Kapitel 4
Sonntag 19. Juni
Der Bus hatte Verspätung. Wenn er noch lange hier stand, würde er zu spät kommen. Außerdem hatte er Muskelkater und würde sich gern hinsetzen. Er hätte gestern Abend nicht noch Sport machen sollen. Jonathan seufzte frustriert. Er sollte sich vielleicht doch ein Auto zulegen. Aber andererseits hatte er weder Zeit noch Geld, noch Lust auf die ganzen Fahrstunden und Prüfungen. Also fuhr er Bus.
Unruhig tastete er in seiner Hosentasche nach dem roten Kaktusstein – irgendwie war es beruhigend, ihn dabei zu haben. Außerdem lenkte ihn das ein bisschen von seiner Müdigkeit ab, die schon wieder mit klammen Fingern nach ihm griff.
Sein Handy vibrierte.
Routinemäßig griff er nach dem Ding und überflog die Nachricht. Es war die etwas verspätete Antwort von Huntress1602, ob sie den Wölfe mochte: ‚Ah you got me! Really? I don't wanna say ‚hate' - but I think, they are really REALLY gross. ^^' I guess, I am more the cat-person-type. :-D'
Jonathan schmunzelte. Huntress erzählte nur sehr selten etwas Persönliches. Am ehesten teilte sie Reisebilder. Besonders präsent war ihm ein Foto von Leap Castle im Sonnenuntergang in Erinnerung geblieben. Für ein angebliches Spukschloß hatte es sehr idyllisch ausgesehen. Während Jonathan noch überlegte, was er antworten sollte, glitt sein Blick über die Straße, auf der Suche nach dem Bus, der jeden Moment um die Ecke fahren müsste.
Da stockte er.
Dort, auf der anderen Straßenseite.
War das etwa-? Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen ... eine kleine Gestalt mit kurzen, dunklen Haaren ... War das wirklich ... die Frau mit den grünen Augen?
Als hätte die Frau seinen Blick gespürt, hob sie den Kopf von ihrem Handy und blickte in seine Richtung. Das war sie! Verblüfft und mit einem Hauch aufkommender Angst starrte Jonathan die Frau auf der anderen Seite an. Sie lächelte.
Dann kam der Bus und hielt direkt vor seiner Nase. Verdammt.
Rasch stieg er ein, stürzte fast an dem Busfahrer vorbei, zum Fenster hin. Doch als er wieder freie Sicht hatte, war die Straße leer. Von der Frau mit dem Handy war weit und breit nichts zu sehen.
Er war zu spät gekommen. Natürlich. Zu allem Übel fiel es ihm jetzt auch noch schwer, sich zu konzentrieren, während er die grüne Bowlingkugel in der Hand hielt.
Wieder dachte Jonathan an die Frau mit den grünen Augen.
Trotzdem: Anvisieren.
War es Zufall, dass sie gerade jetzt hier auftauchte?
Ziiiiiieeeelen.
Nur, wenn das kein Zufall war ... war es dann wegen ihm?
Loslassen!
Er hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, dass diese Möglichkeit für ihn nichts Gutes bedeuten konnte. Lieber wollte er weiterhin an seltsame Zufälle glauben.
Die Kugel rollte gezielt auf den mittleren Pin zu. Genau so, wie es sein sollte. Innerlich jubelte Jonathan. Der Sieg dieser Bowlingrunde war ihm sicher, wenn ...
„Fuck! Verdammte Scheiße!"
Die Kugel driftete ab. Nicht weit, aber weit genug. Noch bevor das Ding mit den Pins kollidierte, wusste Jonathan, dass es kein Strike werden würde. Und ohne diesen Strike in der letzten Runde war es unmöglich, Tonis Vorsprung aufzuholen.
Toni wusste das auch. Die Genugtuung im Gesicht seines Schwagers, als er einen Blick auf den Monitor mit dem Punktestand warf, sprach Bände.
Doch vor allem Tim räusperte sich vorwurfsvoll. „Onkel Jo! Sowas sagt man nicht!"
