Kapitel 17
Montag, 27. Juni
Es war später morgen.
Jonathan starrte auf die Decke über sich. Eigentlich sollte er aufstehen.
Nach langem Hin- und herwälzen hatte er gestern irgendwann doch noch Ruhe gefunden und geschlafen. Lange geschlafen. Jetzt sollte er aufstehen. Er sollte wirklich aufstehen. Aber er brachte es nicht über sich, sich dem zu stellen, was jenseits der Tür seines kleinen Zimmerchens auf ihn wartete. Also blieb Jonathan liegen und starrte die Decke an. Wenn er das nur lange genug tat, würde der Tag schon irgendwann vorbei gehen.
Aber es roch nach gebratenem Ei.
Jonathan hatte es erst nicht bemerkt, aber irgendwann war der Geruch ganz subtil durch den Türschlitz zu ihm herüber geschwebt. Jetzt hatte er Hunger - und nichts zu Essen in seinem Zimmer.
Mit einem Gefühl größter Unwilligkeit rollte sich Jonathan aus seinem Bett und zog sich ein paar Klamotten über. Langsam ging ihm die Unterwäsche aus. Hoffentlich hatten sie hier auch eine Waschmaschine.
Kurz zögerte er noch unsicher, ob er sich den anderen wirklich stellen wollte. Denn so nett sie zu ihm waren – jeder von ihnen war auf seine ganz eigene Weise unheimlich genug, dass sich seine Nackenhaare aufstellten, wenn Jonathan nur an die gestrigen Gespräche mit seinen „Gastgebern" zurückdachte. Doch bisher hatte keiner von ihnen versucht, ihn aufzufressen. Dann würden sie das hoffentlich auch weiterhin nicht tun. Also gab er sich einen Ruck und öffnete endlich die Tür.
Misstrauisch musterte er die offene Wohnküche vor sich. Sie war fast leer. Nur Lauren stand in der Küche und bereitete einen Teller mit Brot und Wurst vor.
Unsicher trat Jonathan ein paar Schritte aus seinem Zimmer. „Guten Morgen."
Kurz blickte Lauren zu ihm herüber und lächelte zur Begrüßung. „Guten Morgen, Jonathan. Du kommst perfekt zum Frühstück."
Jonathan nickte und kam vorsichtig näher. Auf dem Herd stand das Rührei mit gebratenem Speck. Es sah wirklich gut aus.
„Bedien dich. Wenn Raik kommt, ist es weg", lud Lauren mit einem Augenzwinkern ein, während er einen Teebeutel aus einer Tasse fischte und diese dann zu den Tellern auf das Tablett stellte. „Brot und Belag sind im Kühlschrank. Allerdings nicht mehr viel. Einer von uns muss bald einkaufen gehen."
Jonathan nickte wieder, nahm sich einen Teller und schob ein wenig von dem Rührei mit Speck darauf. „Wo sind die anderen?" Nicht, dass er wirklich mit einer Antwort rechnete. Aber zumindest war dieser Gesprächsanfang besser als Stille.
Lauren zuckte die Achseln. „Raik schläft. Lillian ist bei Raik. Trudi ist im Wald frühstücken und der Max ist in seinem Zimmer."
Jonathan stutzte. Lauren hatte so selbstverständlich gesprochen, als würde er übers Wetter reden aber... „Warum frühstückt sie im Wald?"
Der langhaarige Mann warf ihm einen Blick zu, als hätte er etwas Unanständiges gefragt. „Trudi mag Kaninchen. Nebenbei: Kannst du mir einen Gefallen tun?"
„Ähm... Kommt drauf an?", murmelte Jonathan vorsichtig und fixierte das Ei auf seinem Teller. Er würde nichts versprechen, was er nicht im Vorfeld wusste. Dazu hatte er zu viele Filme gesehen, wo genau dieser Fehler gemacht wurde.
Lauren gluckste amüsiert. „Vorsichtig? Keine Sorge – ist nichts Schlimmes. Ich wollte frage, ob du das Tablett hier zu ihm bringen kannst? Ich habe keine Lust, mich mit diesem... Getreuen-Gesindel abzugeben." Er spukte das Wort regelrecht aus und nur der Anstand schien ihn davon abzuhalten, noch andere Beleidigungen in den Mund zu nehmen. „Schlimm genug, dass ich für ihn koche... Mehr, als er verdient."
