Kapitel I
Ich falte das Papier zweimal. Vorsichtig öffne ich die Schublade und lege den Brief hinein. Anschließend nehme ich meinen Rucksack auf den Rücken und sperre die Haustür auf.
Ein letztes Mal schweift mein Blick durch das Haus; es ist dunkel und unheimlich still. Ein kurzen Moment zögere ich, doch mein Entschluss steht fest. Ich trete nach draußen und sperre die Tür wieder ab. Den Schlüssel stecke ich in meine linke Hosentasche.
Der Nachhimmel ist klar, die Sterne leuchten mit den Laternen um die Wette. Der Mond ist vollständig zu sehen. Ich atme tief durch. Bevor ich es mir anders überlegen kann, laufe ich los Richtung Bushaltestelle.
Ich setze mich auf die Bank und schaue mich nach dem Bus Nummer zweiundvierzig um. Nach circa zehn Minuten kommt er auch schon gefahren. Ich stehe auf und winke, um dem Fahrer zu signalisieren, dass ich mitfahren will. Der Bus hält und ein Mann Mitte dreißig grinst mich an.
»Na sieh mal einer an. Was hat eine junge Dame wie du nur so spät noch unterwegs? Du haust doch wohl nicht von zuhause ab?«, lacht er. Ich bleibe unschlüssig vor der Tür stehen, traue mich nicht einzusteigen.
»Komm rein. Wohin geht's?«, fragt der Fahrer.
»Zum Hauptbahnhof«, antworte ich. Erstaunt schaut der Kerl mich an. Ich starre zurück. Er sieht gut aus, für sein Alter. Trotz seines Dreitagebarts sieht er gepflegt aus, sein Lachen ist ansteckend. Schon schießen mir viele Fragen in den Kopf.
Wer ist er? Wie ist sein Name? Hat er eine Frau oder sogar Kinder?
Ich steige die Stufen nach oben.
Er tippt etwas in den Kasten ein und löst das Ticket. »Das macht dann zwei Dollar achtzig.«
Ich krame in meiner Jackentasche nach meinem Geldbeutel, suche das Geld zusammen. Er übergibt mir das Ticket.
Ich setze mich vorne in den Doppelsitz vor der Vordertür. Meinen Rucksack stelle ich auf dem Sitz im Gang, ich selbst setze mich ans Fenster. In der Scheibe spiegelt sich das innere im Bus so stark, dass man draußen kaum was erkennt. Der Mann dimmt das Licht. Einen kurzen Moment zucke ich zusammen doch er beruhigt mich gleich. »Keine Angst, ich denke bloß so siehst du ein wenig die leere und traurige Einöde.« Ich lache.
Die Tür schließt.
Wir beginnen zu fahren. »Ich bekomme selten Gesellschaft von einer jungen Dame. Meistens fahre ich betrunkene Jugendliche.« Er macht eine Pause.
Ich krame mein Handy aus dem Rucksack. Keine neuen Nachrichten. Sie haben es also noch nicht gemerkt. Ich bin erleichtert.
Er schaut mich im Rückspiegel an. »Du erinnerst mich an meine Tochter.«
»Sie haben eine Tochter?«, frage ich nach.
Er hält drei Finger hoch. »Drei. Meine Große und zwei kleine Zwillinge.« Er seufzt. »Leider sehe ich sie kaum. Wenn sie ins Bett gehen muss ich zur Arbeit und komme nach Hause, wenn sie schon in der Schule sind. Und dann schlafe ich am Nachmittag.« Er seufzt ein zweites Mal.
»Klar gibt es Ausnahmen, dennoch sind sie viel zu selten.«
Aufmerksam höre ich zu. Wenn es eines gibt, was ich kann, dann das. Ich höre oft einfach zu, sage nichts.
Auch ihr habe ich immer zugehört.
»Du sprichst nicht viel, was?« Ich schüttel den Kopf. Da mir einfällt, dass er auf die Straße schaut, sage ich nein.
