II
Sechsundzwanzig Monate und eine überfällige Scheidung später stand Carolin ungeduldig an der Gangway einer Boeing 747 und wartete auf das Boarding-Signal des Flugbegleiters. Sie würde hoffentlich nicht so lange wie die anderen im Frankfurter Nieselregen warten müssen. Schließlich wurde ihr ein Quasi-Diplomatenstatus für die Dauer ihrer Reise gewährt, da sie im offiziellen Auftrag der Weltgesundheitsorganisation unterwegs war. Premium Economy und Priority-Boarding waren auf jeden Fall eine neue Erfahrung für Carolin. Sie hatte bisher nur kleine, enge Urlaubsflieger kennengelernt und – natürlich – immer brav die erfolgreiche Landung beklatscht. So, wie man das nun mal machte, wenn man mit Neckermann unterwegs war. Sie wäre lieber mit Lufthansa nach Simbabwe geflogen. Schon der Name ›Ethiopian Airlines‹ machte ihr Angst. Es war wohl die günstigste Variante gewesen und automatisch der Favorit der Rechnungsabteilung des Robert-Koch-Instituts. Für echte Business Class hatte es daher auch nicht gereicht, aber das war ihr egal. Sie wollte heil ankommen, das war das Wichtigste. Zu ihrer Angst gesellte sich eine gewisse Sorge um Greta, da sich Carolins Mutter nur die nächsten drei Tage um ihre Tochter kümmern konnte. Danach würde Thomas übernehmen müssen. Letzterer stand in Carolins Augen auf der Vertrauensskala noch unter ›Ethiopian Airlines‹. Das leichte Unwohlsein, das sie beim Gedanken an ihre bevorstehende Reise verspürte, hatte somit mehrere Gründe.
Der Flugbegleiter gab die Gangway frei und Carolin durfte endlich einsteigen. Sie blieb stehen, atmete tief ein und genoss den vergänglichen Moment, in einem fast leeren Flugzeug zu stehen. Ein unangenehmes Kribbeln wanderte ihren Nacken entlang. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Carolin verstaute ihr Handgepäck schnell im Gepäckfach und machte es sich am Fenster bequem. Die Beinfreiheit war nicht überragend, für eine durchschnittlich große Frau aber üppig und kein Vergleich zu ihrer Neckermann-Ferienflieger-Erfahrung. Das Kribbeln flaute ab, sie lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Alles würde gut werden. Auch Ethiopian-Airlines brachte seine Passagiere in der Regel sicher und bequem an ihr Ziel. Sie erwartete kein genießbares Abendessen, denn die Geschmacksnerven spielten im Unterdruck von Flugzeugen sowieso verrückt. Das führte dazu, dass die Leute Tomatensaft tranken, als würden sie einen 2006er Barolo genießen. Tomatensaft! Carolin schüttelte es bereits, wenn sie nur an dieses rote Gesöff dachte. Sie würde sich einen Film anschauen und dann versuchen, im Sitzen zu schlafen. Zu Hause war ihr dieser Trick schon oft gelungen (viel zu oft, um es jedem unter die Nase zu reiben), da sollte es auf diesem Flug auch kein Problem sein. Ein Kind zu erziehen, einen Haushalt zu führen, an einer Habilitation zu schreiben und gleichzeitig auch noch Vollzeit zu arbeiten war nichts für Weicheier. Da musste man weniger wichtige Dinge wie Schlafen hintanstellen.
Als Carolin gerade ihr iPad auspackte, quetschte sich ein ausgesprochen korpulenter Mittfünfziger in den Sitz rechts neben sie und begrüßte sie mit einem tiefen Grunzen. Carolin rutschte etwas näher in Richtung Fenster, murmelte ein »Guten Abend« und beschäftigte sich mit ihrem elektronischen Alleskönner, in der Hoffnung, nicht angesprochen zu werden. Der Platz würde auch so reichen, nur die rechte Lehne konnte sie jetzt nicht mehr nutzen. Leicht verärgert rückte sie noch etwas näher an die Bordwand. Ihre Position war nicht bequem, aber aushaltbar: Film anschauen, schlafen, frühstücken, aussteigen. Das war ihr Plan und den würde sie konsequent umsetzen. Jetzt kramte der Mann in seiner Tasche, die er unter den Vordersitz gequetscht hatte, und holte ein Buch heraus, das er demonstrativ auf seinen Schoß legte.
