Inzwischen ist es zehn Tage her, seit der Zirkus verschwunden ist und Alanas Freunde und Familienmitglieder haben es geschafft, ihr den Unsinn aus dem Kopf zu treiben. Sie glaubt inzwischen auch, dass es ein Hirngespinst ihrerseits war. Sie hat sich den Zirkus ausgedacht. Er hat niemals existiert.
An diesem Tag ist Freitag, einer der liebsten Tage der Woche Alanas. Sie traut ihren Augen kaum, als sie auf dem nach Hause weg jemanden, oder besser gesagt, niemanden sieht, der Plakate für einen Zirkus aufhängt. Es sieht genauso aus, wie damals, als die ganzen Plakate aufgetaucht sind. Nachdem das Nichts ein paar Meter weitergegangen ist, um an dem Gartenzaun noch weitere Plakate aufzuhängen, geht Alana näher an das Plakat heran, um es zu studieren. Sie zückt ihr Handy aus der Hosentasche und macht ein Foto von dem Plakat. Sie würde sich Notizen machen, sie würde alles dokumentieren. Sie ist nicht verrückt. Sie hatte die ganze Zeit recht und sie würde es sich beweisen, sollte sich der Vorgang wiederholen. Sie folgt dem Schatten, der die Plakate aufhängt, doch irgendwann hört der Zaun auf und es werden keine Plakate mehr aufgehängt. Sie kann dem Nichts nicht weiter folgen, weil sie nicht weiß, wo derjenige hingeht. Vielleicht ist dort auch niemand. Zunehmend verunsichert Alana das ganze auftreten nun doch. Doch ihre Neugier siegt. Sie ist einfach stärker und sie will unbedingt Mandrik noch einmal wiedersehen. Sie ist unheimlich erleichtert, dass es den Zirkus scheinbar doch gibt und sie keine Hirngespinnste hatte. Sie ist nicht verrückt. Sie hat sich das alles nicht ausgedacht. Es gibt den Zirkus wirklich.
Sie reißt eines der Plakate von dem Zaun, als gerade niemand hinschaut und steckt es sich in den Rucksack. Zirkus Caraval steht darauf. Es ist der gleiche Zirkus, wie vor zwei Wochen. Ganz bestimmt. Sie steckt sich das Plakat in den Rucksack, um es in ihrem Zimmer aufzuhängen. Zuerst läuft sie nach Hause, um das Plakat an der Wand in ihrem Zimmer aufzuhängen. Nun könnte sie doch noch allen beweisen, dass sie recht gehabt hatte und es den Zirkus gibt. Danach läuft sie zu der Wiese, auf der das Zirkuszelt vor zwei Wochen stand. Doch dort ist nichts. Gar nichts. Keine Zirkuswagen, kein Zelt, keine Menschen. Nichts. Irgendwo müssen diese Menschen doch sein. Sie können sich nicht einfach ins nichts auflösen. Sie müssen doch hier ankommen und ihr Zelt aufbauen. Die Vorstellung scheint allerdings nicht heute Abend zu sein. Es ist seltsam und Alana überlegt, ob sie über Nacht hierbleiben soll. Sie will den Zirkus beobachten. Sie will das Rätsel lösen. Vielleicht bauen die Artisten das Zelt immer über Nacht auf, damit es einen noch spektakuläreren Eindruck machen würde. Immerhin haben sie so vor ein paar Wochen die ganzen Zuschauer ins Zelt gelockt. Alana läuft noch einmal nach Hause und ist entschlossen, dem ganzen auf den Grund zu gehen. Sie wühlt im Keller nach dem alten Zelt, welches ihr Vater ihr damals zum zehnten Geburtstag geschenkt hat. Währenddessen ruft sie ihre beste Freundin an.
"Hast du Lust heute Nacht zelten zu gehen?", fragt sie als erstes in den Hörer.
"Wo willst du denn zelten gehen und weshalb heute Nacht?", fragt diese verdutzt. Es klingt so, als wenn sie sich gerade die Haare föhnen würde. Inzwischen ist es Juni und warm genug ist es auch.