Eine Weile herrscht Stille und ich beschließe, mir die Fahrt mit lesen zu verkürzten. Ich öffne den Reißverschluss meines Rucksacks und ziehe ein blaues Buch heraus. Auf dem Umschlag fliegen violette Schmetterlinge aus der linken Ecke über den Einband. In weißer Schrift steht groß Diary in der Mitte der Vorderseite. Ich schlage es auf.
Das Licht reicht gerade noch aus, um die Tinte auf dem Papier zu erkennen.
Die Worte am linken Rand habe ich schon unzählige male gelesen, habe sie in mein Gehirn gebrannt. Die Tinte ist schon etwas verschmiert.
27. Dezember 2018
Hey.
Dieses Buch widme ich einer ganz besonderen Person. Tut mir leid, Mom und Dad. Aber ihr seid leider nicht gemeint. Ich liebe euch. Wirklich. Ich danke euch für alles, was ich für mich getan habt. Es gibt keine bessere Mutter auf der ganzen weiten Welt und keinen besseren Vater als euch. Doch dieses Buch ist nicht für euch.
Es ist für meine Freundin, meine große Liebe, meine Schwester. Für mich bist du alles in einem.
Also Freundin kennengelernt, als Schwester begleitet und als Liebe geliebt.
Ich hoffe, du bist eines Tages bereit, umzublättern. Ich kenne dich. Du wirst diese Zeilen immer und immer wieder lesen, die Hand an die nächste Seite halten, zögern. Im letzten Moment ziehst du die Hand doch wieder zurück, klappst das Buch zu.
Doch wenn du so weit ist, Blätter um und lies. Bring zuende was ich beginnen wollte.
In Liebe,
Kaitlyn
Ich muss mich zusammenreißen, nicht zu weinen. Mein Kinn zittert, ich beiße mir auf die Lippe. Heute ist es soweit, heute Blätter ich um. Zitternd setze ich die Hand an. Langsam schlage ich die Seite um. Die Tinte hat eine andere Farbe, sie hat einen anderen Stift benutzt.
09. Mai 2017
Liebes Tagebuch,
Um es gleich zu sagen, ich schreibe nur Tagebuch, weil meine Ärztin Dr. Klapperarsch zu meinen Eltern sagte, es würde mir helfen, damit umzugehen (eigentlich heißt sie Frau Owell, aber ich nenne sie Klapperarsch, weil sie so dünn ist und einen fetten Arsch hat. Und eigentlich hab nicht ich den Namen erfunden, sondern meine Beste Freundin).
Als ich heute von der Schule nach Hause kam, lag da dieses blaue Buch mit der Aufschrift Diary auf dem Esszimmertisch. Daneben ein schwarzer Füller. "Für dich", sagte Mom. Ich starrte das Buch an. "Was ist das?", fragte ich. Mom sagte, dass wäre ein Tagebuch, wo ich meine Gefühle reinschreiben kann. Tja.. Und nun sitze ich nun hier, auf meinem Bett und schreibe in das Tagebuch.
»Was liest du den da?«, holt mich der Fahrer zurück in die Gegenwart. Wir stehen an einer Ampel und er hat sich zu mir gedreht. »Das Buch einer Freundin«, antworte ich. Und das ist auch nicht gelogen, zumindest teilweise.
»Ich habe früher auch immer viel gelesen, während meine Freunde alle Pokémon gespielt haben«, erzählt der Mann.
Meine Augen werden schwer, ich lehne meinen Kopf an die Fensterscheibe. »Du bist müde, was? Schlaf ruhig ein wenig, ich wecke dich, wenn wir am Bahnhof sind.«
Ich nicke und klappe das Tagebuch zu. Ich genieße die Stille und lasse mich in einen kurzen aber angenehmen Schlaf gleiten.
Als ich aufwache, brauche ich einen Augenblick, um zu verstehen, wo ich gerade bin. Mir ist warm und ich bin auf eine seltsame Art entspannt. Ich schließe meine Augen wieder und lausche der leisen Musik aus dem Radio. One day von Fade Away. Unbewusst beginne ich, die Melodie mitzusummen. Der Fahrer muss mich gehört haben, denn das Radio wird etwas lauter.
