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Der kleine Nasenbär hatte es sich auf einem dicken Kissen gemütlich gemacht, das er in der obersten Schublade der Kommode gefunden hatte, und sein Opa saß in einem alten Sessel, den er unter einer weißen Tischdecke hervorgezaubert hatte.
"Los, Opa, du wolltest mir doch die Geschichte des Koffers erzählen!", drängelte der kleine Nasenbär und platzte beinahe vor Neugierde. Er konnte kaum ruhig sitzen, so sehr wollte er wissen, was es mit dem Koffer auf sich hatte.
Großvater Nasenbär aber rutschte erstmal in aller Seelenruhe im Sessel hin und her, holte tief Luft, räusperte sich und begann dann in seiner besten Geschichtenerzählstimme: "Als ich in deinem Alter war, habe ich den Koffer von meinem Großvater bekommen, der ihn als Kind von seinem Großvater bekommen hatte, der ihn wiederum von seinem Großvater ..."
"Jaja, ich habs verstanden", unterbrach ihn sein Enkel ungeduldig. Er kannte seinen Opa und wollte vermeiden, dass der ihm die Geschichte bis zum ersten Nasenbären zurück erzählte.
"Um auf den Punkt zu kommen, der Koffer ist für deine Brillen", sagte der alte Nasenbär leicht über die Ungeduld seines Enkels irritiert. Er erinnerte sich nur noch vage daran, wie er damals auch vor Neugierde kaum warten konnte, bis sein Großvater endlich fertig erzählt hatte.
"Brillen? Was denn für Brillen? Ich brauch doch gar keine Brille, meine Augen sind total gut", wunderte sich der kleine Nasenbär. Er verstand nicht, worauf sein Opa hinaus wollte.
"Diese Brillen sind auch nicht für deine Augen. Sie sind für deine Gefühle und Gedanken", erklärte der alte Nasenbär weiter. "Wahrscheinlich hattest du sie schon ganz oft auf und hast es nur nicht gemerkt."
Der kleine Nasenbär verstand nur Bahnhof. Gefühle und Gedanken? Klar, davon hatte er schon mal was gehört, aber was hatten denn Brillen damit zu tun?
"Es ist so", der Großvater hatte das verständnislose Gesicht seines Enkels bemerkt, "dass wir manchmal eine bestimmte Brille auf der Nase haben, durch die wir die Welt sehen. Und abhängig von der Brille nehmen wir die Welt dann anders wahr."
"Wie bei meiner blauen Sonnenbrille?", riet der kleine Nasenbär. "Da sieht die ganze Welt auch immer irgendwie ein bisschen blau aus." Er war sehr stolz auf seine Sonnenbrille, die war einfach supercool.
"Ja, so ähnlich. Nur merken wir es bei diesen besonderen Brillen oft nicht und setzen sie auch meistens nicht absichtlich auf, sondern rutschen da irgendwie rein. Aber wenn wir sie aufhaben, dann sehen wir manche Teile der Welt deutlicher und andere dafür kaum noch. Und wir denken auch etwas anders, weil uns eben manche Sachen mehr auffallen als sonst." Der alte Nasenbär kam ins Schwitzen. Ganz schön schwierig zu erklären, diese Sache mit den Brillen.
Der kleine Nasenbär rümpfte die Nase und kratzte sich am Kopf. Man konnte förmlich sehen, wie er angestrengt nachdachte. "Also, dann ist das ja so, ähm, also wenn ich eine dieser besonderen Spezialbrillen aufhabe, dann merke ich es vielleicht gar nicht, aber sie ändert die Art und Weise, wie ich die Welt sehe und verstehe?"
"Ganz genau", erwiderte sein Opa erleichtert. Der Kleine hatte es verstanden. "Es gibt ganz unterschiedliche Brillen. Durch manche sehen wir vielleicht vor allem die lustigen Dinge besonders gut, oder uns fallen vor allem die Dinge auf, die uns ärgern. Manchmal wachen wir mit einer bestimmten Brille auf, manchmal wechseln die Brillen aber auch im Lauf des Tages."
Der kleine Nasenbär nickte. Ja, das konnte er nachvollziehen. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, hatte er schon oft erlebt, dass sich seine Laune von jetzt auf gleich geändert hatte.
"Aber das ist ja total unpraktisch", überlegte der kleine Nasenbär weiter. "Ich will die Welt so sehen wie sie ist und nicht durch irgendwelche seltsamen Brillen, die alles verändern!"
Verblüfft schaute sein Großvater ihn an. Ganz schön clever, sein Enkel. Ein bisschen stolz war er schon auf ihn, noch so jung und schon so weit denken zu können! "Du hast schon recht, manchmal machen einem die Brillen das Leben ganz schön schwer. Aber ganz oft machen sie das Leben auch bunt und spannend und überhaupt erst lebenswert", beruhigte er seinen Enkel.
"Die Brillen sind nicht einfach gut oder schlecht, sondern es kommt darauf an, ob sie passen oder ob man sie richtig benutzt. Das wirst du noch lernen. Es gibt sogar eine extra Brille, die einem dabei hilft", erklärte er weiter.
Dem kleinen Nasenbär rauchte mittlerweile der Kopf. Das war ganz schön viel auf einmal. Ob er das jemals schaffen würde, mit so vielen verschiedenen Brillen umzugehen?
"Und für was ist jetzt der Koffer?", kam der kleine Nasenbär auf den Ausgangspunkt der Unterhaltung zurück. Ganz leicht spürte er die Beule an seinem Kopf noch pochen. Und der Koffer sollte wirklich für irgendetwas gut sein und nicht nur ein mögliches Wurfgeschoss?
"Da drin bewahrst du deine Brillen auf, wenn du sie gerade nicht auf der Nase hast. Wäre ja auch blöd, wenn du die immer alle in der Pfote halten müsstest. Mach ihn ruhig mal auf."
Gesagt, getan. Ganz weich und in einem sanften Rotton schimmernd war das Innere des Koffers mit Stoff bezogen und in viele einzelne Fächer unterteilt, die genau die Größe von Brillen hatten.
"Aber der ist ja leer!", empörte sich der kleine Nasenbär. So viel Gerede, und dann war keine einzige Brille in Sicht!
"Nur Geduld, du wirst deine Brillen schon noch finden. Warte nur ab, sie werden nach und nach zu dir kommen", entgegnete sein Großvater gelassen. Und genau so sollte es auch kommen.
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