~ 12 ~
Leise plätschernd bahnte sich der Bach einen Weg über die Wiese, an einer dichten Weide vorbei, deren Äste tief über dem Wasser hingen und die Welt unter ihrem Stamm vom Rest des Waldes abschirmten. Eine leichte Brise bewegte die langen, dünnen Äste leicht hin und her, und das leise Rascheln des Baumes bildete mit dem stetigen Gluckern des Baches eine sanfte Melodie.
Der kleine Nasenbär wusste nicht mehr, wie lange er schon unter der Weide saß und das Wasser beobachtete. Wahrscheinlich war es noch nicht so lange, aber ihm kam es vor wie eine Ewigkeit. Bald würde bestimmt die Sonne untergehen.
Leise seufzend bewegte er seine Pfoten im Wasser und suchte sich eine neue, nur leicht veränderte Sitzposition.
Seine Ohren waren Richtung Boden gerichtet, seine Barthaare hingen schlaff nach unten und er hatte einige neue Falten auf der Stirn. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als wöge er Tonnen, als wäre er irgendwie geschrumpft. Zusammengedrückt.
Schnell wischte er mit seiner Pfote eine Träne aus seinem Auge, die sich gerade auf den Weg seine Wange hinab hatte machen wollen. Nasenbären weinen nicht, das hatte er die großen Bären schon ganz oft sagen hören! Nur sein Opa, der sagte das nicht. Der schüttelte bei solchen Sätzen nur immer traurig den Kopf.
Ein Nasenbär kennt keinen Schmerz. Stell dich nicht so an. Andere haben es viel schlimmer als du.
Immer mehr dieser Sätze kamen ihm in den Kopf, es war als hätte er eine Lawine losgetreten mit diesem ersten Gedanken. Und jeder einzelne dieser Sätze fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube.
Angestrengt versuchte er weiter, die Tränen zu unterdrücken, bis er fast das Gefühl hatte, an dem vielen aufgestauten Wasser zu ersticken. Mittlerweile pochte sein Kopf, seine Augen fühlten sich ganz verquollen an und sein Hals wurde eng.
War es wirklich nicht okay sich so zu fühlen? Durfte er nicht traurig sein? Hatte er etwa wirklich kein Recht dazu?
Aber es tat nun mal weh!
Es war, als hätte der Gedanke den Damm brechen lassen. Immer mehr Tränen kullerten dem kleinen Nasenbär aus den Augen, und laut schniefend versuchte er sie vergeblich wegzuwischen. Ein leises Wimmern entfuhr ihm, als er sich auf die Seite legte und sich zu einem möglichst kleinen Ball zusammenrollte.
„Hey!", hörte er da eine leise, sanfte Stimme. Erschrocken setzte er sich auf. Er hatte gedacht, er wäre allein hier. Wie peinlich, hatte ihn etwa jemand weinen sehen? Schnell versuchte er, sein Gesicht trocken zu wischen.
„Hey, ist schon in Ordnung! Es ist okay, du musste dich nicht verstecken."
Wer zum Teufel sprach da? Der kleine Nasenbär war auf den Pfoten und drehte sich im Kreis. Aber außer der Weide und dem Bach war nichts zu sehen.
„Wer ist da? Zeig dich, das ist nicht lustig!"
„Ich bin es doch. Hier oben, direkt auf deiner Nase!" Was? Der kleine Nasenbär tastete mit der Pfote nach seinem Gesicht. Das war ja die Clever-Brille!
„Du kannst sprechen?" Der kleine Nasenbär konnte es nicht fassen. „Nur manchmal, und nur mit dir. Meistens bin ich nur in deinen Gedanken. Aber jetzt gerade dachte ich, ich muss mich richtig mit dir unterhalten."
„Ach ja?", raunzte der kleine Nasenbär etwas überfordert. An jedem anderen Tag hätte er sich vielleicht darüber gefreut, mit der Brille sprechen zu können, aber ausgerechnet heute? Wo sein Gesicht ganz verweint war und ihm noch dazu auch noch die Nase lief?
„Ja, ausgerechnet heute. Ich hatte das Gefühl, ich muss dir etwas sagen. Etwas wichtiges. Und ich möchte, dass du mir genau zuhörst!"
Mit einem gut hörbaren Plumps ließ kleine Nasenbär sich auf seinen Hintern fallen. Na, dann war er aber mal gespannt, was die Clever-Brille ihm so wichtiges sagen wollte. Bestimmt ging es irgendwie darum, dass er stark sein müsse und keine Schwäche zeigen dürfe oder so etwas ähnliches.
„Aber ganz im Gegenteil!", hörte er da die Clever-Brille rufen. Der kleine Nasenbär spitzte die Ohren.
„Ich wollte dir sagen, dass es okay ist, traurig zu sein. Dass du traurig sein darfst, dass du weinen darfst. Das ist keine Schande, sondern gehört manchmal zum Leben dazu."
„Aber die großen Bären sagen ganz oft, ich soll mich nicht so anstellen! Dass ich mich zusammenreißen und stark sein soll!"
„Manchmal sagen auch große Bären dumme Sachen!", ereiferte sich die Clever-Brille. Wenn der kleine Nasenbär es nicht besser gewusst hätte, hätte er gesagt, sie leuchtete richtig wütend.
„Stark sein heißt nicht, keine Gefühle zu haben! Stark sein heißt, auch manchmal traurig sein. Es heißt, sich nicht zu verstecken. Du hast das Recht darauf, dich so zu fühlen, wie du dich fühlst!"
Der kleine Nasenbär schluckte. Aber die Clever-Brille war noch nicht fertig.
„Du hast einen guten Grund, weshalb du traurig bist. Es IST traurig, und es TUT WEH! Ist das schön? Nein! Aber es ist erlaubt und vollkommen in Ordnung."
~
Auch nachdem die Clever-Brille wieder verstummt war, saß der kleine Nasenbär noch eine lange Weile unter der Weide und hörte dem Bach beim Plätschern zu. Er dachte daran, was er verloren hatte und was ihm weh tat, und er spürte den Schmerz.
Aber er wusste auch, dass das vollkommen in Ordnung war.
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