"Ich glaube, der Zirkus taucht wieder auf"
"Wieder?", fragt ihre Freundin.
"Ja, von dem ich die letzten Wochen geschwärmt und geredet habe und den ihr mir ausreden wolltet" , erklärt Alana.
"Wir hatten seit Ewigkeiten keinen Zirkus mehr hier und wir haben dir auch keinen ausreden wollen. Wir haben die letzten Wochen nur über unser anstehendes Abi geredet, Alana"
"Verarsch mich nicht. Das ist langsam echt nicht mehr lustig"
"Ich mache keine Witze" , erklärt ihre Freundin und langsam beginnt Alana ernsthaft an ihrem Verstand zu zweifeln. Es stimmt etwas ganz gewaltig mit diesem Zirkus nicht und sie wird herausfinden, was das ist. Sie hat kein Bock mehr auf Rätsel und immer und überall die blöde zu sein, die alle schräg anschauen, weil sie angeblich Märchengeschichten erzählt.
"Willst du jetzt mitkommen, zelten?", fragt Alana daraufhin.
"Ich kann nicht. Ich bin heute Abend mit meinem Freund verabredet" , erklärt sie. In den letzten Wochen hat Emma jemanden kennengelernt und die beiden sind nun zusammen gekommen. Emma macht kaum noch etwas mit Alana, sondern ist andauernd mit diesem Jungen zusammen.
"Okay, dann mache ich es eben alleine"
"Mach keinen Blödsinn"
"Ich kann nichts versprechen" , sagt Alana noch grinsend und legt den Hörer auf. Sie sucht noch eine Isomatte heraus und macht sich auf den Weg zum Zeltplatz. Dort braucht sie erst einmal eine Weile, bis sie ihr Zelt überhaupt aufgebaut kriegt. Es kommen einige Leute aus der Stadt vorbei und beäugen sie grinsend, doch niemand bietet ihr ihre Hilfe an. Typisch für die Menschen aus Rumor.
*
Inzwischen ist es schon spät am Abend und die Sonne geht langsam unter. Alana ist ein wenig zu dünn angezogen und sitzt zitternd vor ihrem Zelt. Sie kann bald schon gar nicht mehr die Augen aufhalten und es ist immer noch nichts passiert. Ein paar Mal nickt sie tatsächlich ein. Gerade als sie wieder den Kopf nach oben schießen lässt, um die Augen zu öffnen, sieht sie einen vollständig aufgebauten Zirkus. Das kann gar nicht sein. So lange kann sie nicht geschlafen haben. In der Zeit hätten sie niemals ein ganzes Zirkuszelt aufbauen können. Sie schaut auf ihr Handy und tatsächlich sind nicht weniger als zehn Minuten vergangen. Das kann nicht sein. Nun sieht sie Mandrik aus dem Zelt laufen und quält sich aus dem Schlafsack heraus, den sie sich geholt hat, um sich nicht den Arsch abzufrieren.
"Mandrik!" , ruft sie. Inzwischen ist ihr ihre anfängliche Angst egal. Sie will endlich Antworten.
"Mandrik, warte!" , schreit sie noch einmal, als er im Zelt verschwindet. Als sie ihm ins Zelt folgt, sieht sie die anderen Artisten, die sie alle mit großen, ängstlichen Augen ansehen.
"Tut mir Leid, dass ich euch so überfalle" , entschuldigt sich Alana völlig aus der Puste. Mandrik ist echt schnell.
"Wer bist du?", fragt Mandrik mit zitternder Stimme. "Und woher kennst du meinen Namen?"
"Ich bin Alana, ich komme aus der Stadt. Ich kenne deinen Namen aus der Vorstellung vor zwei Wochen"
"Du kannst dich an mich erinnern?", fragt er. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen und er mustert sie von oben bis unten.
"Und du konntest mich da draußen sehen?", fragt er, immer noch mit großen,inzwischen ängstlichen Augen.