Jonathan presste die Lippen aufeinander, während Toni lachte und seinem Sohn durch die Haare wuschelte. Trotzdem griff Jonathan die nächste Kugel, um das Trauerspiel wenigstens sauber zu Ende zu bringen. Mit der Sicherheit jahrelanger Erfahrung räumte er die beiden übrig gebliebenen Pins ab. Und weil es die letzte Runde des Spiels war, bekam er einen allerletzten Wurf. Jetzt hatte er seinen Strike. Die Punkte reichten trotzdem nicht.
„Es war so knapp!", knurrte er unzufrieden mit sich selbst, als er sich neben Toni auf die halbkreisförmige Couch fallen ließ. Die Hände in den Taschen glitten seine Fingerspitzen wieder über den roten Stein. Dabei unterdrückte er ein Gähnen – jetzt wo, die Anspannung weg war, schlich sich die Müdigkeit wieder hinterrücks an ihn heran, dumme Kuh, die sie war. Außerdem taten seine Schultern noch immer weh.
Tim tätschelte ihm mitfühlend den Arm. „Nächste Mal wieder, Onkel Jo."
Jonathan lächelte schwach. „Jaja. Alles gut. Ich hab nur Muskelkater, weil ich Oma gestern bisschen geholfen habe. Und ich bin müde, weißt du? Habe das Gefühl, dass ich seit Tage nicht richtig schlafe."
„Echt? Mama sagt das auch!", murmelte Tim und betrachtete den Apfelsaft in seinen Händen nachdenklich. „Glaubst du, das kommt, weil bei Oma eingebrochen wurde? Wird jetzt auch jemand bei uns einbrechen?"
Toni und Jonathan sahen sich über Tims Kopf hinweg verdattert an. Was antwortete man darauf? Auf jeden Fall nicht, dass das kürzlich auch ihm passiert war.
„Nein, Schatz. Natürlich nicht", antwortete Toni schließlich zögerlich. „Natürlich gibt es Menschen, die bei anderen einbrechen – aber so viele sind es nun auch wieder nicht. Und ehrlich? Was sollten sie bei uns denn holen? Außer nen Fernseher und zwei Laptops haben wir doch nichts wertvolles!"
„Und eure Handys!", fügte Tim noch nachdenklich hinzu.
„Stimmt. Und die Handys. Aber sonst?"
Tim Gesicht hellte sich sofort auf: „Außerdem – wenn ein Einbrecher kommt – dann renne ich in euer Schlafzimmer, nehme dein Katana, Papa – und dann – und dann..."
Toni und Jonathan lachten. Doch dann wurde Toni wieder ernst. „Und dann machst du bitte genau das, was der Einbrecher dir sagt. Denn wichtiger, als unsere Laptops, Handys oder der Fernseher bist du. Und dass es dir gut geht."
Tim sah seinen Vater skeptisch an. „Aber-?"
„Bist du jetzt nicht dran, Tim?", unterbrach Jonathan seinen Neffen schnell. „Wir wollen doch noch die Runde schaffen, oder?"
„Oh! Natürlich!" Sofort sprang Tim von seinem Sitz auf und huschte um den Glastisch herum, um sich eine Kugel zu holen.
Jonathan bewunderte den Elan seines Neffen. Seit er vor ein paar Monaten lange genug gebettelt hatte, um zu den Spielerunden von ihm und Toni mitgehen zu dürfen, hatte er sich nicht einmal beklagt, dass seine Punkte nicht so viele waren, wie die von ihm oder seinem Papa. Denn die beiden Männer spielten trotzdem auf ihrem Niveau weiter. Stattdessen freute sich Tim jedes Mal aufs Neue auf diesen „Bowling-Männernachmittag". Doch das eigentlich Spannende war zu sehen, wieviel besser sein Neffe in so kurzer Zeit geworden war. Noch ein bisschen und er würde sie alle in die Tasche stecken.
Auch Toni musterte seinen Spross kritisch, doch in seinen Augen lag das unübersehbare Leuchten väterlichen Stolzes. Dann wandte er sich wieder an ihn: „Bei dir sind das die Nerven, Jo. Wenn du dich nicht auf den letzten Metern so aus der Ruhe bringen lassen würdest, würdest du doppelt so oft gewinnen."
