Ich verliere langsam den Verstand
„Wir brauchen dich hier", meinte ich gerade. Ich hatte meinem Großvater von den Ereignissen der letzten zwei Tage erzählt, und er erklärte sich bereit, zu uns zu kommen, um nach uns zu sehen. Das war an sich eine große Erleichterung. Der einzige Nachteil war, dass er es gerne sauber und aufgeräumt hatte, was in unserem Haus kaum möglich ist. Leise murmelte ich ein paar Worte vor mich hin, schnappte mir Staubsauger und Putztücher und machte mich an die Arbeit.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich in meiner, und damit auch in der letzten, Etage angekommen war, und ich sah Dinge, die ich besser nicht hätte sehen sollen. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich Usbekistans Fotoalbum entdeckte, in dem nur Bilder von ihm selbst waren. Auf jedem Bild versuchte er vergeblich, sexy auszusehen, doch es wirkte eher wie ein kläglicher Versuch.
Ich schüttelte mich, bevor ich den Raum von Moldawien aufgeräumt verließ. Nun war nur noch ein Raum übrig: der meines Vaters. Ich war schon oft dort gewesen, doch es fühlte sich immer noch seltsam an, die braune Holztür zu öffnen und das Zimmer zu betreten.
Die Wände waren in einem warmen Rot tapeziert, und an einer Wand stand ein großes Bett. Gegenüber dem Bett war ein großes Regal voller Bücher. In seinem Zimmer standen auch ein Schreibtisch und ein Stuhl. Der Tisch war voller Pläne für die Arbeit und Rechnungen, was mich seufzen ließ. Schnell war der Tisch aufgeräumt und das Bett neu gemacht. Mit einem Putztuch wischte ich schnell über alle Oberflächen.
Doch dann fiel mir ein Buch im Regal ins Auge. Es war in Leder gebunden und sah eigentlich ziemlich unscheinbar aus, aber es weckte meine Neugier. Verstohlen nahm ich es und legte es auf den Schreibtisch, ehe ich weiter aufräumte. Als ich fertig war, nahm ich das kleine Büchlein und schloss die Tür hinter mir. Ich lese es mir später durch, dachte ich und zog mir meine Winterschuhe zusammen mit meiner Uschanka und einem Wintermantel an. Es war vielleicht erst Herbst, dennoch war es draußen sehr kalt. Ein kleiner Windstoß wehte um mich herum, als ich wieder meine menschliche Gestalt annahm und ins Auto stieg, um zum Krankenhaus zu fahren.
Als ich dort ankam, saß nicht mehr die Frau von gestern dort, sondern eine alte Dame mit grauen Haaren, die zu einem Dutt zusammengebunden waren. Auf ihrer Knollennase saß eine Lesebrille, und sie hatte große Augenringe. „Guten Tag, Frau..." Ich sah kurz auf ihr Namensschild an ihrem Hemd. „Frau Popow, ich bin hier, um meinen Vater, Herrn Sokolow, zu sehen", meinte ich, und sie starrte mich weiter an. „Wären Sie so lieb und würden mir sagen, welche Zimmernummer er hat?" Sie schürzte kurz die Lippen, ehe sie auf ihren Computerbildschirm sah und meinte, dass mein Vater in Zimmer 65 untergebracht sei, jedoch im Koma liege. Ich solle nicht zu laut sein und, falls ich ihm schaden wolle, würde sie die Polizei rufen.
Ich nickte nur und rannte dann den weißen, nach Desinfektionsmittel riechenden Flur entlang. Rückblickend wäre es schlauer gewesen, den Fahrstuhl zu nehmen, da es doch mehr Treppen waren, als ich erwartet hatte. Schließlich stand ich jedoch vor der richtigen Tür. Meine Hand zitterte, als ich nach der Türklinke griff, und einen Moment lang bereute ich es, allein hierhergekommen zu sein. Ich hätte warten sollen, bis Anian von der Schule zurückkäme, bevor ich zu Vater gegangen wäre. Es war dumm von mir. Sollte ich vielleicht doch umdrehen? Nein! Du schaffst das!, machte ich mir selbst Mut und drückte die Türklinke herunter. Vorsichtig schlich ich ins Zimmer und ging langsam auf das Bett zu, in dem mein Vater lag. Er sah nicht so schlimm aus, wie ich gedacht hatte. Er hatte einige Schrammen an den Armen und im Gesicht, und er war mit ein paar Schläuchen verbunden, doch sonst sah er in Ordnung aus.
Sorgsam nahm ich seine große Hand in meine und hielt sie fest, jedoch nicht zu fest, um ihm nicht versehentlich zu schaden. „Ach, Papa", seufzte ich. „Wir brauchen dich wieder zurück", murmelte ich und sah in sein regloses Gesicht. „Belarus und Kasachstan werden schon ganz verrückt vor Sorge, und ich mache mir auch Sorgen um Moldawien. Komm bitte schnell wieder zu uns." Ich hielt kurz inne. Sollte ich ihm vom Buch erzählen? Er würde es ja nicht wirklich mitkriegen, oder? „Ich habe in deinem Regal ein Buch gefunden. Es sah interessant aus, also habe ich es in mein Zimmer gelegt. Ich habe vor, es mir später durchzulesen, deswegen hoffe ich, dass das okay für dich ist." Wie erwartet kam keine Antwort, und ich senkte meinen Blick auf unsere Hände. „Weißt du, ich habe auch über unser letztes Gespräch nachgedacht, falls du dich noch daran erinnern kannst. Ich denke nicht, dass ich ihm nicht vertrauen kann... Um ehrlich zu sein, denke ich...", erschöpft fuhr ich mir mit meiner freien Hand durch meine kurzen, weißen Haare. „Ich glaube, ich möchte sogar mehr als nur Freunde mit ihm sein. Ich hoffe, dass du irgendwann, wenn du wieder aufwachst, verstehst, dass er ein guter Mensch ist. Countryhumans und Menschen können gut zusammen funktionieren, wenn sich beide anstrengen!"
