2 - Mondmann
Drei Tassen Rum-Kakao und fünf Folgen The Walking Dead später habe ich meinen kleinen Liebeskummer bezüglich Elijah überwunden. Ein Mann, der meine Faszination für den Mond nicht versteht, hat meine Aufmerksamkeit ohnehin nicht verdient.
„Noch eine Folge?", fragt mich Ebony erwartungsvoll, nachdem wir uns das Finale von Staffel acht angeschaut haben. „Es ist gerade so spannend!"
Ein flüchtiger Blick auf den Wecker, der auf dem Board neben dem Fernseher steht, verrät mir, dass es in wenigen Minuten neun Uhr abends ist. Eigentlich wollte ich noch für mein Astronomiestudium lernen, aber die vielen Lehrinhalte laufen mir schon nicht davon.
„Einverstanden", stimme ich also zu, „aber ich muss vorher kurz für kleine Mädchen."
„Okay." Ebony nickt und schnappt sich unsere leeren Herzchentassen. „Dann mache ich uns noch einen Rum-Kakao."
Das nenne ich mal eine perfekte Arbeitsaufteilung!
Während meine beste Freundin in der angrenzenden Küche verschwindet, eile ich ins Bad. Da ich schon seit einer halben Stunde auf die Toilette muss, aber nicht gehen wollte, weil The Walking Dead zu spannend war, ist es sehr erleichternd, als ich endlich meine Blase entleeren kann.
Ich wasche mir die Hände und möchte zurück ins Wohnzimmer tapern, um mir Ebonys Kuscheldecke zu klauen, die viel flauschiger ist als meine, da klingelt es plötzlich an der Wohnungstür.
‚Komisch!', schießt es mir sofort durch den Kopf. Abgesehen von Postboten oder Pizzalieferanten klingelt eigentlich nie jemand bei uns.
Begleitet von meinem Herzen, das eindeutig zu schnell schlägt, tapse ich zu der Tür und öffne sie. Was ich sehe, verschlägt mir kurzzeitig die Sprache.
Vor mir steht kein Postbote und auch kein Pizzalieferant, sondern ein junger Mann, der mich um einen halben Kopf überragt. Er hat wuschelige Locken, die wild um seinen Kopf tanzen, und stechende Augen. Seine Kieferstruktur ist definiert und sein Körper gut gebaut.
Was das Besondere an ihm ist?
Er schimmert so silbrig-weiß wie das Mondlicht, das ich jeden Abend durch mein Teleskop bewundere. Jeder einzelne Zentimeter seines Körpers ist von dem hellen Leuchten bedeckt. Selbst seine Augen strahlen mir wie der Mond höchstpersönlich entgegen.
„Oh Gott", murmele ich leise. Wie es scheint, entfaltet der Rum so langsam seine Wirkung.
„Ich bin zwar nicht Gott, aber du kannst mich gerne so nennen, wenn du möchtest", erwidert mein Gegenüber mit einem frechen Grinsen. Er macht einen Schritt auf mich zu und streckt mir seine glänzende Hand entgegen.
Perplex blinzele ich.
Wer zum Teufel ist dieser Kerl? Und warum hat er sowohl seine Kleidung als auch seine Haut mit der Farbe des Mondes bemalt? Besser, ich bleibe wachsam, denn so ganz geheuer ist er mir nicht.
„Du bist Novie, richtig?" Der Fremde neigt seinen Kopf zur Seite und lässt seine silbrig schimmernden Augen über meinen Körper wandern. Als er an meinen Weltraum-Socken hängenbleibt, zupft ein amüsiertes Schmunzeln an seinen Mundwinkeln.
Fast schon lasse ich mich davon ablenken, bis ich mir wieder in Erinnerung rufe, dass er meinen Namen kennt – woher auch immer. „Äh, j-ja genau", stammele ich überfordert. „Und wer bist du? Kennen wir uns?" Es ist mir unangenehm, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wer der Mann ist.
Der Rum, der wie ein loderndes Feuer in meinen Venen pulsiert und mein Hirn benebelt, ist auch nicht gerade hilfreich ...
„Oh, wie unfreundlich von mir." Der Fremde lächelt verlegen. „Ich bin der Mond."
Wie bitte?! Ich wusste gar nicht, dass sich Alkohol auch auf das Gehör auswirken kann. Dabei habe ich gar nicht so viel getrunken.
„Sorry, aber wie heißt du?", hake ich nach. „Ich habe dich gerade nicht richtig verstanden."
Das Grinsen des Mannes wird breiter. Als hätte er meine Gedanken gelesen. „Ich heiße Luan."
Aha. Dann haben mir meine Ohren tatsächlich einen Streich gespielt. Jetzt scheinen sie aber wieder zu funktionieren.
„Und ich bin der Mond!"
Oder auch nicht ...
