10. Inselräte und Entscheidungen
"Annabella,
hätte ich irgendwie abwenden können, unser Rendezvous vorzeitig beenden zu müssen, hätte ich jede sich mir bietende Möglichkeit ergriffen, doch es ging nicht anders. Ich kann deine Verstimmung mir gegenüber verstehen und so bleibt mir nichts anderes übrig, als dich um Verzeihung zu bitten. Das werde ich solange tun, bis du wieder mit mir sprichst und wenn es sein muss, bis zu meinem letzten Tag.
Vitus"
Auf einer Strohmatte liegend las Annabella ihrer Tante den Brief vor und malte mit ihren Zehen undefinierbare Linien in den Sand. Die Sonne blendete, als sie das Papier zur Seite legte, sodass sie ihre Augen mit einer Hand abschirmte. "Pff."
Olivia bevorzugte einen Sonnenschirm, doch war es Annabella wichtiger, gleichmäßig gebräunt zu sein. Von der im Mutterland Kondal angesagten noblen Blässe hielt sie nichts. Menschen mit blasser Haut wirkten ihrer Meinung nach kränklich. Außerdem sah man Augenringe deutlicher.
"Deine Verstimmung mir gegenüber", zitierte Olivia. "Eine Magenverstimmung oder eine Darmverstimmung? So wie er schreibt, hat er eine Hirnverstimmung."
Annabella grinste, als sie sich aufrichtete und mit einer Hand abstützte. Begleitet von einem rhythmischen Rauschen rollten sanfte, türkisblaue Wellen an den weißen Sandstrand. Früher hatte sie am Strand der kleinen Gouverneursinsel des Öfteren mit ihrer Blockflöte musiziert. Zu ihrem Erstaunen war sogar die ein oder andere Schildkröte an Land gegangen, so als wollten sie Annabellas Melodie lauschen. Dass das für die Tiere nicht immer angenehmen gewesen war, war Annabella im Laufe der Jahre bewusst geworden. Immerhin war noch kein Meister vom Himmel gefallen, wenngleich sie in ihrer Selbstüberzeugung gerne daran geglaubt hätte. Menschen wie Vitus befeuerten eben jene Selbstüberzeugung und so grinste sie in sich hinein. "Er wird mich solange um Verzeihung bitten, bis er tot ist."
"Bei Dagar", entfuhr es ihrer Tante. Es klang, als müsste sie sich übergeben. "Ein Fünkchen geschwollener hätte er schreiben können, findest du nicht?"
"Mhm", bestätigte Annabella halbherzig. Olivia hatte nichts für große Worte oder Gefühlsduseleien übrig, doch Annabella gefiel es, wenn sich ein Mann für eine Frau zum Tonto machte - und dass sich Vitus zu einem solchen machte, war unumstritten. Sie lenkte vom Thema ab. "Wo hast du eigentlich immer deine Bikinis her? Ich hätte auch gern mal so bunte Kreationen."
Obwohl die beiden Frauen unbeobachtet und von Felsen und Palmen geschützt waren, trugen sie Badebekleidung.
"Ich kauf bei Rafael vasta Losann", sagte ihre Tante und wedelte sich mit ihrem Fächer Frischluft ins Gesicht. "Manchmal hat er ganz hübsche Teile."
"Dein Bikini sieht maßgeschneidert aus", kommentierte Annabella. "Woher weiß Rafael, wie groß deine Titten sind?"
Verschwörerisch beugte sich Olivia an Annabellas Ohr. Die dunklen Haare fielen ihr in Wellen über das Dekolleté. Sie machte eine Handbewegung, als würde sie eine Orange auspressen und flüsterte: "Handvermessen, was sonst."
Annabella grunzte, ihre Tante stimmte mit ein und schließlich lachten sie herzhaft. Als würde sich eine Frau wie Olivia mit einem einfachen Schneider einlassen.
An den heißen Nachmittagen des Wochenendes konnten sie die Seele baumeln lassen und über solche Nichtigkeiten sprechen. "Hast du noch mehr lustige Briefe von deinem bescheuerten Verehrer dabei?", fragte ihre Tante.
"So viel Zeit hatte er wohl noch nicht zum Schreiben", erwiderte Annabella. Seit er sie hatte sitzenlassen, waren drei Wochen verstrichen - drei Wochen, in denen sie sich immer wieder vorgesagt hatte, dass sie nicht auf einen Mann angewiesen sei.