Jonathan verdrehte die Augen. Dass seine Nerven eine fragile Sache waren, hatte so ziemlich jede seiner Prüfung gezeigt. Wer weiß, wie sein Notenschnitt gewesen wäre, wenn er nicht die Hälfte von dem vergessen hätte, was er fünfzehn Minuten vorher noch sicher erklären konnte? Also blinzelte er Helens Lebensgefährten über den Rand seiner Cola hinweg mürrisch an. „Ich würde immer gewinnen."
Toni grinste. „Deine Kräfte überschätzen du nicht sollst, junger Padawan. Nicht so leicht du schlägst, alte Meister."
„Warum sprichst du so komisch, Papa?", fragte sein Neffe, als er zurückkam.
Toni lachte. „Das ist an einen alten Film angelehnt." Dabei wuschelte er seinem Sohn erneut durch die Haare, ehe er zur Bowlingbahn schlenderte. Er war dran.
Jonathan schmunzelte über Tims irritierten Gesichtsausdruck. Manchmal vergaß er wirklich, wie alt diese Kinoklassiker schon waren. Gleichzeitig konnte er ein Gähnen nicht mehr unterdrücken. Er seufzte und ließ den Kopf einmal im Nacken kreisen, während seine Hände ganz automatisch nach dem Kaktusstein in seiner Tasche tasteten.
Tim musterte ihn mit dem gleichen Stirnrunzeln, das Helen immer auflegte, wenn sie irgendwem oder -was misstraute. „Was kramst du eigentlich schon wieder in deiner Tasche, Onkel Jo?"
Irritiert zog Jonathan die Hand aus der Tasche und öffnete zögerlich die Faust, sodass der kleine, rote Stein wie ein übergroßer großer Blutstropfen auf seiner Hand lag. Er hatte gar nicht gemerkt, dass seine Finger schon wieder danach getastet hatten. „Ich... äh... ich hab den hier neulich gefunden, als mir der Kaktus heruntergefallen ist", murmelte Jonathan eine ausweichende Antwort.
„Oh – du meinst den Kaktus von Oma? Da wird sie aber traurig sein."
Jonathan verzog das Gesicht gequält, sagte aber nichts und wehrte sich auch nicht, als Tim nach dem Stein griff. „Hast du den da mal eingebuddelt?"
Tim schüttelte den Kopf. „Nö. Gar nicht.... Ist der wertvoll?"
„Was habt ihr da?"
Jonathans Blick huschte zu Toni. Dann zu dem Bildschirm mit den Punkten. Es lief eine bunte Animation, in der eine Bowlingkugel als Bombe zwischen die Pins fiel und alle in kleine Teile explodierten. Toni hatte direkt einen Strike geworfen. Angeber.
Widerwillig wandte Jonathan sich ab. „Einen Stein, den ich in meinem Kaktustopf gefunden habe. Keine Ahnung, wie der da reingekommen ist."
„Darf ich mal?"
Als Tim seinem Vater den Stein reichte, hielt dieser ihn prüfend gegen das Licht. „Schick. Glaubst du, er ist irgendwas wert? Und der war in deinem Kaktustopf, ja?"
Jonathan schmunzelte, weil Toni sinngemäß gerade die gleiche Frage gestellt hatte, wie sein Sohn kurz zuvor. „Ich denke nicht – warum sollte ich einen wertvollen Stein in meinem Kaktustopf haben?"
„Auch wieder wahr. Stell dir mal vor, du würdest einem Mafiaring auf die Spur kommen, weil die ihre geklauten Edelsteine in Pflanzentöpfen verstecken!" Toni grinste, als er sich ganz offensichtlich für die Idee zu erwärmen begann und gab Jonathan den Stein zurück. „Geh doch mal zum Juwelier und frag ihn, was er zu den Stein sagt!"
Jonathan schüttelte den Kopf und verdrängte den Gedanken an die Frau mit den grünen Augen. Sie gehörte sicher nicht zu einer Mafiaorganisation – hoffte er. „Du solltest weniger Krimis lesen."
„Oder du mehr!", konterte sein Schwager belustigt.
„Aber Papa! Hast du nicht mal erzählt, dass eine Frau dir den Kaktus abkaufen wollte?"
Jonathan und Toni sahen beide abermals sprachlos zu Tim.
Dann zwang sich Jonathan, wieder betont gleichgültig zu seinem Schwager zu gucken. „Was ist denn da gelaufen?", hakte er mit einem Hauch von Ungeduld nach – er würde lügen, wenn er behaupten würde, dass es ihn nicht interessieren würde.