Carolin stöhnte innerlich auf, als sie den Titel aus den Augenwinkeln entzifferte. ›Die Klimalüge‹. Hoffentlich bleibt er so gesprächig wie bisher, dachte sie. Für eine missionarische Lektion eines Weltverstehers – eines dieser Über-alles-Bescheid-Wisser – hatte sie heute keinen Nerv. Mikrobiologie und Klimaforschung hatten zwar nicht allzu viele Gemeinsamkeiten, aber Angriffe dieser Typen gehörten auch zu Carolins Alltag. Die aktuelle Lage in Simbabwe war noch unübersichtlich, was aber die üblichen Verdächtigen nicht daran gehindert hatte, sich bereits lautstark zu positionieren: Verschwörungstheoretiker, Verharmloser, Untergangspropheten – alle posaunten ihren gefährlichen Schwachsinn in die Welt. Und dann gab es da ja auch noch die Einheimischen, die fremden Ärzten und Wissenschaftlern oft nicht über den Weg trauten. Wenn sich alles bestätigen sollte, wie es NGOs vor Ort behaupteten, dann hatte Simbabwe den Ebola-Ausbruch nicht im Griff. Das Land war chronisch pleite und hatte ein desolates Gesundheitssystem. Wie sollte es das allein auch schaffen? Wenn erst einmal eine kritische Masse überschritten wurde, dann wäre es nicht mehr nur Simbabwes Problem. Es würde zur Gefahr für ganz Afrika werden – vielleicht sogar für die ganze Welt.
»Wussten Sie, dass die Sonnenaktivität der entscheidende Faktor für die Erdtemperatur ist?«, fragte der Mann, beugte sich zu ihr rüber und tippte dabei mit dem Zeigefinger auf sein Buch. »Steht alles hier drin. Das ist alles bewiesen. Sagt die Universität Stanford. Eine Eliteuniversität! Die erzählen doch kein Mist!«
Carolins Finger verkrampften sich um ihr iPad. Ruhig bleiben! Nicht darauf eingehen, das führt zu nichts. Vor allem: nicht dagegen argumentieren! Das wäre der Kardinalfehler. Sie hatte ihn schon viel zu oft begangen.
»Mmh«, antwortete sie.
»Ja, ich sag es Ihnen! Dieser ganze Schwindel, von wegen CO2 und Industrie, hat doch nur einen einzigen Zweck: Sie wollen die Demokratie aushebeln! Irgendeine Erklärung finden, warum wir die ganzen Flüchtlinge aus Afrika aufnehmen müssen. Wir sollen uns schuldig fühlen, das ist das Ziel! Waren Sie schon mal in Harare?« Der Mann schaute Carolin immer noch an und beugte sich näher zu ihr rüber.
Carolin rutschte weiter zur Bordwand und erwiderte: »Nein, war noch nie in Afrika.«
»Da haben Sie auch nichts verpasst. Heiß, trocken und voller Viehzeug, das einen umbringen will. Kein Wunder, dass die Menschen da nichts auf die Reihe kriegen.« Der Mann begann mit seinem Buch herumzufuchteln. »Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben. Wissen Sie? Die sind schon vor hundert Jahren da unten verhungert, weil sie zu blöd zum Wirtschaften sind. Das liegt nicht am Klima. Dürren gab es in Afrika schon immer. Das liegt an der Sonne. Die brennt denen zu doll auf die Rübe.« Er richtete sich jetzt auf und reichte Carolin seine rechte Hand: »Peter Stelzhammer, Handelsvertreter für Saatgut und Düngemittel.«
Carolin war sich ihrer verzwickten Lage bewusst. Bei der Wahrheit zu bleiben und sich als Wissenschaftlerin im WHO-Auftrag vorzustellen, würde so etwas wie eine Steilvorlage für den rassistischen Handelsvertreter darstellen. Nichts zu sagen wäre auch unhöflich und würde ihn wahrscheinlich nicht zum Schweigen bringen. Also musste eine Lüge her. Sie hatte für solche Fälle eine parat.
»Das sehe ich auch so! Nur dass nicht die Sonne, sondern Gott allein das Schicksal der Menschen bestimmt. Der Herr straft die, die ihn nicht lieben.«
Der Handelsvertreter schaute sie irritiert an und zog seinen Arm vorsichtig zurück.
»Was glauben Sie denn, was diese Seuche ist, die jetzt da unten wütet, die niemanden verschont? Es steht doch alles geschrieben im zweiten Buch Mose. Gott will, dass es geschieht, und so wird es geschehen. Keiner wird verschont werden.«
Carolin beugte sich ebenfalls zu ihrem Sitznachbarn. Der wich zurück und blinzelte. »Sie meinen die Ebola-Epidemie?« Seine Stimme hatte ihren forschen Ton gänzlich verloren.
»Ich meine die sechste Plage! Die schwarzen Blattern. So nennt sie die Bibel und so nenne ich sie auch. Die göttliche Strafe! Egal, was diese Wissenschaftler sagen.«
Carolin schenkte dem Handelsvertreter ihr irrstes Lächeln, das sie produzieren konnte – eine Art Grinsen mit gebleckten Zähnen: »Carolin Falkenberg, Jehovas Zeugin.«
»Ja, ähm, angenehm. Ich werde mir mal eine Zeitschrift holen«, sagte der Handelsvertreter, »die sind nämlich schnell weg. 'Tschuldigung.« Dann mühte er sich hastig aus seinem Sitz.
Carolin schloss die Augen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen – dieses Mal ein echtes. Auf dem Rückweg vom Zeitschriftenstapel bot der Handelsvertreter einem verspäteten Fluggast seinen Premiumsitz zum Tausch an – er wollte lieber in der Nähe des Klos sitzen, sagte er zu ihm.
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