Olivia richtete sich auf. "Siehst du den Fünfmaster?"
Annabella folgte dem Deut und kniff die Augen zusammen. Erst jetzt erkannte sie ein Schiff am Horizont. "Du hast eindeutig bessere Augen als ich", gestand sie. "Ein Fünfmaster sagst du? Nicht mal Versorgungsschiffe aus dem Mutterland sind so groß."
"Eine wichtige Botschaft aus dem Mutterland", sang Olivia und vollführte mit ihren Händen einen schlechten Hula-Tanz. Dann wurde sie ernst. "Der Rat in Kondal weiß höchstens seit zwei Wochen von Gustavs Tod. Wendelins Ernennungsurkunde zum Gouverneur von Tarragoss kann noch nicht an Bord sein."
"Aber wozu wird ein solch riesiges Schiff gebraucht?", fragte Annabella.
Olivia zuckte mit den Schultern. "Fragen wir Wendelin."
***
Zum späten Nachmittag machten sich Annabella und Olivia zu zweit im Badezimmer des Erdgeschosses zurecht. Bronzene Hähne spendeten Wasser, mit dem sich Annabella den Sand von der Haut wusch. In dem mit einem verzierten Kupferrahmen eingefassten Spiegel beobachtete sie sich beim Haare bürsten, steckte ein paar Nadeln an die richtigen Stellen und kreierte eine alltagstaugliche Frisur.
Die beiden zwängten sich in ihre Kleider und schnürten sich gegenseitig das Korsett. Als sie fertig waren, machten sie sich auf zu Wendelins Schreibstube im Nordwestflügel.
Annabella fühlte sich von den Blicken der an den Wänden hängenden Porträts der vergangenen Inselgouverneure beobachtet. Gerade das letzte Gemälde - Gustav vasta Mangold - verfolgte sie, als sei sie die Mörderin ihres Großvaters. Sie war sich ihres starken Mordmotivs bewusst und würde dieses jemals ans Tageslicht kommen, so wäre sie die erste und letzte Verdächtige.
Natürlich hatte Annabella nichts mit Gustavs Ermordung zu tun, was sie jedoch zu der Frage brachte, wer es getan haben mochte. Sie schloss auch das Unmögliche nicht aus und überlegte, ob ihr Vater ein Motiv hatte.
Um Wendelin und nicht zuletzt sich selbst vor den Ermittlungen zu schützen, hatte sich Annabella auf die Erpressung eingelassen. Hoffentlich hielt sich Vitus an den Handel.
Die Tür zu Wendelins Schreibstube stand offen, sodass Annabella lediglich gegen den Türstock klopfte, um auf sich und ihre Tante aufmerksam zu machen.
Wendelins Kopf schnellte in die Höhe. Er sah aus, als hätte er in eine Limone gebissen und seine blonden Haare, die er sich zuvor noch gerauft hatte, standen unschön vom Kopf ab.
"Papa!", hauchte Annabella, huschte mit Olivia hinein und schloss hinter sich die Tür. Dann ging sie neben ihm in die Hocke und legte eine Hand auf seinen Unterarm. "Was ist passiert?"
Er senkte den Blick auf den Kirschholzschreibtisch. Die Maserung war mit klarem Lack ausgegossen und die Tischplatte schimmerte auf Hochglanz. "Nun … Gustav hat kurz vor seinem Tod eine ganze Soldatenkompanie von Kondal angefordert. Und die ist jetzt hier."
Annabella runzelte die Stirn. "Eine Kompanie? Und wozu?"
Wendelin schien einen Kloß herunterzuschlucken. Dennoch klang seine Stimme belegt. "Rolf vasta Graudorn - der Minenverwalter - ist davon überzeugt, dass der Angriff auf seine Akalua-Goldmine von den Ureinwohnern ausgegangen ist."
Olivia warf ein: "Nähere Erkenntnisse zum Tathergang konnten nie ermittelt werden. Wieso verdächtigt er die Ulakas?"
"Weil es keine anderen Verdächtigen gibt. Graudorn war damit sogar schon bei mir, gleich nach Gustavs Tod. Er wollte sich meine Unterstützung für seinen Rachefeldzug gegen die Ulakas sichern, aber allem Anschein nach …" Wendelin holte tief Luft und formulierte seine Worte angemessen vor.