»Wir sind da.« Der Bus hält. Ich nehme meine Tasche und stehe auf. Als ich die Treppe nach unten gehe, sagt er: »Ich danke dir für diese tolle Fahrt.« Ich drehe mich um.
»Ich hab doch gar nichts gemacht?« Es ist mehr eine Frage als eine Aussage. »Doch. Du hast mir zugehört. Viel Glück auf deiner weiteren Reise.« Ich lächle ihn an und wende mich wieder dem Ausgang zu. »Warte«, ruft der Alte. Er greift unter seinen Sitz und zieht einen Schal hervor. »Nicht überall ist es Nachts so warm wie in meinem Bus. Den schenk ich dir.« Ich nehme den Schal und werfe ihn um meinen Hals. Er schaut mich schief an. »Ein bisschen groß vielleicht, aber an sonsten...«
»Danke«, flüstere ich. Der Mann nickt.
Ich trete aus dem Bus. Bleibe vor der Tür stehen, die sich im selben Augenblick schließt. Und schon fährt er weiter.
Auch wenn er es mir nicht gesagt hat, weiß ich, dass seine Tochter nicht mehr lebt. So wie er mich ansah, sah er in mir das Mädchen, zudem seine Tochter werden sollte. Ob der Schal ihr gehört hatte?
Mein Zug fährt um neun Uhr. Erneut hole ich mein Handy aus dem Rucksack. Vier Uhr. Noch fünf Stunden. Ich seufze und stecke das Handy in meine Hosentasche. Nachdem ich endlich einen Kaffeeautomaten gefunden habe, setze ich mich auf einer der Bänke. Ich nippe an meinem Kaffee und schlage das Tagebuch wieder auf. Die Laterne ist schwach, aber nah genug, um wenigstens etwas Licht auf die Seite zu werfen.
Vielleicht sollte ich zu Beginn überhaupt von mir erzählen. Ich bin Kaitlyn, 16 Jahre und ich habe vor etwa eineinhalb Wochen die Diagnose
L
ungenkrebs bekommen. 70% Heilchance. Ich habe gestern meine erste Chemo bekommen und morgen schneidet mir Tori die Haare ab. Ich freue mich drauf.
Ich lache in mich hinein. Ja, an diesen Tag erinnere ich mich noch sehr gut. Wir haben herumgealbert und allen möglichen Blödsinn mit ihren Haaren gemacht. Sie waren lang, sehr lang. Kaitlyn war immer stolz auf ihre langen Haare. Dennoch hatte sie Tränen gelacht, als ich die Schere ansetze. Wie sie diesen Tag wohl in Erinnerung hatte?
Ich blättere um.
10. Mai 2018
Hey,
Heute war ein echt lustiger Tag. Tori kam nach der Schule zu mir nach Hause, um mir die Haare abzuschneiden. Um ehrlich zu sein war ich mega traurig, meine schönen, langen Haare zu verlieren, aber auf der anderen Seite war es egoistisch von mir, wegen so etwas zu heulen. 70%... Die wachsen wieder. Also hab ich meine Angst überlacht.
Tori hatte eine Frisörschere gekauft und Gummibärchen. Ich liebe Gummibärchen. Am liebsten die grünen, denn sie erinnern mich immer an Toris giftgrünen Augen, die ich auch liebe.
Wir haben gelacht und Gummibärchen gegessen. Sie blieb bis abends. Es war ein toller Tag.
Doch als sie gegangen war, weinte ich.
Ich weinte viel. Ich ass nichts zu Abend. Verließ nicht das Bett. Ich kotzte die Gummibärchen wieder aus. Es war furchtbar.
Ich nippe an meinem inzwischen schon kaltem Kaffee. Das ist die Wahrheit.
Die ganze Wahrheit. Sie hatte immer nur ihre Angst überlacht. Die hat die Gummibärchen wieder ausgekotzt. Dinge, von denen ich nichts wusste.
Der nächste Eintrag ist erst eine Woche später.
17. Mai 2018
Meine Heilungschance war um zwanzig Prozent gesunken. Als ich das erfahren habe, hab ich geweint.