„Was sind die Getreuen?", antwortete Jonathan zögernd, nahm aber das Tablett in die Hand. Nur, dass er keine Ahnung hatte, wo Max eigentlich war.
„Schwer zu erklären." Lauren seufzte ein wenig frustriert. „Du weißt ja, dass wir – also der Orden - einen Blick auf alles Übernatürliche in Europa haben? Einfach ausgedrückt: Die Getreuen fühlen sich von uns in ihrer Freiheit eingeschränkt und versuchen, uns aktiv zu untergraben. Du musst übrigens zu dieser Tür." Er deutete auf einen Durchgang in der Ecke des Raumes. „die ist offen."
Doch Jonathan rührte sich nicht. „Kann er dann nicht einfach – rauskommen? Ist das nicht gefährlich?", murmelte Jonathan zweifelnd und schwankte zwischen Unglauben und Angst.
Doch Lauren wischte den Einwand mit einer lapidaren Handbewegung beiseite. „Ja. Er kann sein Zimmer verlassen. Aber Lesha hat dafür gesorgt, dass er keinen Schritt vor die Hütte setzen kann. Und solange er noch hofft, dass jemand kommen und ihn retten wird, wird er nichts tun, was seine Lage verschlimmert."
„Und noch hofft er?"
Lauren warf ihm einen kurzen Blick zu. „Noch."
Jonathan zog die Augenbrauen hoch. Da blieb ihm wohl nur, Daumen drücken, dass Max auch die nächsten Minuten weiterhoffen würde. Mit diesem mehr oder minder motivierenden Gedanken ging Jonathan zu Max' Tür und klopfte. Er fühlte sich wie ein Butler. Kein Wunder, dass Lauren keine Lust darauf hatte.
Es kam keine Antwort.
War das Max' Ernst? Jonathan klopfte noch mal. Diesmal lauter.
Wieder keine Antwort.
Er klopfte ein letztes Mal. Als erneut nichts als Stille folgte, lehnte er sich dichter an die Tür, versuchte, seine Stimme so deutlich und gelassen klingen zu lassen, wie er es bei Lillian immer hörte: „Dann nehme ich das Essen wieder mit."
Die Tür öffnete sich.
Rasch tarierte Jonathan sein Gleichgewicht und sein Tablett wieder aus, ehe er in Max' grummeliges Gesicht sah. Es war immer noch verstörend, wie sehr es dem von Raik glich. Trotzdem versuchte er es mit einem Lächeln. „Guten Morgen."
Max sah ihm kurz ins Gesicht und trat beiseite, damit er vorbeikam.
Unruhig warf Jonathan einen Blick zurück zu Lauren – doch dieser stand nur etwas abseits und beobachtete die Szene mit aufmerksamen, violett funkelnden Augen. Schnell schaute Jonathan wieder weg und ging zu einem kleinen Tisch, um sein Tablett abzustellen.
Obwohl er nicht in Max' Richtung sah, brannte dessen Blick regelrecht in Jonathans Nacken. „Stimmt es, was sie gestern gesagt haben? Du warst bei Maria?"
Hatte Max gelauscht? Einen Moment lang erstarrte Jonathan, wusste nicht, was er sagen oder wie er reagieren sollte. Weil er aber auch nicht nichts tun wollte, tat er das Erste, das ihm einfiel: Er sagte die Wahrheit: „Nein. Ich war bei Louisa. Und da hat Maria...." Jonathan wusste nicht, wie er das erlebte richtig in Worte fassen sollte. „...angerufen."
Doch Max schien ihn trotzdem zu verstehen. Alles. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Einbrechers und einen Moment lang sah er die abgebrochenen Zähne aufblitzen. „Dann wissen sie jetzt also über die kleine Werstein bescheid." Es war keine Frage. Und da Max' das ‚sie' trotz des Lispelns ähnlich abfällig betonte, wie Lauren zuvor die ‚Getreuen', war sich Jonathan sehr sicher, wer damit gemeint war. „Naja – sie hatte eh keinen größeren Nutzen mehr."
Jonathan rann ein unangenehmer Schauder über den Rücken. Es klang nicht so, als würden Max und Louisa sich nahestehen. „Was ist denn mit Frau Werstein?"
Doch Max Mitteilungsbedürfnis schien erschöpft zu sein, denn er wandte sich einfach von Jonathan ab, setzte sich an den Tisch und begann sein Frühstück zu essen.
