Kapitel 14
Samstag, 25. Juni
Mit einem leisen Stöhnen fiel Jonathan aufs Bett. Es war nicht sein Bett. Es war ein Hotelbett. Aber es war ein Bett. Dabei war es gerade mal sieben Uhr morgens. Aber seit er gestern früh von Pascal entlassen worden war, hatte er zu Hause keine Ruhe gefunden. Nicht einmal Zeichnen hatte geholfen. Immer wieder musste Jonathan zwanghaft aus dem Fenster schauen, ob nicht etwas Verdächtiges zu sehen war. Bei jedem Geräusch war er zusammengezuckt. Und Schlaf hatte er erst recht nicht gefunden, so sehr er es auch versuchte. Also hatte er um seine Sachen gepackt und war in ein günstiges, aber schönes Hotel am Stadtrand gefahren. Jetzt lag er hier. Hier würde ihn sicher niemand finden. Dieser Gedanke war so beruhigend, dass er auf der Stelle einschlief. Endlich.
Zehn Stunden später erwachte Jonathan mit dem wunderbaren Gefühl schläfriger, aber erholter Müdigkeit. Blieb nur der Hunger. Also machte er sich nach einer kurzen Dusche, frisch erholt und sauber auf den Weg zum nächsten Becker. Irgendwas würden die schon haben.
Noch während er mit dem Hotelfahrstuhl nach unten fuhr, scrollte er seine Kontaktliste auf dem Handy durch. Zum Glück hatte eine Nacht am Ladekabel das Ding wieder zum Neustart bewegen können. Er stoppte. Da war die Nummer, die er gesucht hatte. Wählen. Doch noch während er es in der Leitung Tuten hörte, kam er nicht umhin, sich zu fragen, ob dieser Anruf wirklich eine gute Idee war. Aber andererseits gab es da ein paar Dinge, die er ganz dringend ansprechen wollte. Einen Moment lang war er trotzdem versucht, doch noch schnell aufzulegen. Aber ehe sich Jonathan tatsächlich dazu entscheiden konnte, knackte es in der Leitung.
„Ja, bitte?" Als er die vertraute Stimme hörte, musste er plötzlich doch lächeln. Nein, es war sicher kein Fehler gewesen, anzurufen.
Ganz automatisch lief Jonathan langsamer die Straße entlang. „Hallo Oma! Hier ist Jonathan!"
„Aaaaach! Jonathan!" Die Freude, die vom anderen Ende der Leitung zu ihm herüber hallte, fachte seine Gewissensbisse wieder an. Er hätte sich wirklich schon längst mal melden müssen. Trotzdem versuchte er, sein Lächeln beizubehalten. „Wie schön, dass du anrufst! Wie geht es dir?"
Intuitiv zuckte Jonathan mit den Schultern, obwohl sie das natürlich nicht sehen konnte und suchte die bunten Geschäfte um sich herum nach dem Bäcker ab, den er heute Nacht auf dem Weg zum Hotel hier gesehen hatte. Ah! Da drüben war er ja. „Och... naja... Momentan geht bei mir so einiges drunter und drüber." Na wenn das mal nicht die netteste Untertreibung der letzten Woche war. Unruhig schaute er nach links und rechts, während er die Straße überquerte.
„Ja. Jaaa." Sie klang, als würde sie mit dem Kopf nicken und Jonathan konnte ihr Gesicht mit der gerunzelten Stirn und den warmen Augen regelrecht vor sich sehen. „Schlimm, was bei Erika passiert ist. Immerhin ist ja wohl nichts weggekommen. Hattet ihr schon Zeit, weiter aufzuräumen?"