Doch den unangenehmen Part übernahm Olivia. "… hatte Graudorn Gustav von einem Vergeltungsschlag gegen die Ulakas schon überzeugt. Und unser lieber Vater hat kurz vor seinem Ableben noch alles Notwendige in die Wege geleitet, ehe er Graudorn davon hat berichten können. Und jetzt stehen wir da - mit einer ganzen Kompanie, die darauf wartet, Eingeborene zu töten."
In den Sekunden des Schweigens tickte die Standuhr so penetrant, dass es Annabella in den Ohren weh tat. Das Schicksal der Ulakas war ihr relativ einerlei, allerdings kehrte sie die Juristin hervor. "Aber rechtlich gesehen ist es fehlerhaft, jemanden zu bestrafen, dessen Schuld nicht absolut bewiesen ist."
Olivia starrte sie aus ihren giftgrünen Augen an. "Rechtlich gesehen", wiederholte sie und rümpfte die Nase. "Du sprichst hier von Ureinwohnern, denen keinerlei Rechte zugestanden werden. Glaubst du ernsthaft, Graudorn interessiert sich dafür, welche Reaktion rechtlich gesehen angemessen wäre?"
Wie immer hatte ihre Tante recht. Noch nicht mal dem Mischvolk standen Rechte in irgendeiner Art und Weise zu, und die sprachen wenigstens die Sprache der Kolonisten und trugen ihren Teil zur Stadt Manava bei.
"Was soll ich tun?", fragte Wendelin. "Ich bin nur der Interimsgouverneur. Der Inselrat erwartet eine Entscheidung von mir. Weise ich die Kompanie aus Kondal ab, so wird mir mein bis dato sicheres Amt als Gouverneur bestimmt verwehrt bleiben."
Olivia raunte. "Bedenke die Reichweite deiner Entscheidung. Ist deine Zukunft so viel mehr wert als die Verhinderung eines Völkermords? Willst du das Geschehene von vor dreißig Jahren wiederholen? Willst du denselben Weg gehen wie Gustav und das Abziehbild eines Wahnsinnigen werden?"
Mit einem Rums haute Wendelin die Faust auf den Tisch und bäumte sich auf wie ein sterbender Leopard. "Natürlich nicht! Der, dessen Ziel das ist, sollte nie die Macht eines Gouverneurs haben. Ich wollte und will Gouverneur werden, um Frieden zu wahren und den Ulakas ein Leben ohne Angst zu ermöglichen. Deswegen ist mir meine Zukunft so wichtig, denn kein anderer außer mir würde sich um die Ureinwohner scheren." Nachdem er gesprochen hatte, ließ er sich wieder in seinen Sessel fallen und seufzte.
War Wendelin ein Freund der Ureinwohner? Mit großen Augen blickte Annabella abwechselnd ihren Vater und ihre Tante an. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass die Ureinwohner tatsächlich noch existierten.
Nach dem genannten Vernichtungsschlag hatten sich die Ulakas angeblich in eine geheime Stadt zurückgezogen. Niemand wusste, ob Nak´Umawea wirklich existierte, doch manche wollen sie gesehen haben. Andere hatten ihre Lage berechnet. Annabella hatte diesen Tontos nie Glauben geschenkt - zumindest nicht bis jetzt, da ihre zwei Verwandten wegen der Ulakas stritten.
"Vorschläge?", fragte Wendelin und fasste sich in die Haare.
Er zerbrach sich sprichwörtlich den Kopf über das weitere Vorgehen. Eine Kompanie von hundertzwanzig Mann annehmen und auf die Ulakas hetzen? Oder das Amt des Gouverneurs aufs Spiel setzen?
"Annabella? Was macht ein Advokat, wenn er seinen Mandanten für unschuldig hält?", fragte Olivia wissend.
"Einen anderen Schuldigen finden", antwortete Annabella. Dann zog sie die Augenbrauen zusammen und korrigierte sich: "Oder eben den echten Schuldigen."
"Und während wer auch immer den echten Schuldigen sucht, soll ich den Inselrat und den Graudorn hinhalten?" Wendelin stöhnte und sein Blick wanderte zur Decke, so als wollte er Dagar um Beistand bitten. "Wenn das die Zeitungen erfahren …"
"… dann ist deine Reputation hinüber", sagte Annabella. Auf die Schnelle einen echten Schuldigen aus dem Hut zu zaubern, erschien ihr wie ein Akt der Verzweiflung.
