Komplet - Nachtgebet
Im Raum war es absolut still. Niemand regte sich, niemand räusperte sich oder gab sonst irgendein Geräusch von sich. Die Fenster waren geschlossen und draußen war es Stockdunkel. Nur die Kerzen im Raum spendeten ein wenig Licht, sodass Lila sich ein wenig umsehen konnte.
Auf einmal fing eine der Frauen in den langen, dunkelbraunen Leinenkutten an zu singen. Sofort stiegen die anderen Frauen mit ein, doch keine nahm dafür die Kapuze ab. Lila kannte weder den Text, der gesungen wurde, noch die Melodie und sie wollte beides auch gar nicht kennen. Es war einfach grauenhaft.
Mindestens eine Viertelstunde lang wurde gesungen, während einundzwanzig Frauen in drei Reihen perfekt angeordnet und unbeweglich standen und sich unter ihren Kapuzen versteckten.
Als die Vorsängerin verstummte, wurde es wieder still. Eine kleine Glocke läutete zwei Schläge und prompt setzten sich die Frauen in Bewegung. Die Vorsängerin voran und der Rest in Zweierreihen hinterher verließen die Frauen den Raum und folgten der letzten brennenden Kerze durch die Korridore.
Lila versuchte einen Blick auf ihre Laufnachbarin zu erhaschen, doch die Kapuzen schirmten jeden Blick ab. Stattdessen klopfte ihr jemand von hinten auf die Schulter und drehte ihren Kopf samt Kapuze wieder nach vorne.
Zwei Korridore und eine lange Treppe entfernt lag der große Schlafsaal, den nun alle Frauen der Reihe nach betraten. Endlich wurden die Kapuzen wieder abgezogen, die Kutten anschließend ganz abgelegt und alle einundzwanzig Frauen legten sich in ihre Betten, falls man diese so nennen konnte. Lila war dazu auch schon das Wort Schlafstätte in den Sinn gekommen.
Lila wusste nicht viel über die Nonnen in diesem Kloster. Was sie wusste, war dass sie gerade irgendeine Form von Gebet abgehalten hatten und dass sie absolut streng katholisch waren. Und katholisch meinte in diesem Fall insbesondere konservativ, völlig abstinent und angewidert von Homosexualität und dergleichen. Drei gute Gründe für ihre Eltern, sie hierher zu schicken.
Lila schloss die Augen, als sie unter ihre Decke kroch. Es war keine luxuriöse Decke - mehr ein etwas größeres, nahezu rechteckiges Stück gewebter Wolle - aber immerhin gab es hier irgendetwas in dieser Richtung. Diesen Nonnen hätte Lila es nämlich auch getrost zugetraut, dass sie völlig ohne Decke auf einem flachen Bett aus Heu und Stroh schliefen.
Hundemüde und doch nicht in der Lage einzuschlafen, kreisten Lilas Gedanken um ihre Ankunft im Laufe des vergangenen Tages und um die Dauer ihres Aufenthaltes. Diese Form der Bestrafung war im 21. Jahrhundert einfach völlig überzogen, unangemessen und antik! Und es bewies, dass ihre Eltern wirklich keinen Bock auf sie hatten.
Lila hatte vor zweieinhalb Jahren festgestellt, dass sie ihren Eltern völlig egal war. Sie kümmerten sich nicht wirklich, waren immer auf Arbeit, interessierten sich für nichts, was Lila erzählt hatte und für ihre Schulnoten schon gar nicht.
Es wäre Lila wohl nicht aufgefallen, wenn nicht vor drei Jahren ihre Patentante gestorben wäre, die sich immer um sie gekümmert hatte. Im Rückblick war sie wahrscheinlich öfter bei ihr gewesen als zuhause. Und zuhause war damals auch noch eine Haushälterin gewesen, die sich auch etwas um Lila gekümmert hatte. Dann war Lilas Patentante, Tante Lilly, bei einem Autounfall gestorben.
Weil sie eine alte Freundin gewesen war, hatte Lilas Mutter bei der Beerdigung viel geweint, aber Lila hatte sofort bemerkt, dass diese Tränen nicht echt waren. Lila war die einzige gewesen, der der Tod von Tante Lilly wirklich wehgetan hatte. Und als wäre das nicht genug gewesen, hatten Lilas Eltern ein paar Monate später der Haushälterin gekündigt, weil sie Lila nach dem Tod von Tante Lilly zu sehr verwöhnt hatte.
Seitdem war Lila zuhause alleine. Anfangs hatte sie es noch etwas cool gefunden, ganz alleine zuhause zu sein, aber schnell wurde es doof. Sie durfte keine Freunde mit nach Hause bringen, und wenn sie es doch tat, dann merkten ihre Eltern es abends trotzdem und sie wurde von beiden nacheinander angeschrien. Und ganz alleine in diesem großen Haus, mitten im Nirgendwo, nur weil ihre Eltern so unglaublich gerne auf dem Land wohnen wollten, um in der Stadt zu arbeiten, ... naja.
Wie oft hatte Lila darum gebettelt, in einer Wohnung in München wohnen zu dürfen, wo sie doch schon dort zur Schule gehen musste. Über eine Stunde Fahrt bis München Hauptbahnhof und von dort aus zu diesem furchtbaren, alten Kloster in diese schreckliche, katholische Mädchenschule.
Nicht dass katholisch zu sein schlecht wäre. Lila war selbst Katholikin und zwar mit Leib und Seele. Allerdings gab es manchmal Momente, da wünschte sie sich, katholisch zu sein wäre etwas leichter... zum Beispiel bei dieser Geschichte mit Woelki, diesem armseligen Tölpel. Und auch der Papst regte Lila manchmal auf - vor allem als er mit einem einzigen, kurzen Statement den synodalen Weg quasi ins Abseits schoss.
Diese absolute Destruktivität der Institution war ihr zuwider. Der Papst, die Erzbischöfe und Kardinäle, sie alle standen für Verkommenheit, Überheblichkeit und alternden Größenwahn, dabei war es doch so, wie Tante Lilly immer gesagt hatte: »Die Kirche steht nicht nur in Rom, sondern auch im Dorf.«
Lila war noch nie in Rom gewesen und allein wegen des Papstes hatte sie sich geschworen, diese Stadt nie zu betreten. Dabei kam ihr natürlich entgegen, dass ihre Eltern sowieso immer arbeiteten und ein Urlaub nicht infrage zu kommen schien. Egal wo.
So hatte sich Lila schon voll darauf eingestellt, den Großteil ihrer Ferien bei Freunden in München und sonst alleine im riesigen Landsitz der Familie zu verbringen. Im Grunde wäre ihr das ganz recht gewesen, doch die letzten drei Schulwochen hatten diese Sommerferien zerstört.
Es begann damit, dass Julian sich outete. Ja, Julian. Julian war nämlich ein Transmann und nach sechs Jahren an einem katholischen Mädchengymnasium in München hatte er sich allen Einschüchterungsmethoden der Nonnen und der Kirche zum Trotz vor seinen engsten Freunden als trans geoutet. Und Lila gehörte zu diesen engsten Freunden.
Sie hatten sich schon damals in der fünften Klasse, bei der Einschulung gemocht. Damals waren sie einander von ihren Eltern als Julia Emilia und Liliana vorgestellt worden, doch schon in der ersten Pause auf dem Hof hatte Lila gesagt, dass Julia sie Lila und niemals anders nennen sollte und Julia hatte geantwortet, dass sie den Namen Emilia voll doof fand.
Mit der Zeit war um sie herum eine kleine Gruppe entstanden. Ein fester Kern und einige, die mal mehr und mal weniger dabei waren, die die Lehrerinnen und die Nonnen ständig zur Weißglut trieben. Schon in der siebten Klasse waren sie gemeinsam in Nonnenkostümen und mit einer großen Regenbogenflagge auf den CSD in München gegangen.
Lustigerweise war dieses Event so Kirchenfern, dass das niemals aufgeflogen wäre, wenn ihre Freundin Amelie nicht den ganzen Tag auf Instagram dokumentiert hätte.
So schnell wie die Bilder die Runde erst in der Schüler- und dann in der Elternschaft machten, so heftig fiel die Bestrafung durch die Nonnen aus, die derlei Frevel und ungehobeltes Verhalten nicht dulden wollten - und dabei von den meisten Eltern unterstützt worden waren.