Wieder regte sich Jonathans schlechtes Gewissen. An seine Mutter hatte er gar nicht mehr gedacht. Er sollte auch noch mal bei ihr anrufen, um zu horchen, ob sie den Einbruch wirklich so gut verkraftet hatte, wie es bisher schien. Und um allgemein wieder ein Lebenszeichen zu geben. Hoffentlich machte sie sich keine Sorgen. Aber dazu hatte er die letzten Tage einfach keine Zeit gehabt und auch jetzt wollte er nicht über seine Mutter sprechen. Nicht, wenn das Thema, das ihm eigentlich unter den Nägeln brannte, zum Greifen nah war. „Ja, naja. Wir haben schon gut was geschafft. Aber ein bisschen muss noch. Leider ist ja auch ihr Kaktus kaputt gegangen. Die Einbrecher haben ihn auf den Boden geworfen."
Er machte eine Pause, wartete auf eine Reaktion.
Es kam keine. Nur Stille.
„Mama hat erzählt, dass dir mal etwas Ähnliches passiert ist und Tante L dir damals einen neuen Kaktus geschenkt hat." Innerlich beglückwünschte er sich zu dem eleganten Themenumschwung und betrat die verführerisch duftende Bäckerei. Sein Magen knurrte. ‚Wir backen selbst', stand groß im Eingangsbereich. Das klang vielversprechend.
„Aha? Ich staune ja, dass sie sich daran noch erinnert", antwortete Oma Else schwach. Sehr glücklich schien sie nicht mit dem Gesprächsverlauf zu sein.
Aber Jonathan wollte nicht locker lassen. „Ja. Schon. Und jetzt hab ich überlegt, ob ich einmal mit Tante L reden könnte und ob sie weiß, wo ich so einend Kaktus noch mal herbekomme. Mama würde sich bestimmt darüber freuen."
Und nebenbei könnte er sie einmal fragen, ob sie noch eine Verwandte hatte, die nach ihr benannt war und mit der sie über die Familie tratschte. Woher sonst sollte Lillian all die Informationen haben? Und vielleicht sollte er der jüngeren Lillian dann auch von seinen jüngsten Erlebnissen mit Maria und Louisa erzählen. Der Gedanke klang zwar nicht verlockend, aber nach einem Plan. Vorläufig zufrieden ließ er den Blick über die Auslage wandern. Kuchen, die einen Zuckerguss wie Regenbogen hatten, Kekse in Einhornform, Muffins, die wie Hexenkessel aussahen. Darunter ein Schild, das von einem grinsenden Drachen gehalten wurde: ‚Fantasywochen'. Ein bitter-ironisches Lächeln huschte über sein Gesicht. Na das klang doch nach was für Louisa.
„Hm-hmmm", murmelte seine Oma nach einem erneuten, sehr langen Zögern. „Wie wäre es, wenn ich sie für dich frage, dann musst du nicht-"
„Nein, nein", unterbrach Jonathan sie resolut. „Mach dir keine Umstände. Außerdem würde ich mich für meine Mama gern selbst darum kümmern." In dem Moment, in dem er es aussprach, wusste er, dass das keine Lüge war. Also setzte er den Punkt: ‚Neuen Kaktus für Mama besorgen' mit auf seine mentale To-Do-Liste.
Wieder schwieg Oma Else am anderen Ende der Leitung. Dann seufzte sie. „Hör zu, Jo. Es tut mir leid, aber ich kann dir die Telefonnummer von Tante L nicht geben. Sie hat gern ihre Privatsphäre, auch bei Familie." Bildete er sich das ein oder lag in ihrer Stimme ein Zittern?
„Ich verstehe", murmelte Jonathan und deutete für die Bedienung auf ein belegtes Brot, wo die Brotscheiben wie grinsende Totenköpfe aussahen. Dazu ein mit Glitzerzucker bestreuter Donut, an dem eine kleine Marzipanelfe klebte. Da hatte sich jemand wirklich Mühe gegeben. „Aber wenn-"
„Jonathan. Bitte. Lillian ist auch nicht unbedingt-", sie suchte nach Worten. „Leicht im Umgang. Und solche Erfahrungen würde ich dir beziehungsweise meiner ganzen Familie gern ersparen. Ich werde deine Bitte weiterleiten. Versprochen. Aber erwarte nicht zu viel."