Doch Toni zuckte nur mit den Achseln. „Ach – das ist schon ewig her. Ein Jahr, zwei Jahre? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich hab auf Arbeit mal so eine junge Frau getroffen, die anscheinend eine Leidenschaft für Pflanzen hatte. Und wir kamen ins Gespräch und ich hab von unserem Kaktus erzählt... Sie wollte ihn mir wirklich abkaufen!" Jetzt, wo Toni davon sprach, schüttelte er selbst ungläubig den Kopf. „Sie hat mir 70 Euro geboten! 70! Für einen blöden Kaktus! Kannst du dir das vorstellen? Ich war ja fast versucht, das zu tun – aber dann hätte sich Helen wohl von mir scheiden lassen."
Er lachte. Jonathan lachte.
Doch irgendwie lösten Tonis Worte wieder dieses ungute Gefühl in seinem Magen aus. Das war sicher nur noch ein dummer Zufall. Wer interessierte sich schon für verdammte Kakteen? Um das Thema rasch aus seinen Gedanken zu verscheuchen, schaute er lieber zu dem Punktestand auf dem Bildschirm hinauf. Es gab schließlich Wichtigeres. „Wer ist jetzt eigentlich dran?"
Die Haustür fiel hinter ihm laut klickend ins Schloss.
Jonathan atmete erleichtert aus. Er fühlte sich absolut gerädert. Und deprimiert. Sogar Tim hatte ihn in der letzten Runde vernichtend geschlagen. Wenn das nicht ein Zeichen war, dass er jetzt einfach Duschen und ins Bett gehen sollte. Und sei es nur, um diese katastrophale Woche endlich zu beenden. Das klang nach einem guten Plan.
Andererseits war es gerade mal halb sechs. Wenn er jetzt schlafen ging, würde er irgendwann um drei aufwachen und nicht mehr schlafen können. Auch scheiße.
Wieder seufzte Jonathan und fasste einen neuen Plan. Er würde erst noch Sport machen. Ein paar Körpereigengewichtsübungen, bisschen Liegestütze und Dehnen. Danach Duschen und vielleicht hatte er dann sogar noch mal genug Kraft, um zwei Einkaufslisten zu schreiben, eine für die Materialien, die er für sein Eulen-Wolf-Bild brauchte und eine für die Lebensmittel, die er sich in seinem Kühlschrank wünschte. Außerdem könnte er die Zeit noch nutzen, um endlich einmal ein paar aktuelle Handys miteinander zu vergleichen. Und vor allem zu schauen, was davon überhaupt in seinen finanziellen Rahmen passte. Das klang produktiv. Dann hätte er sich sein Bettchen doch auch verdient.
Mit neugefasster Motivation wollte Jonathan seine Sportsachen holen, als sein Blick zu der Papiertüte mit dem neuen Kaktus glitt, die er von Mr. Muckibude bekommen hatte. So seltsam und beunruhigend die ganze Aktion auch gewesen war – die Pflanze konnte nichts dafür. Wurde also Zeit, dass er dem kleinen Ding einen hellen Platz und wenigstens ein paar Tropfen Wasser verschaffte. Außerdem fühlte er sich tatsächlich ein bisschen besser, wenn er daran dachte, dass in seiner Küche bald wieder ein Kaktus stehen würde, wie es denn eigentlich sein sollte.
Also beugte er sich vor, um den Topf endlich aus seinem Gefängnis zu befreien. Dabei kam er den Stacheln zu nahe.
„Autsch!", reflexartig zog Jonathan die Hand zurück und leckte sich instinktiv über seinen Zeigefinger. Es schmeckte nach Blut. So ein Mistding. Der alte hatte auch immer gestochen. Dabei war er sich fast sicher gewesen, genug Abstand zu haben. Frustriert drehte sich Jonathan zur Seite, um erst einmal im Bad die Hände waschen zu gehen, bevor er es noch mal versuchte. Da nahm er ein rotes Funkeln aus dem Augenwinkel heraus wahr. Irritiert sah er zurück.
Doch da war nichts. Natürlich nicht. War ja auch ein dummer Gedanke.
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