Olivia lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und zuckte mit den Schultern. "War nur ein Vorschlag."
Zweifelnd verzog Wendelin einen Mundwinkel. "Außerdem ... wer soll deiner Meinung nach die Schuldigen suchen? Die Gendarmen haben ihre Untersuchung an der Akalua-Mine ohne Ergebnis eingestellt. Was soll eine Zweituntersuchung nützen? Ganz zu schweigen von dem Aufruhr, den ein solcher Befehl mit sich bringen würde."
"Ich kenne jemanden, für den ein Gendarm ziemlich viel tun würde. Ich denke, diese Person dürfte durchaus bereit sein, dir zu helfen", antwortete Olivia mit verschränkten Armen und zwinkerte dabei Annabella zu.
Diese schnellte in die Höhe und stemmte die Hände in die Hüfte. "Das kann nicht dein Ernst sein!" Ungewollt stieg ihr die Hitze in den Kopf. Warum drängte ihre Tante sie zu einem weiteren Treffen mit diesem Arlstein?
"Was kann nicht Olivias Ernst sein?", fragte Wendelin.
Schockiert blickte Annabella ihren Vater an. Er sollte von ihrem Liebesleben am besten überhaupt nichts mitbekommen - und den Grund, warum sie mit Arlstein ausgegangen war, auch nicht. "N-nichts", stammelte Annabella, setzte sich wieder und legte die Hände in den Schoß.
Wendelin knetete sich die Stirn. "Also kannst du mir helfen? Respektive den Ulakas?"
***
Wendelin klammerte sich an diesen Strohhalm, der einen Angriff auf das Urvolk verhindern könnte. Annabella war davon nicht begeistert und sie ließ ihren Unmut an ihrer Tante aus.
Gerade war die Kutsche vom Hof gefahren und überquerte die Brücke, da blähten sich Annabellas Nasenflügel auf. "Bist du eigentlich bescheuert, mich zu diesem Arlstein zu treiben? Erst willst du ihn ins Zuchthaus schicken, damit ich ja nicht mit ihm ausgehe und jetzt?"
"Jetzt geht es um mehr als eine Erpressung wegen eines nicht begangenen Mordes. Es geht hier um das Leben der Ureinwohner - der letzten, die diese Insel hat", redete sich Olivia raus. "Wenn du sie schützen kannst, dann ist das Opfer, diesen Gestörten noch einmal zu sehen und um Hilfe zu bitten, sicher nicht zu viel verlangt."
Annabella ließ ihre Faust auf das Polster rauschen. "Wenn die Gendarmerie nichts anderes rausgefunden hat, dann werden es schon die Ulakas gewesen sein. Soll der Graudorn seinen Angriff doch bekommen, bei Dagar, was geht es mich an?"
Olivia murmelte: "Mehr als du denkst." Mit fester Stimme fuhr sie fort: "Dein Vater will die Ureinwohner verschonen, kann sich vor dem Inselrat aber nicht erklären, warum er sie verschont. Es sei denn, wir haben den echten Schuldigen."
"Warum will er denen denn helfen? Sofern sie noch leben, kommen sie bestens allein klar."
Ihre Tante rieb sich mit den Fingern ihre geschlossenen Augen. "Wir haben ihre Insel gestohlen. Das vergessen die Kolonisten nur zu gerne. Es ist unser Erbe, gerecht mit ihnen umzugehen."
"Gerecht, dass ich nicht lache", grunzte Annabella. "Und was ist dann mit den Frauen, die vom Gutdünken der Männer abhängig sind? Soll er lieber hier mal mit der Gerechtigkeit anfangen."
"Ich bekomme ja gleich einen Migräneanfall mit dir. Bei allen Naturgeistern, Wendelin ist noch nicht einmal Inselgouverneur und du erwartest schon Wunder. Dabei ist die Gefahr, die den Ulakas blüht, real. Und du kannst als Einzige diesen Arlstein dazu bewegen, ohne viel Aufsehen zu erregen die Ermittlungen an der Akalua-Mine wieder aufzunehmen. Kapiert?"
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro