Prolog
»There's a Mr. Hyde for every happy Jekyll face, a dark face on the other side of the mirror.«
Stephen King
Einsame Stille umhüllt Lime Regis wie jede Nacht.
Nur das sanfte Zischeln des Windes und die brechenden Wellen des Meeres sind zu hören.
Auf den ersten Blick wirkt alles wie immer. Nur, dass das Böse in dieser verhängnisvollen Nacht unter den Küstenbewohnern wandelt.
Beinahe lautlos bewegt der Maskierte sich über den säuberlich gepflasterten Untergrund. Nur das monotone Klacken seines schwarzen Gehstockes, an dessen Spitze ein goldener Knubbel thront, durchschneidet die Stille des verschlafenen Küstenortes.
Mit langem, elegantem Schritt schreitet er mit seiner hochgewachsenen und aufrechten Gestalt vorbei an verdunkelten Fenstern und verlassenen Häusern.
Keine Menschenseele begegnet ihm auf seinem Weg.
Die Bewohner von Lime Regis schlafen tief und fest, während dicht an ihren Hauswänden der Teufel geschmückt mit einem langen, dunklen Mantel, einem schwarzen Zylinder und einer weißen, ausdruckslosen Maske fröhlich leise pfeifend in Richtung Strand spaziert.
In seiner mit Leder behandschuhten Hand wiegt er eine männliche Puppe mit kurzem, blonden Haar durch die Stille der mit Nebel verhangenen Februarnacht.
Es ist so kalt, dass feiner Rauch aus seinem Mund dringt und sich mit der Dunkelheit vermischt. Die Partikel des Bösen verätzen den Ort und hinterlassen eine tiefe Brandnarbe, die keiner jemals wieder zu heilen vermag.
Nur der Sternenhimmel ist Zeuge von der grausamen Schandtat, die sich heute Nacht in einem Niemandsdorf wie Lime Regis, im Süden von England, zugetragen hat.
Als der Maskierte am Strand von Lyme Bay ankommt, durchzuckt eine tiefe Befriedigung seinen gesamten Körper. Wohlige Schauder fahren ihm den Rücken hinunter. Genussvoll legt er den Kopf in den Nacken und saugt den heranwehenden Duft des Todes in sich auf.
Auch der Wind nimmt stärker zu, als bäume sich die Natur gegen ein solch widerwärtiges Geschöpf wie ihn auf.
Er strafft seine Schultern und bewegt sich mit größter Vorfreude auf das, was noch kommen wird, zu. Dabei hält er den Blick geradewegs auf die brachialen Felsen gerichtet, bei denen sich sein Ziel befindet.
Wie ein unheilvolles Omen verpestet er den friedlichen Ort mit seiner Präsenz. Als er schließlich eine kleine Gestalt perfekt drapiert an einem großen Stein gelehnt vorfindet, lächelt er.
Wahrlich ein Kunstwerk, bewundert er die Tat des Anderen, während er gierig den Anblick des toten Jungen in sich aufsaugt.
Seine Fingerspitzen zucken voller Vorfreude.
Nun fehlt nur noch die Trophäe.
Unheilvoll beugt sich der große Schatten zu der Erscheinung hinunter. Seine Mundwinkel verziehen sich zu einer von Fanatismus gezeichneten Maske des Wahnsinns, als er die eiskalte, bläulich gefärbte Hand des toten Kindes anhebt und die Puppe fein säuberlich unter seinen Arm klemmt.
Sein Blick heftet sich dabei automatisch auf die Brusttasche des Jungen, aus der eine goldene Taschenuhr hervorlugt. Der Maskierte nimmt sie in seine Hand und kontrolliert, ob der Andere seine Anweisungen ausgeführt hat.
Die Zeiger stehen auf 12:02 Uhr – so, wie er es in Auftrag gegeben hat.
Die Strippen sind gezogen und befinden sich fest in seiner Hand.
Mit dem Hang zur perfiden Perfektion legt er die Uhr gut sichtbar zurück in die kleine Brusttasche.
Er nimmt sich noch einen Moment Zeit, den Jungen zu betrachten.
Kein Mitgefühl regt sich in ihm. Mit keiner Faser seines Seins kommt es ihm in den Sinn, dass sein Verhalten abgrundtief verstörend und von Brutalität kaum zu übertreffen ist. Stattdessen erfüllt ihn ein anderes, viel stärkeres berauschenderes Gefühl.
Die unbändige Gier nach Vergeltung.
Er ist sich sicher, dass er nur auf diesem Weg seine Wahrheit finden wird.
Die Schattengestalt erhebt sich langsam, während ein starker Windzug seinen Mantel aufbäumt.
Er wendet sich ab und schreitet zurück nach Lime Regis, wo er unter all den Bewohnern spurlos verschwinden wird.
Denn seine Aufgabe ist fürs Erste erfüllt.
Der Bote ist geboren.
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