Zögernd drehte Jonathan sich wieder zu Lauren um und sah, was Max anscheinend schon vor ihm gesehen hatte. Im Wohnzimmer stand nicht mehr nur der große, langhaarige Mann allein und musterte die Szene aufmerksam, sondern auch Raik und Lillian hatten sich zu ihm gesellt.
Gut. Dermaßen angestarrt hätte wohl niemand Lust, irgendwas zu sagen. Schon gar nicht in Max' Situation. Also wünschte er dem Gast des Hauses noch einen guten Appetit und verließ dann den Raum, zog sogar die Tür hinter sich zu.
„Na das lief doch besser als erwartet", meinte Lauren und lächelte ihn aufmunternd an, während er damit begann, den Geschirrspüler neu zu befüllen. „Er hat gerade mehr geredet, als die letzten drei Tage zusammen genommen."
Lillian knurrte leise etwas Unverständliches. Dann gab sie sich einen Ruck und ging in Richtung Tür. „Ich geh kurz telefonieren."
Raik war mittlerweile auch beim Herd und angelte nach der Pfanne mit dem Rest vom Rührei. Dabei fing er Jonathans irritierten Blick auf und erwiderten ihn mit einem Grinsen. „Der Empfang hier drin grottig. Außerdem wollte sie sich noch um deine Krankschreibung kümmern, sicherstellen, dass sich wer kümmert, dass irgend ein Arzt was unterschreibt und das bei deinem Arbeitgeber landet. Kannst du mir bitte noch ne Gabel rausgeben?"
Jonathan blinzelte. An seinen Arbeitgeber hatte er gar nicht gedacht. Aber ja. Es war Montag. Und irgendwie beeindruckend, dass dieser Orden sowas anscheinend regeln konnte. „Danke", murmelte er leise und ganz automatisch zuckte seine Hand in Richtung der Besteckschublade, doch Lauren stellte sich demonstrativ davor. „Das kannst du knicken, Raik", funkelte er ihn an. „Nimm nen Teller, wie jeder zivilisierte Mensch und zerkratz nicht das Teflon der Pfanne. Das kann krebserregend sein."
Doch Raik zuckte nur die Achseln. „Dann gib mir halt nen Teller."
Innerlich schüttele Jonathan den Kopf. Wie hatte er nur hier landen können? Automatisch glitt sein Blick zum Fenster, aus dem er Lillian mit einem Handy am Ohr unruhig auf und ab laufen sah.
Ob es nur um seine Krankschreibung ging? Oder auch um den Namen Werstein? Sie hatte gestern schon so auf den Namen reagiert. Jonathan starrte auf Raiks neuen Teller mit Rührei, ohne ihn wirklich zu sehen. Und doch war ihm die ganze Situation plötzlich schier unerträglich. Die blinde Unwissenheit, in der er sich schon wieder befand, nagte an seinen Nerven. „Wer ist eigentlich Werstein? Was ist so besonders an der Familie?" Vielleicht konnten sie ihm wenigstens dieses Detail beantworten.
Laurent und Raik schwiegen.
Jonathan seufzte frustriert. „Wollt ihr mir denn gar nichts sagen?"
„Nein", murrte Raik und aß sein Rührei – diesmal „zivilisiert" mit Gabel und Teller.
Doch als Jonathan zu so etwas wie Protest ansetzen wollte, sah er, wie der dunkelhaarige Mann ihn regelrecht frech angrinste. Für ihn war es nur ein Spiel – wie so ziemlich alles, was seinen Mund verließ. Wie zur Hölle konnte es Lillian nur mit so einem Kerl aushalten?
Schließlich griff Laurent wieder zu einem Geschirrteil. „Du hast ja recht. Es ist nur so, dass wir seid Jahr und Tag vom Orden auf Geheimniskrämerei gegenüber Menschen gedrillt werden. Aber naja, für dich machen wir wohl eine Ausnahme. Die Familie Werstein entsendet schon seit vielen Generationen immer wieder Söhne und Töchter ihrer Linie in den Dienst des Ordens. Alles Hexen und Hexer. Soweit ich weiß, haben Lillian und Raik bereits mit einigen von ihnen zusammengearbeitet."
Jonathan blinzelte. Hatte Laurent gerade von Generationen gesprochen? „Wie alt sind die beiden eigentlich?"
