst!" Mit emotionsloser Miene griff ihre Tante nach der gelben Schreibfeder, tunkte sie in ein mit Tinte gefülltes Tongefäß und holte ein Blatt Papier hervor. "Die Einweisung ins Zuchthaus ist gleich geschrieben, wenn du möchtest."
"Tante Liv!", kreischte Annabella und setzte zum Widerspruch an.
Doch Olivia beruhigte sie: "War doch nur ein Scherz. Dann lass ihn ermitteln." Mit einer undefinierbaren Geste fuchtelte sie in der Luft herum. "Soll er sich dämlich suchen, dieser Tonto von Arlstein."
"Aber ...", begann Annabella wieder, stockte aber sofort. Sie konnte ihrer Tante wohl kaum von ihren Sorgen erzählen, selbst verdächtigt zu werden.
Mit gerunzelter Stirn musterte Olivia ihre Nichte, beugte sich vor und senkte verschwörerisch die Stimme. "Du ... willst mit ihm ausgehen?"
Annabellas Mund klappte auf und sie zog scharf die Luft ein. "Das kannst du mir doch nicht unterstellen!"
"Wenn du so vehement auf das Rendezvous mit diesem Kerl beharrst, dann erscheint es mir keine Unterstellung zu sein, sondern eine Tatsache", gab ihre Tante zurück. "Ich bin seit über zehn Jahren Richterin. So langsam bemerke ich, wenn mich jemand belügt. Du willst dieses Rendezvous - freust dich vermutlich darüber, dass ein Mann so ... einfallsreich wird, nur um deine Aufmerksamkeit zu ergattern."
Dabei war ein Rendezvous mit Vitus Arlstein überhaupt nicht das, was Annabella wollte. Sie wollte ihr Studium der Rechtswissenschaften abschließen, wie es ihre Tante als erste und bislang einzige Frau auf Tarragoss vollbracht hatte, um dann in den Dienst der Kolonie zu treten. Der Mann, den sie heiraten würde, müsste sie dabei unterstützen, sie aufgrund ihres Intellekts schätzen und ihren Wert anerkennen, auch wenn sie bloß eine Frau war. Keinesfalls würde sie nur Ehefrau sein, ein paar Kinder gebären und sich dann mit ihrer Aufgabe langweilen, so wie es ihrer Mutter ergangen sein musste, bevor diese ihre Kinder verlassen hatte.
"Ich lüge überhaupt nicht. Ich will den Arlstein nicht treffen."
"Dann lass es bleiben. Wovor hast du Angst?" Gerade, als Olivia ihre Frage gestellt hatte, trommelte ein Klopfen an der Tür. "Herein?"
Lautlos schwang die lackierte Holztür auf.
"Richterin vasta Mangold?", fragte ein alter Herr in der dunkelgrauen Uniform der Gendarmerie. Sogleich holte er ein gefaltetes Stück Papier aus der Innentasche seines Jacketts, trat neben Annabella und reichte es Olivia über den Schreibtisch hinweg. "Wir bitten um Freigabe einer Hausdurchsuchung."
Ihre Tante reckte den Kopf, die Augen auf das Papier geheftet und nahm es entgegen. "Der Mord in der Werlbachstraße letzte Woche? Ihr habt einen Verdächtigen?"
Der graue Schnauzbart des Herrn bewegte sich, noch ehe seine Stimme erklang. "Der Verdächtige wurde laut Zeugenaussage zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts gesehen."
"Motiv?"
Der Herr schüttelte den Kopf. "Bisher nicht. Wir erhoffen uns Erkenntnisse von der Hausdurchsuchung."
"Sonst nichts?", fragte Olivia verblüfft, rümpfte die Nase und zog die Schultern an. "Er wurde gesehen? Wollt Ihr alle durchsuchen, die gesehen wurden?" Sie ließ das Papier auf ihren Tisch gleiten und lehnte sich zurück. "Wenn Ihr so verfahren wollt, dann haben wir bald massenweise Klagen wegen Rufmord und Verleumdung am Hals, Herr vasta Tarsan."
"Das ist doch unsere Arbeit, Verdächtige zu durchsuchen", rechtfertigte sich der Mann mit abwehrend erhobenen Händen, die in schwarzen Handschuhen steckten.
Olivia spannte sich auf ihrem Sessel an. "Richtig. Verdächtige! Ein Passant ist aber kein Verdächtiger. Bringt mir etwas Stichfestes und ihr bekommt Eure Durchsuchung, aber so etwas kann ich nicht unterschreiben."
Der schlaksige Herr beugte sich über den Tisch und schnappte sich das Papier. "Die nächsten Morde gehen auf Euer Konto, Richterin Mangold." Er tippte sich an den Schirm seiner farblich passenden Mütze. "Schönen Tag noch."
"Dagars Schutz mit Euch", erwiderte Olivia lapidar und winkte halbherzig, als die Gendarmen schon auf dem Weg nach draußen waren. Nachdem die Tür wieder verschlossen war, raunte sie: "Wenn ich so arbeiten würde, wären die Zuchthäuser und Kerker voll mit Unschuldigen." Als würde sie das alles nicht belasten, wandte sie sich wieder Annabella zu und setzte ein wohlwollendes Lächeln auf. "Wo waren wir stehengeblieben?"
