Laudes matutinae - morgendliche Lobgesänge
Nach zwei Wochen im Kloster konnte Lila irgendwann endlich richtig schlafen. Der abstruse Schlafrhythmus der Nonnen, die dreimal mitten in der Nacht aufstanden, um irgendeinen lateinischen Quatsch zu singen, hatte sie eingeholt und sie hatte sich daran gewöhnt.
Nach etwa einer Woche kam dann auch Lilas Lateinausbildung aus der katholischen Mädchenschule durch, wodurch sie imstande war, die gesungenen Texte im Wesentlichen zu verstehen und zu übersetzen. Sie hätte sie sogar mitsingen können, wenn sie gewollt hätte, aber lieber hätte sie sich die Zunge abgebissen.
Natürlich war aufgefallen, dass sie nicht mitsang und nach etwa anderthalb Wochen hatte die Äbtissin persönlich Lila alle Texte zum Auswendiglernen gegeben, doch als sie dann immer noch nicht mitsang, wurde sie mit Strafarbeiten belegt.
Ohnehin arbeitete Lila in diesem Kloster viel körperlich. Mal musste sie in der Küche helfen, Kartoffeln zu schleppen oder Teller zu spülen, dann wieder musste sie die Kohlen in den Keller tragen helfen, weil das Kloster zwar eine Art Souterrain besaß - vermutlich wegen der Hanglage - aber gleichzeitig mit einem antiken Kohleheizungssystem beheizt wurde. Zumindest die Räume, die überhaupt beheizt wurden, was neben dem seit dem Mittelalter dauerbeheizten Aufwärmraum nur die Schlafsäle und die Küche waren. Das schluckte schon genug Kohle.
Und wenn gerade nichts mehr zwischen Eingang, Keller und Küche hin und her zu schleppen war, wurde Lila nach draußen geschickt, wo sie einen Einblick in alle Facetten der Landwirtschaft bekam, die im nahegelegenen Dorf betrieben wurde. Kühe, Schafe, Gänse und Pferde durfte sie auf Koppeln und Weiden besuchen, Futter schleppen oder störrische Tiere hinter sich her ziehen. Außerdem lernte sie, wie Weizen, Gerste und Roggen zu unterscheiden waren, und wie sie aussahen, wenn sie gesund und auf einem guten Weg waren.
Einer der Bauern hatte Lila auch erklären wollen, wie die Getreidesorten aussahen, wenn sie erntereif waren, doch da hatte Lila nicht mehr richtig zugehört. Es brauchte sie ja auch eigentlich nicht zu kümmern, denn zur Erntezeit wäre sie ja längst wieder in München in der Schule.
Die Morgengebete im Morgengrauen mochte Lila nach reiflicher Überlegung am liebsten. Beziehungsweise: sie hasste sie am wenigsten.
Sie gehörten zwar zu den längeren Gebeten, aber dafür war es draußen schon ein bisschen hell und die Welt vor dem Fenster erwachte langsam. Dann war da das Glitzern der aufgehenden Sonne, deren Licht sich in den Scheiben der Kirchenfenster brach. Und schließlich rückte mit jeder Minute, die verstrich das Frühstück näher. Zu Essen gab es zwar erst nach der Prim, aber beim Vorbereiten in der Küche ließ sich auch das ein oder andere stibitzen.
Lila war mehr als bewusst, dass man sie hergeschickt hatte, damit sie Reue empfand. Vielleicht wollte sie die Äbtissin des Mädchengymnasiums sogar leiden lassen, doch das ließ Lila nicht mit sich machen. Wo es nur ging, sperrte sie sich und hatte immer Widerworte auf den Lippen, wenn eine der Nonnen sie zurechtweisen wollte.
Nur das Schleppen machte sie gerne. Vielleicht war das seltsam, aber es gab Lila ein Gefühl, Gutes zu tun. Vielleicht sogar, etwas wahrhaft gottgefälliges zu tun. Immerhin half sie den Nonnen im Kloster damit, so gut sie konnte, oder sie half den Bauern aus dem Dorf. In jedem Fall nutzte sie ihre Zeit, um zu helfen und das hatte schon Tante Lilly immer gesagt: »Gott sieht jene, die helfen, besonders freundlich an!«
Nur manchmal fragte sich Lila, was denn falsch daran gewesen war, Julian zu helfen. Es war ihre Pflicht als Christin und als Freundin gewesen, für ihren Freund einzustehen und ihn zu verteidigen. Was hatte sie denn falsch gemacht, dass Gott sie in ein Kloster stecken ließ?
Tja und da war sie dann wieder, die Theodizee. Das Problem, das Lila schon so oft im Unterricht erklärt bekommen hatte, dass sie es mittlerweile nur noch zum Kotzen fand. Hiobsfrage hatte es eine Nonne auch mal genannt. Warum lässt ein allmächtiger und allgütiger Gott Leiden zu?
Anders gefragt: Wenn wir, wie Leibniz einst schrieb, in der »besten aller Welten« lebten, warum gab es in dieser Welt dann Leiden, die ein allmächtiger Gott verhindern könnte und ein allgütiger Gott verhindern müsste?
Für Lila war die Antwort seit dem Tod ihrer Tante Lilly spätestens klar: Wie soll es Freude ohne Leid geben? Wie sollte es Leben ohne den Tod geben? Und wie sollte es Regeln ohne Ausnahmen geben?
Das Leben ist besser, weil wir leiden können. Das Leben ist reicher, weil wir sterben können. Das Leben ist aufregender, weil wir nicht wissen können, welche Regel morgen noch gilt und welche wir heute noch brechen werden.
Diese drei Sätze hatte sich Lila nach dem Tod von Tante Lilly aufgeschrieben, eingerahmt und zu den ganzen Zitaten gepackt, die sie von ihr hatte. Quasi als letztes Zitat ihrer genialen Tante.
Und diesem Motto blieb Lila treu. Sie nahm ihr Leiden an, weil sie wusste, dass nur durch dieses Leiden irgendwann wieder Glück in ihrem Leben sein konnte. Immer mit diesen Gedanken verbunden war auch die Hoffnung, dass ihre Eltern sich hiernach endlich etwas mehr um sie kümmern würden.
»Schließlich bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.« So soll Martin Luther den letzten Vers des Hohelieds der Liebe, 1. Korintherbrief, Kapitel 13, Vers 13, übersetzt haben. So oder so ähnlich.
Lilas Hoffnung war eine bessere Zukunft. Allgemein und konkret. Lilas Glaube war der, dass sie nur durch das Akzeptieren des Leidens, das ihr die Nonnen hier bescherten, wieder Glück im Leben würde erfahren können. Und Lilas Liebe...? Nun, sie liebte Tante Lilly, auch wenn die tot war. Und sie liebte ihre Freundinnen an der Schule. Und Julian natürlich. Und sie würde sich immer wieder für ihn einsetzen. Für ihren Freund einstehen, das war doch das Richtige, oder?
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