„Über vierhundert Jahre, wenn ich mich nicht täusche", Jonathan zuckte zusammen und sein Blick floh zur Haustür hinüber. Trudi stand darin und zog sich gerade eine schlichte, schwarze Mütze ab, unter die sie ihre pinken Haare sorgfältig geschoben hatte. „Aber so genau weiß das wohl keiner... nicht wahr, Raik?"
Der Angesprochene hob nicht einmal den Kopf, während er die letzten Reste seines Rühreis vom Teller kratzte. „Man fragt Unsterbliche nicht nach ihrem Alter. Das ist unhöflich. Willst du ja schließlich auch nicht sagen."
„Mag sein. Aber vierhundert ist auch beeindruckender als knapp unter huntert."
Jonathans Finger zuckten. Unsterbliche? Wirklich? Vierhundert Jahre. Vier. Hundert. Das musste irgendwann im 17. Jahrhundert gewesen sein. „Wo habt ihr euch denn dann kennengelernt?", murmelte Jonathan überrascht, ehe er genauer darüber nachdachte. Sonst hätte er sich die Frage wohl gesparrt.
Zumindest wünschte er sich das, als Raiks Blick ihn abschätzig streifte. „Auf einer Hochzeit. In Magdeburg. Übrigens ist das eine schicke Mütze, die du da hast, Trudi." Trudi lächelte charmant zurück. „Danke. Die ist von Lauren."
„Ja – Lesha hat Geschmack. Das muss der Neid ihr lassen."
Lauren lachte. Aber es klang irgendwie seltsam. Dunkler. „Vielen Dank, Raik. Ich werte das als Kompliment."
War da wieder ein lila Funkeln in Laurens Augen? Jonathan hätte gern nachgehakt. Doch in dem Moment klingelte etwas. Jonathan blinzelte. Es dauerte einen Moment, ehe er zuordnen konnte, woher das Geräusch kam. Einmal, zweimal. Aus seiner Hosentasche. Es klingelte darin. Sein Handy. Zögernd griff er danach.
„Du solltest auch raus gehen", hörte er Laurens freundliche Stimme hinter sich. „Der Empfng hier drin ist wirklich schlecht."
Jonathan nickte ganz automatisch und wandte sich zur Haustür, während das Handy beharrlich weiter klingelte. Als er draußen war, nahm er ab. „Hallo Mama."
„Jonathan! Endlich!" Ihre Stimme klang besorgt. „Wie geht es dir?"
Unruhig sah er sich nach Lillian um. Aber sie stromerte ein Stück weiter weg zwischen den Bäumen herum, ihr Telefon noch fest am Ohr.
„Ähm.... Ich lebe", antwortete er mit einiger Verzögerung. Trotzdem versuchte Jonathan, es scherzhaft klingen zu lassen, aber es gelang ihm nicht so ganz. Auch er hörte den Hauch von Verzweiflung in seiner Stimme.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.
„Mama?"
Ein Schniefen und ein zischendes Einatmen folgten, als würde seine Mutter um Fassung ringen.
Jonathan spürte, wie sich ein Knoten so groß und schwer wie ein Faustkeil in seinem Magen formte. „Mama?! Was ist los? Alles gut bei dir?"
Wieder war da nur schweigen und schweres Atmen, ehe sich seine Mutter zu einer Antwort durchringen konnte: „Helen ist verschwunden."
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Ein frohes neues Jahr wünsche ich euch!
Ich weiß - ich weiß... es ist lange nicht weiter gegangen. Hauptsächlich, weil ich echt Schwierigkeiten hatte - und immer noch habe -, den weiteren Verlauf der Geschichte in Worte zu packen.
Und weil ich zwischendurch das Weiterschreiben erfolgreich prokrastiniert habe, in dem ich eine andere Geschichte geschrieben hab! o.O Das Ergebnis nennt sich "Geteilte stunden", mit Trudi als Hauptprotagonistin... damals... als sie noch jünger war. ^^'' Diese Kurzgeschichte lade ich jetzt jedenfalls auch so nach und nach hier hoch und wer von euch Interesse hat: Viel spaß beim Lesen! :D
Mit dem Kaktus wird es wohl auch weitergehen... aber schleppend... sehr schleppend. Ich kann da also leider nichts versprechen, außer, dass ich mich jetzt wieder verstärkt ransetzen möchte. >//<
Habt einen schönen Tag!
Eure Lichti :)
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