In letzter Zeit weine ich viel. Aber vor Tori lache ich. Sie weiß nicht, dass meine Heilchance gesunken ist. Ich will sie nicht belasten. Durch die Chemo bin ich müde und schlafe viel. Ich gehe seit drei Tagen nicht mehr zur Schule. Die Tumore sind noch klein, die Chemo hält sie in Schach, sie wachsen nicht und schrumpfen aber auch nicht. Krebs ist kake. Nachts hab ich jetzt so ein BiPAP, so ein Teil zum atmen. Das geht mir alles viel zu schnell. Ich hab doch die Diagnose erst vor kurzem bekommen, und schon gehe ich nicht mehr zur Schule? Ich habe Angst. Ja, ich habe Angst. Hoffentlich kommt Tori mich morgen wieder besuchen. Ich vermisse sie.
Der Kaffee ist jetzt eiskalt und ich stelle den Becher neben mich auf die Bank. Erste Sonnenstrahlen Bahnen sich ihren Weg frei und erleichtern mich das Lesen.
20. Mai 2018
Dieser Moment wenn sich unsere Hände berühren, löst bei mir ein angenehmes kribbeln im Bauch aus.
Es ist schön, Zeit mit Tori zu verbringen, aber es schmerzt auch extrem. Ich glaube, es tut noch mehr weh wie die Schmerzen vom Krebs. Sie ist meine Freundin, aber nicht meine Freundin.
Ich esse kaum. Mein Gewicht sinkt täglich. Wenn ich in den Spiegel schaue, erkenne ich mich kaum wieder. Wo ist das schöne Mädchen mit dem runden Gesicht und den langen, blonden Haaren hin? Wo ist das Mädchen, dass sich nie für ihre etwas üppigeren Körper geschämt hatte? Wo bin ich hin?
Ich sehe da nur noch ein blasses, schmales Mädchen, was mich immer nur traurig ansieht. Ich hasse es!
Ich hasse es! Warum ich? Warum...
Die Tinte ist in einigen Punkten verschwommen, als wären Tränen auf das Blatt gefallen. Dann bemerke ich auf einmal, dass ich diejenige bin, die weint. Stumm laufen mir die Tränen übers Gesicht, ich starre auf den leeren Bahngleis.
»Alles okay?« Erschrocken drehe ich mich um. Ein Kerl steht hinter mir und schaut mich interessiert an. Er ist nicht viel älter, vielleicht ein oder zwei Jahre. Auch er hat einen Rucksack auf dem Rücken und einen Kaffee in der Hand. Seine Mütze ist tief in die Stirn geschoben, sodass ich seine Augen kaum erkennen kann.
»Wie jetzt? Hats dir die Sprache verschlagen oder was?«
Ab diesen Moment weiß ich, dass ich den Typen absolut nicht leiden kann.
»Nein, alles bestens«, sage ich, beiße mir auf die Lippen um nicht wieder zu weinen.
»Dann heul net rum!«, knurrt der Typ.
Ich balle meine Faust zusammen, atme tief durch. Als nächstes stelle ich den Becher auf die Bank und packe das Tagebuch zurück in den Rucksack. Während ich den Reißverschluss wieder schließe, spüre ich, wie etwas in meiner Hosentasche vibriert und mir wird eiskalt. Mom.
Schnell ziehe ich mein Handy aus der Tasche und drücke auf annehmen.
»Ja?«, frage ich ganz vorsichtig. Ein erleichtertes aufatmen am anderen Ende ist zu hören.
«Schatz, wo bist du?»
»Am Bahnhof«, antworte ich wahrheitsgemäß.
«Wann fährt dein Zug?»
»Um neun.«
«Ich bin so erleichtert, dass es dir gut geht. Versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Dein Vater und ich sind uns sicher, dass du das richtige tust. Aber bitte komm heil zurück nach Hause...»
Nachdem meine Mutter mir einen ewig langen Vortag darüber gehalten hat, wie sehr sie mich liebt und sie mir vertraut, lege ich auf und starre auf den Bahngleis.
»Sag mal, du heulst ja schonwieder«, sagt der Typ.
Ich sage nichts und starre weiter auf den Gleis.
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