"Sieht so aus" , sagt sie schulterzuckend und weiß nicht, was daran so besonders sein soll. Normalerweise sieht man Menschen, wenn sie aus einem Zelt herauskommen eben. Und normalerweise kann man sich auch an andere Menschen erinnern, wenn man sie zwei Wochen zuvor gesehen hat und dann wiedersieht. Normalerweise jedenfalls. Alle anderen scheinen sich nicht an den Zirkus zu erinnern.
"Warum kann ich mich erinnern und alle anderen aus der Stadt nicht?"
"Das können wir dir nicht einfach so sagen" , erklärt Mandrik. Inzwischen fragt sich Alana, weshalb nur Mandrik redet und niemand anderes.
"Ich verstehe es sowieso nicht.." , überlegt Mandrik laut.
"Was verstehst du nicht?", fragt Alana.
Die anderen Artisten scheinen miteinander zu reden, denn ihre Münder bewegen sich, aber sie kann nichts verstehen. Sie hört die anderen nicht. Auf einmal beginnt sie, sich die Ohren zuzuhalten und zu schreien.
"Was ist los?", fragt Mandrik nun auf einmal besorgt.
"Warum ist mein Leben so?", fragt sie.
"Wie denn?"
"Alle halten mich inzwischen für verrückt, weil ich seit zwei Wochen von diesem Zirkus rede, der für alle anderen Menschen nicht existiert. Und nun taucht ihr wieder auf und niemand will es wahrhaben, dass ich die ganze Zeit davon geredet habe. Sie denken, ich habe die letzten zwei Wochen nur über das Abi geredet"
"Komm nach der Vorstellung morgen Abend zu mir, okay?", fragt er und verschwindet. Es ist, als wäre er nie dagewesen und Alana muss sich irgendwie versichern, dass dies gerade wirklich passiert ist und sie es sich nicht einfach bloß eingebildet hat. Sie zwickt sich einmal in den Arm und trotzdem steht sie noch im Zirkuszelt. Sie baut ihr Zelt ab, denn sie weiß nicht, was es noch bringen soll, hier zu übernachten. Sie kann auch in ihr gemütliches, warmes Bett gehen. Als sie Zuhause angekommen ist, kann sie erst nicht einschlafen, weil ihre Gedanken immer wieder zu Mandrik wandern. Schließlich schläft sie doch noch mit dem Gedanken ein, dass sie morgen nach der Vorstellung endlich mehr herausfinden würde.
Am nächsten Abend ist es endlich so weit und sie kann in die Vorstellung gehen. Der Eintritt kostet wieder nichts, was sie noch einmal stutzig macht. Auch dieses Mal wollte niemand mit ihr in die Vorstellung gehen. Heute Nacht ist sie allerdings froh darüber, denn sie freut sich schon auf Mandrik. Inzwischen scheint er zumindest ein wenig Interesse an ihr zu haben, auch wenn dieses zu wünschen übrig lässt. Es scheint so, als würde er Angst vor ihr haben. Sie hätte sich gewünscht, dass er Interesse an ihr zeigt. Aber Interesse, aus welchem Grund auch immer, ist besser, als gar kein Interesse versucht sie sich einzureden.
Nach der Vorstellung strömen alle Menschen wieder aus dem Zelt. Die Vorstellung ist die gleiche, wie letzte Woche gewesen. Wieso sollte man sie auch ändern, wenn alle Menschen einen immer wieder vergessen? Alana könnte sie sich trotzdem tausend Mal am Stück anschauen. Am liebsten würde sie mit trainieren und diese Kunststücke ebenfalls erlernen. Sie bleibt einfach auf ihrem Platz sitzen, bis das ganze Zelt sich geleert hat und wartet, dass Mandrik auf sie zukommt, denn sie weiß nicht, wo sie sonst hingehen soll.
"Hallo Alana" , sagt er und taucht auf einmal aus dem nichts auf. Sie erschrickt fast zu Tode.
"Wieso kannst du mich verstehen?", fragt er.
