7 - Mondprüfung
Vor mir ragt eine riesige Höhle aus dem Boden empor. Die Felsen sind mit Mondstaub bedeckt und leuchten in einem silbrig-weißen Farbton. Der Eingang, der zwischen zwei Steinsäulen hindurchführt, wird von einem fast unsichtbaren Flackern gesäumt.
Ob das vielleicht eine Art Barriere ist? Weil nur auserwählte Personen die Höhle betreten können?
Luan führt mich vorsichtig zu einer kleinen Steintafel, die seitlich neben der Höhle angebracht ist. Die Geschichte von Luno, Lenius, Nerina und Astrion ist für den Moment vergessen. Dass er sich ausschließlich auf die Gegenwart konzentriert, verraten seine gefurchte Stirn, sein ängstlicher Blick und seine angespannte Körperhaltung.
„Jetzt wird sich zeigen, ob du unsere Auserwählte bist oder nicht, Novie."
Automatisch verdoppelt sich mein Herzschlag. Elektrische Blitze zucken unter meiner Haut und kalte Schweißperlen rinnen meinen Nacken hinab.
„Kannst du lesen, was auf der Steintafel steht?", fragt mich Luan hoffnungsvoll.
Obwohl ich Angst habe, ihn und somit auch das ganze Volk der Lunari zu enttäuschen, richte ich mein Augenmerk auf die silberne Steintafel. Wirre Linien, Kreise und Symbole zieren die Oberfläche.
Und nein, ich kann diese Hieroglyphen nicht entziffern.
Ein riesiger Kloß bildet sich in meinem Hals und erste Tränen brennen unangenehm hinter meinen Lidern. Wie soll ich Luan bloß erklären, dass ich nicht diejenige bin, für die er mich gehalten hat, ohne ihm das Herz zu zerfetzen?
„Luan, ich ..." Meine Stimme versagt und bricht ab. Eine Träne, gefüllt mit Gewissensbissen und Schuld, kullert über meine Wange und fällt auf die Steintafel.
Plötzlich wirbeln die Linien, Kreise und Symbole wild durcheinander. So lange, bis sie sich zu Buchstaben formen.
„Oh mein Gott!", entfährt es mir leise.
„Was ist?", möchte Luan sofort aufgeregt wissen. „Kannst du die Tafel lesen?"
Ich nicke. „J-Ja", füge ich stammelnd hinzu. Erst verunsichert, doch dann voller Euphorie und Erleichterung. „Ja!"
Ich kann Luan ansehen, dass ihm ein gigantischer Felsbrocken vom Herzen fällt. Seine verkrampfte Körperhaltung lockert sich und seine Augen füllen sich mit einem zufriedenen Glänzen. „Ich wusste es", murmelt er lächelnd. „Du bist unsere Retterin, Novie!" Kurz drückt er meine zitternde Hand, ehe er mich auffordert, vorzulesen, was auf der Steintafel geschrieben steht.
Ich kneife meine Augen zusammen und konzentriere mich auf die schnörkeligen Buchstaben. „Die Prüfung des Mondlabyrinths", entziffere ich die Überschrift. Mit jedem Wort, das meine Lippen verlässt, zittert meine Stimme ein kleines bisschen mehr.
„In Mondes Labyrinth tief und weit,
du stehst vor einer Prüfung bereit.
Du musst den Ausgang finden geschwind,
doch nur mit Mondes Wissen im Sinn."
Ich mache eine kurze Pause, um tief durchzuatmen. So viel Adrenalin, wie jetzt gerade ist noch nie zuvor durch meinen Körper geströmt.
„Fragen über den Mond so klar und rein,
führen dich durch das Labyrinth fein.
Kristallklar und strahlend hell,
offenbart sich der Weg zur Quell."
Okay. Wenn ich das richtig verstehe, muss ich Fragen beantworten und den Weg durch ein Labyrinth finden. So lange nicht meine mangelhaften Mathefähigkeiten abgeprüft werden, sollte das machbar sein.
„Die Geheimnisse des Mondes groß und klein,
leiten dich durch das Labyrinth herein.
Mit Wissen und Mut durch Dunkel und Licht,
findest du den Weg zum Mondgesicht."
Ich atme tief durch, bevor ich meinen Blick mit dem von Luan vereine. Im Gegensatz zu mir wirkt er tiefenentspannt und optimistisch.
