Kapitel 11
„Was war das? Das Licht? Erst die Zeichen und dann das rote Leuchten?"
Louisa sah ihn überrascht an. „Du siehst es wirklich?" Dann ein Blinzeln. „Ach ja. Richtig. Deine Aura ist beschädigt...", murmelte sie abwesend und griff in die bronzene Klangschale.
Was meinte sie schon wieder mit Aura? Doch ehe er fragen konnte, zog Louisa ihre Hand hervor und Jonathans Herz setzte einen Moment lang aus. War der Stein vorher von faszinierender rot-glänzender Farbe gewesen, war er jetzt nur noch matt-grau, wie jeder Kiesel am Wegesrand. „Was hast du getan?" Die Worte waren raus, ehe er tiefer über sie nachdenken konnte.
Louisa warf ihm nur wieder einen dieser mitleidigen Blicke zu. Fast hätte Jonathan sie wütend angemault, doch da klingelte ihr Telefon und sie warf nur ein entschuldigendes Lächeln zu. „Nunc. Bleib sitzen. Beweg dich nicht. Ich bin gleich wieder bei dir." Dann nahm sie ab. „Ja?"
Jonathan horchte auf. Das helle Murmeln einer weiblichen Stimme drang aus dem Handy zu ihm herüber. Leider konnte Jonathan nicht ein einziges Wort verstehen. Aber Louisa hatte besorgt geklungen, fast ängstlich. Mit wem auch immer sie da telefonierte – eine Freundin war das nicht.
„Du willst mit ihm reden?" Ganz automatisch legte sie den grauen Stein in ihrer Hand zurück auf den Tisch, neben Jonathans zweiten noch immer rot schimmernden Kaktusstein und kam ein paar Schritte auf ihn zu. „Okay. Warte kurz, ich geb das-"
Sie brach mitten im Satz ab und auch ihre Bewegung gefror auf der Stelle. Jonathan runzelte die Stirn. Wer könnte da mit ihm reden wollen? Und warum?
„Muss das sein?", Louisas Augen zuckten nervös durch den Raum. „Bitte. Ich mein, du könntest auch einfach mit ihm telefonieren und-"
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang noch immer sanft, doch Louisa wurde so bleich, als hätte sie einen Geist gesehen.
„Ja. Gut. Wenn du es so willst", unterwarf sie sich schließlich der fremden Stimme zögernd. „Einen Moment, bitte. Ich hol noch einen Stuhl und-"
Louisas Körper wurde plötzlich steif und verharrte wie eingefroren. Dann richtete sie sich auf und steckte das Telefon weg. „Mach dir keine Umstände, Mäuschen. Das mach ich schon."
Gänsehaut jagte über Jonathans Rücken. Sie klang so anders als noch vor wenigen Sekunden. „Was-?"
Louisa drehte sich zu ihm um.
Jonathans brach der Schweiß aus. Ihre Augen. Sie waren wieder hell wie zwei Sterne am Nachthimmel. Irgendwie war wieder Magie im Spiel.
„Awww – du bist wirklich so süß, wie ich dachte!" Einen Moment lang sah sie ihn mit feinen Lächeln und undurchdringlichen Blick an. „Wir hatten ja letztens leider nicht die Möglichkeit, uns zu unterhalten."
Jonathan konnte nicht anders, als Louisa anzustarren. „Wer bist du?"
Sie blinzelte überrascht. „Du stellst die richtigen Fragen", antwortete sie schließlich und schlenderte zu dem Tisch zurück, den Louisa gerade verlassen hatte. Interessiert schweifte ihr Blick über die Arbeitsplatte, ehe sie den grauen Stein wieder in die Hand nahm und erneut begutachtete. „Als Belohnung darfst du mich Maria nennen."
Jonathan runzelte irritiert die Stirn und „Maria" lachte glockenhell auf. „In manchen Kreisen ist dieser Name viel wert. Merk ihn dir."
Wieder lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Doch er nickte gehorsam. „Das werde ich. Sind das die gleichen Kreise, in denen auch Lillian und Raik verkehren?"
„Raik ist-" Louisa/Maria seufzte und ihr Blick glitt einen Moment lang träumerisch aus dem Fenster, hinaus in die Ferne.
Jonathan zuckte. Er kannte diese Betonung. Ein ‚R' wie das Schnurren einer Katze. Das hatte er schon mal gehört. Da hatte er es wieder klar vor Augen – der Einbrecher, wie er mit überraschend hellen Augen an der Wand seiner Wohnung lehnte und mit Lillian und Raik sprach. Genau der gleiche Tonfall, wie der von Louisa / Maria jetzt. Wenn man die Tatsache der Unmöglichkeit wegließ, dann ... Spätestens jetzt wäre er aufgesprungen und gerannt, wenn Louisa ihn nicht vorher wieder zur Bewegungslosigkeit verdammt hatte. Er konnte nicht mal mit den Zehen wackeln.
„Sagen wir – es sind ähnliche Kreise, die sich gelegentlich überschneiden." Mit diesen Worten kam Maria direkt auf ihn zu.