Jetzt war es Jonathan, der schwieg, während er mit einem Teller in der Hand zu einem der freien Tische ging. Das waren sehr deutliche Worte. Und es klang nicht wirklich danach, als wären Oma Else und Lillian befreundet. Einen Moment fragte er sich, was sich dahinter verbarg. Aber hier am Telefon würde er nicht mehr erfahren. Also beschloss Jonathan, das Thema erst einmal ruhen zu lassen. „Okay. Danke." Einen Moment lang brauchte er noch, um sich zu sammeln.
Dann räusperte er sich und versuchte es mit dem nächstbesten Smaltalk-Thema, das ihm einfiel: „Ich gönn mir die Woche übrigens einen kleinen Kurzurlaub am Stadtrand und habe mir gerade einen Cappuccino in einer Bäckerei bestellt, die sehr hübsch mit Feen und Einhörner dekoriert ist..."
Dabei trank er nicht mal gerne Cappuccino. Aber Pascal meinte ja gestern, dass Zeit, Schlaf und im Zweifelsfall auch Koffein die besten Mittel wären, um eine schwächelnde Aura wieder zu stärken. Und seine Aura war laut Pascal fast nicht mehr da gewesen. Ein Grund mehr, es doch noch mal mit Cappuccino zu versuchen.
Nach zehn weiteren Minuten Smalltalk legte er schließlich auf und atmete tief durch. Geschafft. Aber er hatte nicht das Gefühl, irgendwas erreicht zu haben. Frustriert ließ sich Jonathan gegen die Lehne seines Stuhls sinken und blickte sich noch mal genauer in der kleinen Bäckerei um. Es war wirklich nur ein kleiner Laden, mehr für Laufkundschaft, als für Sitzkundschaft gemacht. Aber er war trotzdem liebevoll eingerichtet und dem Thema ‚Fantasywochen' durchgehend angepasst. Von den rot-goldenen Phönixen, die an die Fensterscheibe gesprüht worden waren, bis hin zu Meerjungfrauen aus Marzipan für Kuchendeko war eine Vielzahl von unterschiedlichen Fantasiewesen in dem kleinen Verkaufsraum vertreten. Zufrieden trank er einen Schluck seines Cappuccinos.
Es schmeckte fast genauso ekelhaft wie der Polizei-Kaffee gestern. Trotzdem musste er lächeln – sogar auf seiner Capuccino-Tasse war ein kleiner Vampir drauf. Spontan hatte er Lust, sowas auch einmal versuchen zu zeichnen. Doch dann fiel ihm wieder ein, was Louisa gesagt hatte: Lillian war ein Vampir. Angeblich.
Aber es gab ja Hexen – warum dann nicht auch Vampire? Und wer weiß, wie lange Lillian dann schon lebte und vor allem, was sie alles erlebt hatte. Das würde auch ihre geringe Körpergröße erklären und ihren doch sehr blassen Hauttyp. Und die Gleichgültigkeit mit der sie die Welt um sich herum zu betrachten schien.
Aber vor allem würde es erklären, warum seine Oma fast schon ängstlich von Tante L sprach. Tante L, die auch Lillian hieß. Lillian, die alle möglichen Dinge über ihn zu wissen schien, die sonst familienintern waren. Tante L, die seit Jahrzehnten regelmäßig mit Oma Else telefonierte. Lillian, die – wenn man den Geschichten glaubte - als Vampir nicht altern würde. Tante L, die zwar Umschläge mit viel Geld schickte, die aber außer Oma Else nie jemand gesehen hatte ...
Umso länger er den kleinen schwarzhaarigen Vampir auf seiner Tasse ansah, desto mehr Puzzleteile fielen an ihren Platz. Es konnte gar nicht anders sein.
Lillian war Tante L.
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