Man, dieser Typ macht mich echt fertig! Ich muss zugeben, dass sein silbrig-weißer Schimmer eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mond hat, aber das war es dann auch schon. Ein Mann und ein natürlicher Satellit sind zwei völlig verschiedene Sachen.
Ob er vielleicht auf eine Kostümparty eingeladen wurde und sich deshalb als Mond verkleidet hat? Das würde zumindest Sinn ergeben.
Aber warum steht er dann vor meiner Wohnungstür? Und woher kennt er meinen Namen? Immer mehr Fragezeichen formen sich in meinem Kopf.
Je länger ich in Luans silberne Augen schaue, umso mehr gewinnt meine Verwirrung an Größe. Erst als Ebony nach mir ruft, zucke ich zusammen und erwache aus meiner Trance. „Nova?", brüllt sie quer durch die Wohnung. „Musst du kacken oder bist du ins Klo geplumpst? Sag Bescheid, wenn ich dich retten muss!"
Na, vielen Dank für Nichts, Ebony!
Ich spüre, wie mir vor lauter Scham siedend heiße Blitze in die Wangen schießen. Auch wenn ich Luan nicht kenne und er sich merkwürdig verhält, möchte ich nicht den Eindruck eines Freaks hinterlassen.
„Haha, sehr witzig, Abby!", schreie ich zurück und verdrehe meine Augen. „Komm mal bitte in den Flur. Schnell!"
Ich kann das genervte Seufzen meiner besten Freundin hören, doch dann setzt sie sich in Bewegung. Wie ein Elefant trampelt sie in den Flur und stützt sich auf meiner Schulter ab, sobald sie mich erreicht hat. Der offenstehenden Tür schenkt sie überhaupt keine Beachtung.
„Was ist denn los, Novie?", möchte sie ungeduldig von mir wissen. „The Walking Dead wartet."
„Der Mond auch", entgegne ich, während ich mit meinem Zeigefinger auf Luan deute. „Hast du ihn herbestellt?"
Ebony folgt meinem Finger und reißt überrascht die Augen auf, als sie den silbrig glänzenden Mann sieht. „Was?! Nein!", streitet sie sofort ab. „Wieso sollte ich so einen Clown herbestellen?"
„Ernsthaft? Vielleicht, weil ich wegen Elijah frustriert war?" Ich versuche, Ebonys Blick aufzufangen, doch sie starrt weiterhin Luan an. „Also ich weiß deinen Einsatz wirklich sehr zu schätzen, Abby, aber das geht zu weit. Ich will keinen Mann, der sich verkleidet und als Mond ausgibt!"
Meine beste Freundin schnaubt. „Wenn ich sage, dass ich diesen Clown nicht herbestellt habe, dann meine ich das auch so!"
Ob sie gerade nur schauspielert? Ich bezweifele es.
Nichtsdestotrotz öffne ich den Mund und möchte etwas erwidern, allerdings kommt mir Luan zuvor. Er räuspert sich einmal, ehe er mit belegter Stimme sagt: „Der Clown steht immer noch vor euch und kann euch hören, Ladies!"
Synchron drehen Ebony und ich unsere Köpfe in seine Richtung. Ein amüsiertes Funkeln blitzt in seinen Augen auf, aber gleichzeitig wirkt er überfordert und ein bisschen hilflos.
„Dann sprich!", fordere ich ihn auf, da ich langsam meine Geduld verliere.
„Niemand hat mich herbestellt", bemüht sich Luan, etwas Licht in die Dunkelheit zu bringen, die meinen Kopf ausfüllt. „Ich bin eigenständig auf die Erde gereist. Für dich, Novie. Weil ich deine Hilfe brauche!"
Wieder bewegen Ebony und ich synchron unsere Köpfe. Dieses Mal schauen wir allerdings nicht Luan an, sondern tauschen einen verständnislosen Blick miteinander aus.
Wie soll ich bloß aus solchen kryptischen Aussagen schlau werden? Geheimsprachen waren noch nie mein Ding.
„Wenn wir dich nicht als Clown abstempeln sollen, musst du dich schon etwas präziser ausdrücken", findet Ebony als Erste von uns die Stimme wieder. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und schaut Luan abwartend an. Mit diesem strengen Lehrerinnen-Blick, bei dem man automatisch mehrere Zentimeter in sich zusammensackt.
Luan seufzt. Dann fragt er: „Können wir das vielleicht drinnen besprechen?"
„Auf keinen Fall!", antworten meine Freundin und ich wie aus einem Munde. Auch wenn wir zu zweit sind und Luan allein ist, sind wir nicht so naiv, um einen Fremden in unsere Wohnung zu lassen. Wer weiß, was er alles mit uns anstellen würde.