"Ich weiß nicht, weshalb ich dich verstehen kann. Können das nicht alle Menschen? Du hast doch den Ticketverkauf gemacht. Da hast du auch mit den ganzen Menschen gesprochen?", fragt sie unsicher. Ihre Freundin hatte recht. Nun kommt ihr der Zirkus auch gruselig vor und sie weiß nicht, ob es die beste Idee gewesen ist, hier alleine herzukommen und vor allem alleine nach der Vorstellung hier zu bleiben. Warum fragt er sie, weshalb sie ihn verstehen kann? Menschen können kommunizieren, sobald sie die gleiche Sprache sprechen oder beide wenigstens ein wenig Englisch können. Es wird schon schwieriger, wenn sie dies nicht können, aber dann geht es immer noch über Zeichensprache.
"Nein. Also doch, während der Vorstellung schon. Aber danach nicht. Und wie du siehst, kannst du mich gerade verstehen. Und du hast mich scheinbar auch außerhalb des Zeltes gesehen. Das ist nicht möglich" , erklärt er ihr.
"Warum nicht?", fragt sie.
"Weil mich noch nie jemand gesehen hat oder verstanden hat, nach der Vorstellung"
"Du bist seltsam" , stellt sie fest.
"Ich verstehe ja auch nicht, warum"
"Siehst du die anderen jetzt auch?" , fragt er.
"Ja" , antwortet sie gemäß der Wahrheit.
"Kannst du sie auch verstehen?"
Sie sieht die Mundbewegung der einzelnen Artisten, versteht aber keinen einzigen Wortfetzen davon.
"Nein"
"Ich weiß zwar nicht, weshalb du mich sehen und verstehen kannst, aber ich finde es ziemlich cool" , grinst er nun auf einmal und seine Stimmung scheint eine noch völlig andere zu sein, als vor einer Sekunde. Er scheint einen Dämpfer von Cato zu bekommen, denn auf einmal schaut er aus, als wenn er sich schämen würde. Sein Kopf ist auf den Boden gerichtet.
"Morgen ist noch eine Vorstellung, komm vorbei, okay?" , fragt er sie und Alana nickt aufgeregt.
*
Alana hat sich in den letzten Wochen so oft schick gemacht, wie noch nie und es fühlt sich ein wenig so an, als wenn sie auf ein Date gehen würde, auch wenn sie dies nicht tut. Immerhin geht sie nur in eine Zirkusvorstellung. Aber sie wurde von einer der Artisten eingeladen, was sie ein wenig stolz macht. Als sie am Ticketstand sitzt, schaut ihr ein grinsender Mandrik entgegen, der sie fröhlich begrüßt. Er weiß inzwischen schon, welches Ticket sie haben möchte und drückt ihr eines in die Hand. Als sie es genauer anschaut, sieht sie, dass er mit krakeliger Handschrift etwas darauf geschrieben hat.
"Heute Nacht vor dem Zirkuszelt. Dort, wo dein Zelt gestanden hat" , liest sie und ihr Herz schlägt schneller. Heißt das, sie hat doch ein Date? Er will sich heimlich mit ihr Treffen. Die ganze Vorstellung kann sie an nichts anderes mehr denken. Als er auf die Bühne kommt, schlägt ihr Herz wild in ihrer Brust und sie kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie muss völlig bescheuert aussehen, aber sie kann ihre Freude einfach nicht im Zaun halten. Sie kann die ganze Vorstellung lang nicht still sitzen und muss sich die Karte immer wieder durchlesen, um zu glauben, dass ihr dies wirklich passiert ist. Sie kann sich kaum auf die Vorstellung konzentrieren, aber sie kann sich noch an alles von letzter Woche erinnern. Nur als Mandrik auf die Bühne kommt, ist ihre Aufmerksamkeit besonders hoch.
"Heute Nacht vor dem Zirkuszelt. Dort, wo dein Zelt gestanden hat" , liest sie noch einmal und kann es kaum abwarten, bis sie Vorstellung vorbei ist. Er kann sich an sie erinnern und hat sie dort schon wahrgenommen. Ihr Herz könnte kaum glücklicher sein.
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