Kapitel 5: Das Monster in der Dunkelheit
Es dauert nur zehn Minuten, bis Wilson Montgomery von oben bis unten durchnässt in die Pathologie stürmt, wo Gregory Campbell bereits über den geöffneten Körper des Opfers hängt und einige Proben entnimmt.
»Ah, Detektiv. Das ging schnell. Der Sergent braucht immer eine halbe Ewigkeit bis hierher. Das liegt wahrscheinlich daran, dass er im Emma's noch den einen oder anderen Kaffee trinkt.«
Montgomery geht nicht auf seine Plauderei ein. Stattdessen stellt er sich auf der anderen Seite des Seziertisches hin, ohne dabei dem toten Jungen ins Gesicht zu schauen. Der Anblick seines aufgeschlitzten Körpers genügt ihm fürs Erste.
»Was haben Sie schon herausfinden können?«
Erneut steigt die zähe Magenflüssigkeit seine Galle hinauf.
»Wollen Sie die guten Nachrichten zuerst, wenn man es denn als solche betiteln möchte?«
Das ebene Gesicht der Brillenschlange erhellt sich sichtlich, während er ihn mit erwartungsvoller Miene anschaut. Montgomery verdreht die Augen und macht eine einfache, auffordernde Handbewegung, dass er fortfahren soll.
»Ich konnte in seinem Blut Rückstände von Chloroform feststellen. Das heißt, er wurde tatsächlich erst betäubt, bevor er in die Kühltruhe gesperrt wurde. Die Dosis war für das Alter des Opfers sehr hoch, sodass es nichts von der ganzen Situation mitbekommen haben dürfte. Wenn Sie das beruhigt, kann man sagen, er ist ohne Schmerzen gestorben.«
Noch etwas, was die Kindermorde in Bristol mit diesem hier gemeinsam haben. Auch sie wurden mit Chloroform betäubt, ehe der Mörder sie bei lebendigem Leib eingefroren hat.
»Das macht die Angelegenheit nicht besser, aber es hilft mir bei meinen Ermittlungen weiter. Gute Arbeit.«
Campbell grinst über beide Ohren. Immerhin erhält er nicht jeden Tag ein Lob von einem hochangesehenen Detektiv.
In der kurzen Zeit, bis die Leiche bei ihm in der Pathologie angekommen ist, hat er sich kundig gemacht über Detektiv Wilson Montgomery und den Marionettenspieler-Fall.
Montgomery, Detektiv aus London. Alleinstehend, ist schnell und ohne größere Hindernisse die Karriereleiter empor gestiegen, bis er als Kommissar unter Chief Inspektor Thomas Lloyd seine Arbeit antrat. Seit zehn Jahren arbeitet er nun im Außendienst und ist spezialisiert auf Mord- und Sexualdelikte bei Kindern und Jugendlichen.
Er scheut sich nicht, in der Presse seine Meinung kundzutun. Gerade deswegen gibt es einige Berichte über ihn und seine Arbeit.
Berüchtigte Mörder wie James Lullaby, Frederick Murray oder Scott Paterson, nach denen teilweise jahrzehntelang gefahndet wurde, hat er hinter Gittern gebracht. Alle hatten sie es mit Kinderpornographie zu tun und waren Mitglieder in einem hochrangigen Zirkel, der sich dem Kindesmissbrauch verschrieben hat.
Doch einen Fall konnte der Mann mit dem spitzen Gesicht nicht aufklären.
Der Marionettenspieler hielt Bristol für zwei ganze Monate in Atem. Campbell hat damals über die Nachrichten von den grausamen Geschehnissen erfahren. Montgomery war leitender Ermittler, doch auch nach zweimonatiger Suche und einem Überlebenden konnte er den Killer nicht fassen. Er hatte keine einzige Spur, der er nachgehen konnte.
Nur eine Notiz, die drei Monate nach Beendigung des Falls in der Bristol Post aufgetaucht ist.
Bis zum nächsten Mal, Detektiv Montgomery.
In Campbells Augen ist die Botschaft klar.
Kein Wunder also, dass Montgomery vor wenigen Wochen von dem Chief Inspektor beurlaubt wurde.
Dass der Marionettenspieler nun ausgerechnet in Lime Regis zuschlägt, an dem Ort, wo der Kommissar seine Suspension verbringt, gleicht einem sehr großen Zufall.
Er scheint mit ihm zu spielen.
Und er scheint es zu lieben, gejagt zu werden.
Zumindest ist es das, was Gregory sich für seinen Teil zusammenreimt. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mörder Gefallen an der Jagd auf sich selbst finden würde. Aufmerksamkeit und Reichweite sind schon immer gängige Motive gewesen.
So wie das Opfer gut sichtbar für Strandbesucher aufrecht an dem Stein gelehnt platziert wurde, die Puppe unter seinem Arm geklemmt, deutet alles darauf hin, dass er ein Ziel verfolgt und eine bestimmte Botschaft vermitteln will.
Nur eine Sache passt nicht ins Bild eines eiskalten Psychopathen, der seine Spielchen mit der Polizei treibt.
»Da gibt es noch etwas, was ich entdeckt habe.«
Montgomery zieht die Stirn in Falten, während der junge Rechtsmediziner sich umdreht und von einem anderen Tisch eine durchsichtige kleine Tüte holt.
»Das habe ich in seinem Rachen gefunden. Ich schätze, der Täter hat es ihm in den Hals gestopft, als das Opfer bereits tot war. Es ist ein wenig verschmiert, aber dennoch gut zu entziffern. Ich weiß ja nicht, was Sie dazu sagen oder ob es eine Art Masche des Marionettenspielers ist, aber die Notiz wirft Fragen auf. Es klingt wie eine Art Hilfeschrei, wenn Sie mich fragen.«
Vorsichtig reicht Campbell ihm das Beweisstück. Der Inhalt des Beutels zeigt ein stark zerknittertes Stück abgerissenes Papier. Es sieht so aus, als wäre die Notiz nicht geplant gewesen. Als hätte sich der Täter in Eile und ohne große Vorbereitungen dazu entschieden, die Worte auf Papier zu kritzeln.