„Du schaffst das, Novie!", versucht er mir Mut zu machen, indem er aufmunternd meine Hand drückt und mir ein sanftes Lächeln schenkt. „Wenn sich jemand mit dem Mond auskennt, dann bist du das."
Ich nicke. Leider alles andere als überzeugt.
Am liebsten würde ich Luan fragen, was passiert, wenn ich die Prüfung nicht bestehe, doch ich schlucke meine Zweifel mit Mühe und Not herunter. Ich muss an mich selbst glauben, denn Luan scheint es auch zu tun.
„Viel Glück, Novie!"
Er begleitet mich noch bis kurz vor den Höhleneingang und schließt mich für ein paar Sekunden in seine Arme. Dann entlässt er mich in ein Abenteuer, das mehr Angst in meinem Inneren aufwirbelt als Freude oder Tatendrang.
Ich darf nicht versagen! Unter gar keinen Umständen!
Mit Luans intensivem Blick im Rücken berühre ich das durchsichtige Flackern, das sich zwischen den Steinsäulen erstreckt. Zwar hinterlässt es ein unangenehmes Kribbeln auf meiner Haut, doch ich kann die Barriere problemlos durchbrechen. Ein letztes Mal drehe ich mich zu Luan um und erwidere sein hoffnungsvolles Lächeln, ehe ich mich vorsichtig in das Innere der Höhle vorkämpfe.
Es ist stockdunkel und kalt. Ich muss mit meinen Händen an den Felsen entlangtasten, um nicht völlig orientierungslos durch die Finsternis zu irren.
Es dauert ein paar Minuten, bis sich meine Augen langsam an die schwarze Farbe gewöhnt haben. Ich folge dem steinigen Weg, der mit Staub bedeckt ist, und erreiche nach kurzer Zeit eine Abzweigung.
„Mist!", fluche ich leise. Soll ich rechts oder links weitergehen?
Während ich überlege, welcher Pfad der Richtige sein könnte, wandern meine Augen aufgeregt durch den Höhleninnenraum. Plötzlich bleiben sie an einer Steintafel haften. Sofort setze ich mich in Bewegung und lasse meinen Blick über die schnörkeligen Buchstaben gleiten.
Was ist die durchschnittliche Temperatur auf der Mondoberfläche während des Tages und während der Nacht?
Ich atme erleichtert auf. Mit meinem Wissen, das ich mir jahrelang angeeignet habe, sollte diese Prüfung ein Kinderspiel werden.
„Tagsüber kann die Temperatur bis zu 127 Grad Celsius erreichen", antworte ich selbstbewusst, „und nachts kann sie bis auf -173 Grad Celsius sinken."
Wie durch Geisterhand löst sich die Steintafel in Luft auf. Stattdessen erscheinen nun grün leuchtende Fußspuren auf dem Boden, die zu dem rechten Pfad führen.
Direkt eile ich den Abdrücken hinterher und kämpfe mich immer tiefer in das Labyrinth. Mit jedem Schritt, den ich mache, wird es nicht nur kälter, sondern auch dunkler.
Ich folge den grünen Spuren etwa fünf Minuten lang, bis ich die nächste Steintafel erreiche.
Wie viele Monde hat der Mond?
Ernsthaft? Das sind ja alles Fragen, die ich schon im Kindergartenalter hätte richtig beantworten können.
„Der Mond hat keine eigenen Monde", erkläre ich, „denn er ist der einzige natürliche Satellit der Erde."
Wieder verpufft die Steintafel zu Staub und wieder tauchen grün schimmernde Fußabdrücke auf, die mir den Weg durch das Labyrinth weisen.
Auch die dritte Frage stellt kein Hindernis für mich dar.
Was ist das Phänomen der Libration auf dem Mond?
„Die Libration ist die scheinbare Schaukelbewegung des Mondes während seiner Umlaufbahn um die Erde. Deshalb können wir von der Erde aus etwas mehr als die Hälfte der Mondoberfläche sehen."
Natürlich ist meine Antwort richtig, sodass ich weiter in das Labyrinth vordringe.
Wenn alle Prüfungen so einfach sind, ist Astrions Fluch schon bald gebrochen.