Doch weder Toilettenputzen, noch lange Nachtschichten im Küchendienst oder andere antiquierte Bestrafungsmethoden der Nonnen konnte den festen Kern der Gruppe aufhalten, ständig für die eigene Meinung einzutreten, wobei Lila und ihre Freundinnen und Julian den Nonnen nur zu gerne auf den Schlips traten. Es war manchmal sogar ein großer Spaß, die Bestrafungen gemeinsam absitzen zu müssen und sie wegen mangelnder Aufsicht zum eigenen Vergnügen umgestalten zu können.
Doch mit Julians Outing hatten sie wohl einen Nerv bei der Äbtissin getroffen. Auch wenn es eigentlich nicht für andere Ohren bestimmt war, machte dieses Outing natürlich trotzdem die Runde und kam der Schulleitung und der Äbtissin noch schneller zu Ohren als die Regenbogenflaggen auf den Schultoiletten, die sie einst aufgehängt hatten.
Lila, die Julian nicht alleine zur Schulleitung gehen lassen wollte, musste erst ein heftiges Wortgefecht mit der Äbtissin ausfechten, die den weinenden Julian zuvor mächtig heruntergeputzt hatte, und anschließend ihren besten Freund wieder aufbauen. Amelie und zwei andere, die Lila und Julian dann fanden, regten sich dann mächtig auf und begannen fast sofort, einen Racheplan zu schmieden, der sie alle am Ende fast von der Schule fliegen lassen sollte.
Natürlich waren die Eltern sofort kontaktiert worden, was dazu führte, dass Julian für die letzten Wochen gar nicht mehr zur Schule kam. Die anderen, die sich nicht unterkriegen lassen wollten, rebellierten dann gegen Schule und Eltern und wurden der Reihe nach suspendiert.
Amelie hatte eines Morgens von einem intensiven Gespräch mit ihrer Mutter erzählt, die sie wohl grundsätzlich unterstützte, doch ihre Methoden nicht guthieß. Lila dagegen hörte zu dem ganzen Thema genau einen Satz von ihrer Mutter: »Liliana, Schatz, ich hab da eine Mail von der Schule bekommen, dass du dich daneben benimmst. Stimmt das?«
Mit Lilas unwirschem »Nein« war das Thema dann beendet und begraben.
Zwei Wochen vor den Ferien platzte die Bombe dann, weil Lila als letzte noch im Unterricht saß und die Lehrer mit ständigen Unterbrechungen so sehr nervte, dass sie schließlich - weil sie selbstverständlich nicht freiwillig ging - zur Rektorin und zur Äbtissin geschleift wurde.
Dort war zu Lilas Verwunderung schon ihre Mutter, die sich sehr teilnahmslos anhörte, was die Rektorin und die Äbtissin ihr erzählten. Zum Ende machte die Rektorin dann ein Angebot: Entweder würde Lila von der Schule fliegen, oder sie würde für die letzten zwei Wochen suspendiert und für die gesamte Dauer von acht Wochen bis zum Schulstart im nächsten Schuljahr im Kloster Heinebrück untergebracht. Die Äbtissin schwärmte Lilas Mutter etwas von dem Kloster vor und die stimmte sofort zu.
Auf der Autofahrt war es mucksmäuschenstill. Zuhause sagte Lilas Mutter nur: »Pack dir ein paar Klamotten ein. Dein Handy und dein Laptop bleiben hier.«
Tatsächlich kontrollierte sie, dass alle Geräte in Lilas Zimmer stehen blieben und sackte das Handy höchstpersönlich ein, bevor sie Lilas gepackte Tasche in den Kofferraum verfrachtete und auffordernd zur Beifahrertür nickte. »Auf geht's!«
Eine halbe Stunde Autofahrt später waren sie im Kloster und eine Viertelstunde danach wurde Lila ihr Bett gezeigt. Zu diesem Zeitpunkt war Lilas Mutter schon wieder auf dem Weg nach München, um so schnell wie möglich zurück zum Arbeitsplatz zu kommen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro