Kapitel II
»Wie storniert?«, schreie ich.
»Es tut mir leid, aber der Zug fährt heute nicht mehr. Er fährt die ganze nächste Woche nicht, aber wir können Ihnen ein ermäßigtes Ticket-«
»Hören Sie mir mal gut zu«, falle ich dem Angestellten ins Wort.
»Seit einem halben Jahr plane ich diese Reise, um den beschissenen Wunsch meiner Freundin zu erfüllen. Und ich hab keinen Bock darauf, hier mir ihre scheiße anzuhören. Ich will kein neuen Ticket, ich will jetzt in diesen scheiß Zug-« Ich schreie und weine. Plötzlich packt mich jemand am Arm.
»Hey, beruhig dich. Komm mit...« Es ist der Typ von vorhin. Sein Griff ist fest, aber tut nicht weh. In seiner Stimme liegt nun etwas sanftes, was mich etwas beruhigt. Er zieht mich weg vom Infoschalter Richtung Parkplatz.
Er läuft auf einen dunkelroten Jeep zu, öffnet die Fahrertür und setzt sich vors Lenkrad. Ich bleibe angewurzelt stehen.
»Worauf wartest du? Steig ein«, befiehlt er.
Ich bin wirklich naiv. Ich steige in ein fremdes Auto, mit einem fremden Fahrer zu einem fremden Haus. Doch die ganze Zeit hab ich kein einziges Mal Angst.
»Das ist meine bescheidene Bude.« Er öffnet die Haustür. Es ist wirklich klein, aber gemütlich. Ich trete vorsichtig einen Schritt ins Haus.
»Du hast sicher Hunger. Ich mach die Nudeln von gestern warm.«
Ich lege meinen Schal ab. »Warum bist du auf einmal so nett?«, frage ich vorsichtig, während ich den Reißverschluss meiner Jacke öffnen und ausziehe.
»Ich werde dich begleiten.«
Ich lasse die Jacke auf den Boden fallen, starre ihn an. »Soll das ein Witz sein?«
Er schüttelt den Kopf und geht auf mich zu. »Und was, wenn ich nicht will, dass du mitgehst?« Denn das will ich nicht.
Er geht noch einen Schritt auf mich zu. In diesem Moment fällt mir auf, dass ich ganz nah an der Wand stehe. Er stellt sich vor mich, die Arme gehen die Wand gestützt.
»Vergiss nicht, dass du dich hier gerade in meinem Haus befindest«, raunt er. Panik schießt wie ein Pfeil durch meinen Körper und bevor ich mich versah, lag er auch schon am Boden.
»Fuck! Wofür war das denn?«, wimmert er. Seine Hände bedecken den Bereich zwischen seinen Beinen. Ich reiße die Augen auf. Hab ich? Ich hab.
Sofort werfe ich mich vor ihn auf die Knie und schaue auf seinen... Ja... Sein... Ding. Oder vielmehr das, was jetzt noch davon übrig ist.
»Tut mir leid, das wollte ich nicht. Es ist nur, dass ich...«
»Mensch Tori.« Ich schnappe nach Luft.
Vorsichtig rutsche ich wieder etwas zurück gegen die Wand.
»Woher kennst du meinen Namen?« Meine Stimme zittert. Ich beiße mir auf die Lippen um nicht wieder zu weinen.
»Du bist doch Tori oder?«, fragt er. Man sieht ihm an, dass er Schmerzen hat.
»Eines nach dem anderen. Wärst du bitte so nett, mir nen Beutel Eis aus dem Gefrierfach zu holen?«
Perplex stehe ich auf und öffne seinen Kühlschrank.
»Unten«, zischt er. Ich öffne das Fach und hole einen Beutel Eis heraus, wickle es in ein Geschirrtuch, was neben der Spüle liegt. Anschließend kniee ich mich wieder vor ihn, lege vorsichtig das Eis zwischen seine Beine. Er beißt sich auf die Lippe und zieht scharf die Luft ein.