Auch die Art, wie der Zettel versteckt wurde, gibt Fragen auf.
Denn der Marionettenspieler legt seine Hinweise für die Außenwelt gut sichtbar zurecht. Er ist penibel und perfektionistisch in seinen Ausführungen. Bei ihm gibt es keinen Teil in seinem Vorgehen, der nicht bis ins Detail säuberlich geplant ist.
Auch die verschnörkelte Schrift, als sei sie sehr schnell geschrieben worden, deutet daraufhin, dass der Täter in eine Art Stresszustand verfallen ist.
Als wollte er nicht bei seiner Tat ertappt werden.
Montgomery verzieht die Augen zu schmalen Schlitzen, als er mehrmals die Worte liest, die den Fall in ein völlig neues Licht wirft.
Das fehlende Puzzleteil, was ihn in den anderen Fällen immer gefehlt hat.
»Meine größte Angst waren schon immer Monster in der Dunkelheit. Das Letzte, was ich erwartet habe, ist selbst ein Monster in der Dunkelheit zu werden. Er verfolgt mich und macht mich zu ihm. Er ist mein Schatten und ich bin seiner.«
Als er das Geschriebene leise vorliest, läuft es ihm kalt den Rücken herunter.
Eine Vorahnung beschleicht ihn.
Kalter Schweiß perlt sich auf seiner Stirn, als er Campbells stummen Blick begegnet.
»Es sind zwei, habe ich recht? Der Marionettenspieler – er ist nicht allein. Jemand hilft ihm. Und dieser jemand hat Angst vor ihm.«
Campbell macht große Augen, als er einen wehmütigen Augenblick innehält und für einen Moment nicht seine Arbeit vor sich liegen sieht, sondern das Kind, das dem Teufel zum Opfer gefallen ist.
Montgomery schweigt eisern.
Er presst die Lippen fest aufeinander, sodass sie bläulich anlaufen. Unter ihm hat sich bereits von seiner nassen Kleidung eine kleine Pfütze gebildet.
Das Summen seines Handys durchbricht schließlich die Stille. Schnell holt er es aus seiner Jackentasche und überfliegt die kurze SMS, die er soeben von Johnson erhalten hat.
Die Fallakten liegen auf Ihrem Tisch.
»Vielleicht«, erwidert Montgomery schließlich tief in Gedanken versunken. Er darf sich jedoch nicht so einfach täuschen lassen. Es könnte ein neuer Trick sein. »Oder es ist eines seiner kranken Spielchen. Schicken Sie das Beweismittel hoch ins Labor. Vielleicht hat unser möglicher Helfersjunge einen Hinweis auf seine Identität hinterlassen. Machen Sie weiter mit ihrer Arbeit. Ich muss zurück auf die Polizeistation. Falls Sie noch etwas finden sollten, rufen Sie mich sofort an.«
Campbell weiß sich nicht anders zu helfen, als aufgrund der dominanten Befehlsstimme des Detektivs vor ihm zu salutieren.
Montgomery legt bei seiner wirren Gestik den Kopf leicht schief, ehe er, ohne einen weiteren Blick auf das Opfer zu werfen, den Raum verlässt.
Hinaus in den Sturm – dort, wo der Marionettenspieler irgendwo auf ihn wartet.
Er benötigt nur einen guten Schachzug, damit sich ihm ein Weg offenbart.
Wenn es kein Teil seines perfiden Spiels ist, dann hat Montgomery ein Ass im Ärmel. Falls sie wirklich zu zweit agieren sollten, könnte es leichter sein, sie zu fassen. Das könnte auch erklären, warum er in London und Bristol nie einen Hinweis auf ihn gefunden hatte. Ganz einfach, er hatte immer nur nach einer Person gefahndet. Niemals nach zwei Tätern.
Während der Detektiv zu seinem Wagen läuft, spürt er den Regen, der auf seinen langen Mantel prasselt, kaum.
Ein plötzliches Hochgefühl überkommt ihn, als er bemerkt, wie seine Mundwinkel sich leicht anheben, während er ins Auto steigt und den Motor anlässt.
Doch dieses überschwängliche Gefühl ist nur von sehr kurzer Dauer.
Ein seltsames Prickeln im Nacken lässt ihn innehalten.
Als würde er magisch vom Rückspiegel angezogen werden, trifft sein Blick für einen Moment seine eigenen eisblauen Augen.
Doch das ist nicht alles.
Denn auf seiner Rückbank sitzt ein Mann mit weißer Maske und einem schwarzen Mantel, der leicht den Kopf nach links neigt und ihn hämisch angrinst.
Sein Herz setzt einen Schlag aus.
Aus reinem Reflex schließt er die Augen. Kalter Schweiß läuft ihm das Rückgrat hinab, während sein Körper beginnt unter der nassen Kleidung zu zittern. Er öffnet sie erst wieder, als er sich sicher ist, dass das, was er im Rückspiegel gesehen hat, nicht der Realität entspricht und sein übermüdeter Geist ihm einen Streich spielt.
Wie schon einmal.
Denn als er sich schließlich mit klopfendem Herzen umdreht, ist da niemand.
Nur er und der Regen, der unaufhaltsam auf seine Scheiben trommelt.
Nichts ahnend, dass das, was er gesehen hat, kein Bild seiner Fantasie war, sondern die grausame Realität.
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