Jonathan starrte sie unruhig an. Ihm wäre es lieber, sie würde weiterhin in der anderen Ecke des Zimmers bleiben. Trotzdem versuchte er, sich zur Ruhe zu zwingen. Er brauchte Informationen. Vielleicht bekam er hier eine Chance. „Bei Kakteen und roten Steinen zum Beispiel? Oder bei Einbrüchen in gewissen Haushalten?"
Sie stand jetzt so dicht neben ihm, dass er den blumigen Geruch von Louisas Shampoo riechen konnte. Er hätte gern wenigstens den Kopf in ihre Richtung gedreht, doch auch das ging nicht. So sah er nur aus dem Augenwinkel, wie sie sich einmal streckte und eine kleine, hölzerne Schatulle von dem Regal neben der Couch nahm. Dabei streifte ihn ihr ebenso spielerischer wie undeutbarer Blick. „Ich mag, wie du denkst."
Und Jonathan mochte nicht das Puzzlebild, das sich vor seinen Augen so langsam zusammensetzte, wenn er nur den Gedanken an all das zuließ, was er vorher für unmöglich gehalten hatte. Hexerei. Vampire. Körperübrnahme. Magie. Und weiß der Henker, was noch alles. Aber immerhin schien diese Maria als Erste gewillt, ihm ein paar mehr Antworten zu geben. Das sollte er nutzen. Also entschied er sich für den Direktangriff. „Du warst da, nicht wahr? Du hast durch den Einbrecher gesprochen, genauso, wie du jetzt durch Louisa sprichst." Das auszusprechen klang noch viel abstruser, als es auch nur zu denken.
Statt zu antworten, öffnete Maria die hölzerne Schachtel in ihren Händen. Trotz seiner festgehaltenen Position konnte Jonathan einen kurzen Blick in ihr Inneres erhaschen. Wieder überfiel ihn eine Gänsehaut. Da lagen graue Steine. Viele graue Steine – genau wie seiner, der da mit einem leisen, klickernden Geräusch seinen Platz zwischen der Masse einnahm.
In wie vielen Häusern waren sie dafür eingebrochen?!
Maria jedoch blickte mit abwesenden blick auf die Kieselsteinchen der Schachtel. Dann seufzte sie theatralisch. „Ach ja... mit Max? Ich vermisse ihn, weißt du? Er hat so wunderbar starke Arme und so sanfte Hände..."
Jonathan schüttelte sich innerlich. Das hatte er weder hören oder wissen wollen. „Ja. Ich habe ihn gebeten, Louisa ein bisschen bei ihrem kleinen Rachefeldzug gegen Lillian zu helfen. Fräulein Werstein hier nimmt es unserer ... gemeinsamen Freundin ein wenig übel, dass sie ihre Mutter an ‚schwarzmagischen Praktiken' überführt und dem Orden ausgeliefert hat. Deshalb wurden sie beide auch aus der Hexengemeinschaft ausgeschlossen." Einen Moment lang musterte sie Jonathans ganz offensichtlich verwirrten Gesichtsausdruck. Dann ließ sie sich tatsächlich zu einer weiteren Erklärung herab. „Das ist meist unangenehm für unsereins, musst du wissen. Vor allem macht so eine Verbannung es auch so viel schwerer, an vernünftige Menge an Aura zu kommen. Wir dürfen sie nicht mehr kaufen und ‚Hexerei' wird dadurch fast unmöglich."
Oh. Das war ... spannend. Obwohl Jonathan nicht glaubte, dass Louisa ihm das hätte erzählen wollen. Umso dankbarer war er für die Antworten. Auch wenn er nicht allzu viel damit anfangen konnte. Aber vielleicht konnte er sein Glück ja etwas weiter strapazieren? „Was bedeutet denn ‚Aura'? Louisa hat vorhin schon davon gesprochen...?" Er ließ den Satz zu einer unvollständigen Frage auslaufen.
Ein Lächeln schlich sich auf Marias Lippen. Er konnte nicht umhin, sich wie eine Maus zu fühlen, die in eine Falle tappt. Aber er sah die Falle nicht. Doch dann war es weg und Maria stellte die Holzschachtel wieder zurück an ihren Platz im Regal.
„Aura. Das ist tatsächlich genauso schwer zu erklären, wie Luft oder Feuer." Es klang, als würde sie nachdenken. „Um es mal ganz, ganz grob zusammenzufassen: Es ist wie das fünfte Element, das wir zum Leben brauchen. Jedes Lebewesen besitzt eine Aura, die es ähnlich wie eine zweite Haut vor physischen oder psychischen „übernatürlichen" Schaden schützt." Das Wort ‚übernatürlich' setzte sie dabei mit den Fingern in ironische Gänsefüßchen. „Witzigerweise besitzen normale Menschen die stärksten Auren und so auch den stärksten Schutz. Sie sind dadurch nahezu unangreifbar. Aber diese starke Schutzschicht, wenn du so willst, macht sie auch blind für alles, was sie als „übernatürlich" bezeichnen würden."