„Na schön. Dann halt nicht. Das Treppenhaus ist auch nicht schlecht." Luan fährt sich mit der Hand durch seine silbrig schimmernden Haare. Sein Blick springt immer wieder zwischen Ebony und mir hin und her, bis er an meinen Mond-Ohrringen hängenbleibt. Tatsächlich schleicht sich nun ein sanftes Lächeln auf seine Lippen, das seine verspannten Gesichtszüge lockert.
„Ich bin Luan. Der Mond", wiederholt er sich. „Ich bin extra vom Mond hergereist, um ein Menschenmädchen mit reinem Herzen und reiner Seele zu finden, das eine besondere Verbindung zu dem Mond hat."
Okay. So langsam fällt es mir schwer, ernstzubleiben.
Wenn Ebony diesen Kerl nicht angeheuert hat, dann waren es bestimmt meine Eltern, die mich bei der versteckten Kamera angemeldet haben, damit ich nachträglich für meine ganzen Jugendsünden büße. Anders kann ich mir diesen merkwürdigen Auftritt nicht erklären.
„Bei unserem Prinzen hat der Mondtränenfluch eingesetzt", spricht Luan mit zittriger Stimme weiter. Er spannt sich am ganzen Körper an und wirkt ernsthaft besorgt. „Uns bleibt nur eine Woche, um ihn zu retten. Andernfalls wird unser Königreich untergehen."
Schneller als ich reagieren kann, greift Luan nach meiner Hand und geht vor mir auf die Knie. Wie bei einem Antrag. „Ich weiß, dass das alles sehr überfordernd sein muss, aber du bist die Einzige, die uns helfen kann, Novie. Nur du kannst den Prinzen von dem Mondtränenfluch erlösen." Sein Blick ist so intensiv und stechend, dass mir eine eisige Gänsehaut über das Rückgrat kriecht. „Na ja, zumindest hoffe ich, dass du unsere Auserwählte bist."
Mein Kopf raucht. Die vielen neuen Informationen, die sich zu keinem sinnvollen Puzzle zusammensetzen lassen, prasseln wie ein Regenschauer auf mich nieder. Und ich hasse Regen!
„Ist hier irgendwo eine versteckte Kamera aufgebaut?"
„Was?" Luan schaut mich verwirrt an. „Bitte begleite mich zum Mond und rette unseren Prinzen!" Erst jetzt realisiere ich, dass er noch immer meine Hand festhält und entreiße sie ihm.
Warum muss dieser Tag so beschissen sein? Erst das vergeigte Date mit Elijah und jetzt so etwas ...
„Moment mal", murmele ich und halte inne. Luans Worte hallen wie ein Echo in meinem Kopf wider und irritieren mich nur noch mehr. „Nur damit ich das richtig verstehe: Ich soll mit dem Mond zum Mond fliegen?" Mein Gegenüber nickt. „Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!"
Wenn Luan der Mond ist, was ist dann das oblate Sphäroid am Horizont? Bloß eine Projektion?
„Ich werde dir alles erklären, Novie, versprochen, aber wir dürfen keine Zeit verlieren! Die Uhr tickt!" Luan kommt mir gefährlich nahe, sodass ich schützend meine Arme ausstrecke, um einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen uns zu bewahren. „Bitte, Novie. Das ist wirklich wichtig!"
Auch wenn ich es nicht möchte und es albern ist, wird mein Herz schwer wie Blei. Ich bin ein sehr hilfsbereiter Mensch, der immer zur Stelle ist, wenn irgendwo Not und Ungerechtigkeit herrschen. Dementsprechend trifft Luan auch gerade einen wunden Punkt bei mir.
„Angenommen, ich würde dir glauben, dass wir zum Mond reisen: Darf Ebony auch mitkommen?", taste ich mich langsam voran.
„Was?!", entfährt es meiner Freundin und Luan entsetzt.
„Ihr habt mich schon verstanden."
Während Ebony ungläubig den Kopf schüttelt, sieht Luan unzufrieden aus. Tiefe Furchen graben sich in seine Stirn und er presst seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Nach ein paar Sekunden seufzt er jedoch und gibt nach: „Na schön, meinetwegen. Aber nur, wenn sie keinen Ärger macht."
Dass Ärger Ebonys zweiter Vorname ist, lasse ich mal lieber unerwähnt.
Unschlüssig wende ich mich meiner besten Freundin zu und frage sie: „Was meinst du? Sollen wir mit Luan mitgehen?"
Kurz wirkt sie verunsichert. Dann zuckt sie mit den Schultern und säuselt: „Warum nicht? Wird bestimmt lustig, den Abend mit einem Verrückten zu verbringen. Ich bin ja echt gespannt, wie er uns zum Mond bringen will. Bestimmt lädt er uns in den Mondpalast ein. Da legt heute glaube ich ein DJ auf."
Und obwohl Ebony und ich keine Ahnung haben, was Luans Intention ist, lassen wir uns auf dieses Abenteuer ein.
„Mond? Wir kommen!"
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