Eigentlich bei Herrn Arlstein. Warum Annabella dieses Rendezvous auf sich nehmen wollte, könnte sie ihrer Tante ohnehin nicht beichten, sodass sie auf ein anderes Thema auswich. "Dieser Mord in der Werlbachstraße ... Davon hab ich gar nichts mitbekommen. Was ist da geschehen?"
Olivia seufzte. "Du hast vermutlich nichts davon gehört, weil es in derselben Nacht geschah, in der auch Gustav starb. Die Zeitungen haben sich natürlich auf den Tod des Gouverneurs gestürzt. Ein Mord im Armenviertel der Makha interessiert da niemanden mehr."
Makha bezeichnete das Mischvolk aus Ureinwohnern und Eroberern, das sich in den vergangenen beiden Jahrhunderten gebildet hatte. Annabella schnaubte. "Dass sich die Makha gegenseitig umbringen, ist jetzt auch nichts Neues."
Doch Olivia schüttelte bedächtig den Kopf. "Nun, das Opfer war ein Kolonist."
"Und was hat er dann bei den Makha gewollt? Freiwillig geht dort doch niemand hin", bemerkte Annabella und rieb sich das Kinn. Sie wollte schon an ihren Fingernägeln kauen, doch um diese lästige Angewohnheit zu unterbinden, trug sie rosafarbene Handschuhe mit Spitzenbesatz - passend zu ihrem Kleid.
Olivia war währenddessen aufgestanden und holte aus ihrem Aktenschrank ein Papierbündel, das sie mit einem Rums auf den Schreibtisch warf. "Du bist dreiundzwanzig Jahre alt. Du weißt, was ein Mann nachts alleine im äußeren Ring treibt."
Die Bordelle. Natürlich war es den minderwertigen Mischlingsfrauen überlassen, sich zu prostituieren. Die Damen, die vom kondalischen Festland stammten, waren viel zu wertvoll für die Kolonisten, wollte man das Blut doch rein halten.
Das Mischvolk hingegen war verpönt, war für die dreckigste Arbeit gerade gut genug und wurde nur in Manavas äußerem Ring geduldet. Eine Berechtigung, in der Innenstadt zu leben oder einen vernünftigen Beruf zu erlernen, war den Makha nie eingeräumt worden. Bis heute war es verboten, einem Makha Unterkunft oder Anstellung zu gewähren.
Olivia klappte den Deckel der Akte ihrer nächsten Verhandlung auf. "Wenn man ehrlich zu sich ist, dann passiert unseren Kolonisten da draußen ohnehin nicht wirklich viel - immerhin wagen sie sich nachts scharenweise hinter die Mauer. Manfred Freimoor hatte wohl einfach Pech." Sie kaute auf ihrer Unterlippe. "Nur die Art, wie er gestorben ist, gibt noch Rätsel auf."
Rätsel? Annabella spitzte die Ohren, als ihre Tante fortfuhr. "Nach Bericht des Leichenbeschauers war der Pfeil, der in seinem Schlüsselbein steckte, definitiv nicht tödlich. Er ist nicht verblutet. Kein Hinweis auf Alkoholmissbrauch. Eine Lahschaüberdosis wird noch geprüft, ansonsten hat er keine weiteren Verletzungen."
Annabella zog die Augenbrauen zusammen. "Ein Pfeil? Da draußen wird noch mit Pfeilen geschossen?"
Olivia zuckte mit den Schultern. "Vergiss das Ureinwohner-Blut nicht, das in den Adern der Makha fließt. Die Ulakas haben während der großen Eroberungsschlachten bevorzugt mit Pfeil und Bogen gekämpft. Aber wie gesagt: Der Pfeil ist nicht todesursächlich."
"Dann ist sein Herz einfach so stehengeblieben?", fragte Annabella und fühlte im selben Moment die seidige Oberfläche ihres Handschuhs auf den Lippen.
"Sieht wohl so aus. Aber falls du denkst, das kann im gehobenen Alter schon mal passieren: Manfred Freimoor war achtundzwanzig Jahre jung und fidel und es gibt keinen logischen Grund, warum er einfach so wegstirbt."
In solchen Momenten packte Annabella der Ehrgeiz zu erfahren, welches Schicksal dem jungen Manfred Freimoor widerfahren war. "Dann muss ihn etwas so sehr erschrocken haben, dass er es körperlich nicht ausgehalten hat. Die Frage ist nur: Was?"
"Wenn wir des Rätsels Lösung gefunden haben, dann geb ich dir Bescheid, aber jetzt muss ich mich um meine Verhandlung kümmern", antwortete Olivia. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf Annabella. "Und du gehst mir nicht mit diesem Tonto aus, ja?"
Annabella erhob sich mühsam und seufzte. "Ich werde dir erzählen, wie ich aus der Sache rausgekommen bin."
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