»Kaitlyn hat...« Ich gebe ihm eine Ohrfeige. »Wag es ja nicht ihren Namen in den Mund zu nehmen.« Wütend richtet sich sein Blick auf mich, aber ich habe keine Angst. Dadurch, dass ich seine Eier zersplittert habe, ist er erstmal ungefährlich für mich.
»Könnte ich bitte erstmal aussprechen, bevor du mich nochmehr zurichtest.« Es ist mehr eine Aussage als eine Frage. Ich nicke.
»Sie hat mich beauftragt dich zu begleiten. Schau mal da in die Schublade«, sagt er und deutet mit seinen Kopf auf die Kommode. Ich stoße mich vom Boden ab und gehe vorsichtig auf die Kommode zu. Ich öffne die Schublade. Darin liegt ein karriertes Blatt, was vermutlich aus einem Block gerissen wurde, zusammengefaltet und zerknittert.
»Les.«
Ich schlucke. Und nehme das Blatt hinaus. Als ich es öffne, erkenne ich sofort, dass es ihre Schrift ist. Da ich Angst habe, gleich zusammenzubrechen, halte ich mich an der Couch gegenüber fest.
Hey Kayden,
Ich wünschte ich hätte mehr Tage mit dir gehabt, mit jedem.
Aber ganz besonders mit dir und meiner Freundin.
Sie ist wunderschön. Ihre grünen Augen sehen aus wie meine Lieblingsgummibärchen, ihre Stimme ist zart und zerbrechlich, sowie der Rest von ihr. Sie ist wirklich zerbrechlich. Nicht körperlich, sondern emotional. Sie weint viel. Sehr viel. Wenn sie Angst bekommt, schlägt sie um sich, genauso wenn sie wütend ist. Ich finde das süß^^
Sie wird meinen letzten Wunsch erfüllen wollen, ja den Wunsch. Du sagstes, es ist unmöglich allein diese Reise zu schaffen. Und ich glaube du hast recht. Deshalb wirst du sie begleiten. Versprich mir, auf meine Kleine aufzupassen und damit abschließen zu können. Ich wünschte ich könnte auch mitgehen, aber manche wünsche sollten nur von bestimmen Leuten erfüllt werden. Noch was:
Ich weiß, du magst keine Gefühlsdusselein, aber wenn sie weint, nimm sie in den Arm. Zeig ihr, dass du für sie da bist. Bitte.
Ich möchte nicht, dass sie glaubt, sie wäre allein.
Danke Kayden. Danke für die tolle Zeit. Und mir ihr wirst du auch eine tolle haben, das verspreche ich dir.
Leb wohl,
Kaitlyn
Ich falle auf die Knie, drücke den Brief gegen meine Brust. Der Junge, der jetzt einen Namen hat, kennt Kaitlyn. Ich weine. Mir war es egal, dass ich hier gerade in einem fremden Haus bin, ich weine einfach. Ich bemerke nicht, wie Kayden aufsteht und zu mir geht. Ich bemerke auch nicht, wie er mich in den Arm wirft und mir zuflüstert, dass es okay ist und er für mich da ist.
Und ich bemerke auch nicht, dass er auch beginnt zu weinen.
Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn als ich meine Augen öffne, liege ich in einem fremden Zimmer auf einem fremden Bett. Ich stehe auf und öffne die Tür.
Ich sehe, wie Kayden auf der Couch sitzt und irgendein Videospiel spielt.
»Ausgeschlafen? Du warst schließlich ziemlich lange wach«, sagt er.
Ich nicke und strecke mich. Ich wundere mich über mich selbst, dass ich es nicht seltsam finde, im Bett eines fremden Jungen geschlafen zu haben.
»Wie spät ist es?«, frage ich.
»Kurz vor sieben«, antwortet Kayden.
Mein Magen knurrt. »Ich hab Hunger...«, sage ich vorsichtig. Er legt den Controller beiseite, erhebt sich von der Couch und schländert in die Küchenecke.
»Setz dich«, weist er mich an und zeigt auf einen der Barhocker.
»Wonach ist der Dame denn? Wie wäre es mit Nudeln? Hab aber leider keine Soße mehr.« Er lacht.
»Nudeln klingen gut«, flüstere ich. Kayden dreht sich um und wendet sich der Küche zu. Aus dem unteren Schrank holt er eine Topf, füllt Wasser hinein, macht den Herd an. Als nächstes holt er eine Packung Nudeln aus dem Schrank und sieht mich an, dabei mustert er mich von oben bis unten, legt den Kopf schief. Dann nickt er und kippt ungefähr die halbe Packung in das Wasser.
»Was war das gerade?«, frage ich.
»Ich hab geschaut, wieviel du isst.«
Ich weiß immer noch nicht, was er meint, lasse es aber auf sich beruhen.
»Wir sollten anfangen, zu planen, was wir alles brauchen, damit ich morgen einkaufen gehen kann.«
Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, nicke ich einfach.
»Und wie stellst du dir das vor?«
»Ganz einfach«, beginnt Kayden zu erzählen. »Wir nehmen mein altes Baby. Damit sollten wir die Strecke gut hinbekommen, wenn wir an genug Tankstellen vorbei kommen. Wenn nicht, dann heißt es wohl oder übel laufen. Aber ich denke nicht dass wir zweiteres tun.«
Wieder nicke ich. Klingt vernünftig (Sofern ich noch sagen kann, was vernünftig ist).
Ein paar Minuten sind die Nudeln auch schon fertig.
»Gut oder?«, lobt er sich selbst. Ich verdrehe die Augen.
»Bei Nudeln kann man nicht allzu viel falsch machen«, gebe ich zurück.
»Lass uns bereits morgen früh aufbrechen.« Er sieht mich an. »Bitte.« Kayden legt seine Gabel auf die Unterlage.
»Das heißt, wir gehen morgen früh einkaufen und dann gleich los?«
Ich nicke.
Eine Weile sagt wieder niemand etwas. Als ich meinen Teller in die Spüle legen will, sehe ich, dass schon ein Haufen anderes Geschirr darinliegt.
»Ich habs nicht so mit Abwasch...«
»Ach wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen«, witzel ich.
Ich drehe den Wasserhahn auf. Kippe Spülmittel dazu. Wasche ab. Nach ein paar Tellern stellt sich Kayden neben mich, beginnt, abzutrocknen.
Kayden öffnet den Schrank über mir. Dabei stellt er sich hinter mich, ich fühle mich unwohl. Ich schlucke und schiebe ihn nach hinten.
»Was ist?«, fragt er.
»Du bist mir zu nah«, antworte ich.
»Was ist daran so schlimm?«
Ich gerate ins stottern.
»Ich... Also, ich... Nicht auf diese Art...«
»Findest du mich etwa unattraktiv?«
»Nein!«, platzt es aus mir heraus. »Ich finde dich sogar sehr attraktiv, nur... Abstand.«
Ich hole das Tagebuch aus meiner Tasche.
»Ich werde etwas lesen.« In mir brodelt es, ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen.
»In meinem Zimmer?«
»Ja. Ich schlafe heute in deinem Bett und du auf der Couch. Und wag es ja nicht, zu spannen!«, rufe ich und knalle seine Zimmertür vor seiner Nase zu.
Eigentlich ist es nicht fair von mir, sein Bett in Anspruch zu nehmen, aber was ist schon fair?
Ist es etwa fair, dass Kaitlyn starb?
27. Mai 2018
Liebes Tagebuch,
Ich hab ne Glatze. Yuhu.... Nein, Spaß beiseite. Die letzten Tage waren die Hölle. Es hatte sich Wasser in meiner Lunge gesammelt, was dann drangiert wurde. Oder wie auch immer das heißt. (Sie haben das Wasser aus meiner Lunge durch einen Schlauch in einen Beutel befördert. Tori habe ich seit Tagen nicht gesehen. Ich möchte ihr den Anblick ersparen. Übermorgen darf ich wieder nach Hause. Wünsch mir Glück, dass das auch so bleibt.
Es tut mir leid Kaitlyn. Ich habe dich so gesehen. Nur hast du gerade geschlafen. Es war wirklich kein schöner Anblick; sie sah ziemlich tot aus. Aber nur ziemlich und nicht total. Trotzdem kein schöner Anblick.
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