Jonathan schüttelte langsam den Kopf, um das Gefühl der haltlosen Überforderung loszuwerden. Klappte nicht. Trotzdem konnte er nicht anders, als ihr zuzuhören, während sie zu einem Stuhl schlenderte und darauf Platz nahm.
„Vielleicht brauchen wir noch ein Beispiel", fuhr Maria nachdenklich fort. Jetzt, mit elegant übereinandergeschlagenen Beinen, sah sie aus, wie einer jener skrupellosen Mafia-Frauen aus den Actionfilmen, die er manchmal mit Toni schaute. „Nehmen wir dich. Deine Aura ist derzeit sehr geschwächt. Deshalb kann sie nicht mehr alles aus deiner Wahrnehmung rausstreichen. Vielleicht ist es dir aufgefallen? Schatten, die in deinem Augenwinkel lauern und wenn du dich danach umdrehst, sind sie weg? Dinge, die anders sind, als erwartet und wenn du genauer hinschaust, ist doch alles, wie es sein soll? Oder das Leuchten der Magie in den Augen, wenn eine Hexe oder ein Hexer einen Zauber wirkt?"
Jonathan nickte langsam. Jetzt, wo sie es so aufzählte ... Ja. All das hatte er in den letzten Tagen erlebt.
„Siehst du? Normalerweise würdest du all das gar nicht sehen, weil deine Aura es abschirmen würde. Aber um so mehr Aura du verlierst, desto mehr ‚Übernatürliches' siehst oder spürst du. Geister zum Beispiel. Echte menschliche Medien haben oft eine viel schwächere Aura als normale Menschen und sind somit empfänglicher für diese und andere Wesen. Aber egal. Wichtig für dich ist, dass alles was lebt, über unterschiedlich großen Mengen an Aura verfügt." Als wäre Maria von ihrem eigenen Monolog gelangweilt, griff sie nach Jonathans zweiten roten Stein, der noch immer auf dem Tisch lag und drehte ihn nachdenklich in ihren Händen.
„Darüber hinaus können manche Lebewesen diese Aura auch für ihre Zwecke beeinflussen. Wir Hexen zum Beispiel können unsere eigene oder auch fremde Aura nehmen und in das umwandeln, was allgemein als Magie bezeichnet wird. Werwölfe können ihre Aura in ihrer Wolfsform in ihren Biss einfließen lassen. Das macht ihn zu einer gefährlichen, wenn nicht gar tödlichen Waffe gegen jedes Lebewesen. Oder ein Ifrit kann unter anderem Feuer damit entzünden und, und, und..."
Jonathan wäre fast ohnmächtig geworden, als ihm die Tragweite dieser Worte bewusst wurde. Wenn das stimmte – und im Moment sah alles danach aus – dann gab es nicht nur Hexen und Vampire, sondern auch jedes andere Ding, das er bisher in das Reich der Fantasyliteratur geschoben hatte. Einen Moment lang schien die ganze Welt sich zu drehen und Marias Worte plätscherten nur noch wie ein träger Fluss an ihm vorbei. Nur am Rande wurde ihm bewusst, dass sie ihn mittlerweile regelrecht anstarrte, als würde sie auf etwas Bestimmtes warten. Er ertrug es kaum. Aber was wollte er machen? Er konnte nicht mal in der Nase bohren.
„Tatsächlich ordnet unsere moderne Wissenschaft auch alles als ‚übernatürlich' ein, was zu direkter oder indirekter Aurabeeinflussung im Stande ist. Katzen und Ratten fallen übrigens auch in diese Kategorie." Sie kicherte verhalten, als hätte sie einen Witz gemacht. Aber selbst wenn es so war – sie war die Einzige, die ihn verstand. „Was ich also sagen will, ist, dass Aura für uns alle eine ziemlich wichtige Sache ist. Und wenn wir davon abgeschnitten werden, kann das übel enden. Sowas hat schon ganze Kriege ausgelöst – oder Rachefeldzüge."
Jonathan schluckte. Seine Gedanken rasten. Hatte Louisa das vorhin gemeint, als sie sagte, Lillian hätte ihr ihre Zukunft geraubt? Weil sie wegen der Ausgrenzung aus der Hexengemeinschaft keinen Zugang mehr zu einem Auravorrat bekam? Und sie deshalb nicht mehr zaubern konnte? Die Fragen brannten ihm auf der Zunge. Trotzdem ließ Jonathan Marias Gesagtes erst einmal so stehen. Denn eine andere Frage forderte viel mehr Aufmerksamkeit: „Und was ist jetzt? Ihr habt mich entführt und auf dieser Couch festgesetzt. Warum? Was wollt ihr nun erreichen?"
Marias Blick glitt von ihm weg und wieder aus dem Fenster heraus, in die Ferne. „Leider hat sich mein Mäxchen fangen lassen. Aber das werde ich korrigieren. Denn jetzt habe ich etwas, das Lillian sogar noch wichtiger ist, als Aura oder Steine."
Jonathan wollte zu einer Frage ansetzen, doch da richtete sich ihr hell leuchtender Blick wieder auf ihn. „Dich."
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