Mir standen Tränen in den Augen, und ich wusste nicht genau, warum, aber es war mein Zeichen, dass ich jetzt gehen musste, bevor meine Gefühle wieder die Kontrolle über mich übernehmen würden. Das wäre nicht gut. Also ging ich wieder aus dem Zimmer und warf noch einen letzten Blick auf meinen Vater, bevor ich die Tür schloss und mich wieder auf den Weg nach Hause machte.
Zu Hause angekommen, sah ich auf die Uhr. Meine kleineren Geschwister müssten bald da sein – die, die noch in die Grundschule gingen, wie Tadschikistan zum Beispiel. Langsam, aber sicher füllte sich das Haus mit Leben, als mehr und mehr meiner Geschwister nach Hause kamen und sich ihren Tätigkeiten widmeten.
Ich für meinen Teil saß auf meinem Bett und spielte auf meinem Handy, doch ich linste immer wieder zu meinem Schreibtisch rüber. Es war komisch. Ich wollte es lesen, doch ich konnte mich einfach nicht dazu überwinden.
„RUSSLAND!" rief da Belarus laut und fügte hinzu, dass Opa da sei. Schnell ging ich runter und begrüßte ihn mit einer Umarmung. Er sah mich mit seinen lilafarbenen Augen an und las förmlich in meiner Seele, als er mich anlächelte. Doch lange blieb die Aufmerksamkeit nicht auf mir, denn meine kleinsten Geschwister machten sich sofort daran, unseren Opa zu begrüßen.
Ich ging gerade die Treppe wieder hoch, als ich mein Handy klingeln hörte. Wer das wohl sein mochte? Schnell kam ich in mein Zimmer und nahm den Anruf entgegen. „Hi, Rus, wie geht's?", fragte mich Anian munter. „Gut?", gab ich zurück. „Oh, was ist los?", fragte mein Freund und klang fast schon mitleidend. „Nichts ist los... Mein Großvater passt jetzt auf uns auf, und ich war meinen Vater besuchen, ohne einen emotionalen Ausbruch zu haben", erzählte ich. „Wirklich? Das ist toll! Ich bin stolz auf dich, dass du deine Gefühle schon so gut beherrschen kannst." Ein warmes Lächeln legte sich auf meine Lippen, doch es erlosch, als ich auf meinen Schreibtisch sah.
„Du, Anian?" fragte ich ihn. „Mhm?", machte er interessiert. „Ich habe da so ein Buch gefunden. Es gehört meinem Vater. Es hat mich interessiert, also habe ich es mitgenommen, aber jetzt traue ich mich irgendwie nicht mehr, es auch nur anzufassen. Außerdem ist Moldawien immer noch nicht aufgetaucht!" Dass Moldawien immer noch verschwunden war und ich es total vergessen hatte, erschreckte mich ein wenig. „Ich muss auflegen!", rief ich in den Hörer und rannte nach unten.
Mein Großvater sah mich fragend an. „Wir müssen die Polizei rufen!", meinte ich dringend. „Moldawien ist immer noch weg!" Erst runzelte Opa die Stirn, bevor er besorgt dreinsah. Doch gerade, als er etwas sagen wollte, klingelte es an der Tür. Kasachstan öffnete sie, und zwei Polizisten standen dort. Sie sahen ernst, aber auch mitfühlend aus. Der Mann hatte kurze braune Haare und braune Augen sowie einen leichten Stoppelbart, während die Frau pechschwarzes Haar hatte, das streng nach hinten gebunden war, und Sommersprossen auf der Nase.
„Sind Sie die Familie Sokolow?", fragte der Mann. „Ja, das sind wir", antwortete mein Opa, und ich hatte gar nicht bemerkt, dass er bereits in den Flur gekommen war.
OH MEIN GOTT war das Erste, was ich dachte. WIE KANN DAS PASSIEREN war das Zweite.
Die Polizei berichtete uns über alles. Sie stellten uns viele Fragen und wollten wissen, ob uns etwas aufgefallen wäre. Brav antwortete jeder.
Doch mit der Zeit wurde es mir zu viel. Tränen traten mir in die Augen, und ich rannte schnell nach oben, holte mein Handy und nahm das Buch meines Vaters mit – irgendetwas sagte mir, dass es wichtig war – und schon rannte ich aus dem Haus. Ich wusste noch nicht, wohin, doch ich rannte einfach los.
„Anian", wimmerte ich, als ich mich in eine der Ecken unserer Jagdhütte zusammenkauerte. „Bitte komm. Ich brauche dich", flehte ich und hielt mein Handy fast so fest, dass es Risse bekam. „Wo bist du denn?", hörte ich ihn besorgt fragen, doch ich war zu betäubt, um ganze Sätze zu formen. Das Einzige, was ich sagen konnte, war „Jagdhütte" – doch es schien zu reichen, damit Anian verstand.
„Ich komme sofort, halt noch ein wenig durch."
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Ah, Leute, was soll ich sagen. Was für ein Zufall, dass ausgerechnet heute dinstag ist, und damit der Tag an dem ich meine Kapitel hochlade. Durch den ganzen fest-stress hätte ich es fast vergessen, aber hier ist es trotzdem.
Frohe Wheinachten :)
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