An der nächsten Abzweigung gibt es vier verschiedene Wegmöglichkeiten, die in die Dunkelheit führen. Die Frage, die mir den richtigen Pfad verraten soll, lautet folgendermaßen: Wie hoch kann ein Mondberg werden?
Ich seufze, denn ich fühle mich fast schon unterfordert. „Die höchsten Gipfel können zwischen sieben und zehn Kilometer hoch sein."
Die grünen Fußspuren folgen dem Weg links außen. Ich also auch.
Die Abschnitte zwischen den Steintafeln werden nach jeder Frage länger. Obwohl mein Körper mit Adrenalin gefüllt ist, werden meine Beine zunehmend schwerer und auch mein Kopf beginnt, unangenehm zu dröhnen.
Ohne es kontrollieren zu können, erinnere ich mich an Luans Worte vom Vormittag zurück. „Ihr braucht keine Nahrung. Es reicht, wenn ihr dreimal am Tag zwei Schlucke von eurem Mondtrank trinkt. Er versorgt euch mit allen überlebenswichtigen Stoffen."
Mein Blick fällt auf das kleine Glasfläschchen, das mit einer rosafarbenen Substanz gefüllt ist. Ich löse es vorsichtig von dem Gürtel und drehe den Verschluss ab. Dann nehme ich zwei große Schlucke.
Die Flüssigkeit schmeckt süß, aber irgendwie auch bitter und salzig. Sie hinterlässt ein elektrisches Kribbeln auf meiner Zunge und schlängelt sich wie Efeuranken durch meinen ganzen Körper. Mir wird abwechselnd heiß und wieder kalt und ich habe das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen.
Zum Glück ist dieser Zustand nicht von langer Dauer, denn nach einer Minute verschwinden die Nebenwirkungen und werden durch einen kräftigen Energieschub ersetzt.
Plötzlich fühle ich mich wie ein neuer Mensch. Fast schon wie neugeboren.
Ich setze meinen Weg mit zügigen Schritten fort und bleibe erst vor der nächsten Steintafel stehen.
Welche Rolle spielen Mondphasen bei den Gezeiten auf der Erde?
Oh man. Gibt es wirklich Menschen, die diese Fragen nicht beantworten können? Ich bin mir sicher, dass selbst Elijah die Antworten gewusst hätte.
„Die Anziehungskraft des Mondes und der Sonne wirken zusammen, um Ebbe und Flut auf der Erde zu verursachen."
Selbstverständlich ist auch diese Frage richtig, weshalb ich motiviert den grün leuchtenden Fußabdrücken folge. Dieses Mal muss ich sogar über Felsen klettern und mich zwischen engen Steinsäulen hindurchquetschen.
Dank des Mondtrankes fällt es mir leicht, die Hindernisse des Labyrinths zu überwinden. Und so kommt es, dass ich nach einer geschätzten Viertelstunde einen riesigen Höhlenraum erreicht habe, der von einem silbrigen Schleier verhüllt wird.
In der Mitte befindet sich ein Altar aus Stein. Er wird von einem weißen Leuchten angestrahlt, das aus einem Loch in der Höhlendecke hinabfällt.
Ganz langsam und vorsichtig nähere ich mich dem Altar. Auf der Oberfläche steht eine kleine Schale, die so hell wie das Mondlicht schimmert. Außerdem sieht es so aus, als hätte die Schale ein Gesicht.
Ich möchte gerade nach dem Gefäß greifen, da werden plötzlich mehrere, schnörkelige Buchstaben auf dem Altar sichtbar. Es dauert einen kurzen Moment, bis sie sich zu einem poetischen Gedicht zusammengesetzt haben.
In Mondes Labyrinth Novie stand bereit,
die Fragen schwer, doch sie meisterte die Zeit.
Gewonnen hat sie eine Schale fein,
für Mondes Tränen, bald wird sie sein.
Ein stolzes Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Ich habe es tatsächlich geschafft, die erste Prüfung mit Bravour zu meistern!
Begleitet von meinem Herzen, das im Takt der Erleichterung schlägt, nehme ich die silbrig-weiße Schale an mich. Kaum berührt sie nicht mehr die Steinplatte des Altars, formen sich grün leuchtende Fußspuren auf dem Boden.
Ich folge ihnen. So lange, bis ich den Ausgang des Labyrinths erreicht habe und von einem aufgeregten Luan in Empfang genommen werde.
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