Kapitel 1 - Der Hehler - Teil 2
Ganze drei Atemzüge lang dauerte es, bevor mein Verstand diese Worte verarbeitet hatte.
Natürlich hatte ich immer gewusst, dass Cade alles andere als ein Unschuldslamm war, aber dass nun von Einbrüchen die Rede war, schockierte mich. Ich suchte seinen Blick, doch er schaute noch immer auf seine Füße.
»Du begehst Einbrüche?«, fragte ich tonlos.
Cade ergriff mich am Oberarm, fletschte die Zähne und zog mich ein paar Schritte rückwärts. »Lass ihn da raus, Hehler!«
Der Mann zog die Brauen hoch. »Der Junge hat bereits zugestimmt. Das heißt, es besteht eine Abmachung zwischen ihm und mir. Dir, Cade, bleibt nur noch die Wahl, ob du ihm helfen wirst oder nicht.«
»Ich brauche Ares aber nicht für den Einbruch. Ich kann das alleine machen!«
»Wie gesagt, die Abmachung zwischen deinem Freund und mir ist gültig, so oder so. Und sicherlich wird Ares nicht so dumm sein, sie zu brechen. Er will die Stadt ja unversehrt verlassen, nicht wahr?«
Mir wurde übel, als mir aufging, dass ich einen großen Fehler begangen hatte.
Der Hehler trat wieder an uns heran. Ein herbes, rauchiges Aroma umgab ihn und ich unterdrückte den Drang, zu husten. Er musterte mich mit schwachem Interesse. »Hast du denn schon einmal gestohlen?«
Ich lief rot an, schwieg aber, denn ich konnte nicht wissen, ob die Antwort mich in Schwierigkeiten bringen würde oder nicht.
»Er hat Brot gestohlen«, ächzte Cade. »Und Handschuhe und Seife. Sonst nichts!«
»Das reicht vollkommen, damit er sich ein Bild davon machen kann, was ihn erwartet«, sagte der Mann. Er legte seine Hände auf die Oberschenkel und beugte sich leicht zu mir herunter. »Die Villa, in die du einbrechen wirst, befindet sich im oberen Viertel der Stadt. Also dort, wo die Adligen leben. Du erkennst sie an den blauen Ziegeln. Zwar steht das Haus bis zum Abend leer, aber die Straßen werden patrouilliert. Besonders heute zur Zählung. Das heißt, du wirst sehr vorsichtig sein müssen. Verstehst du das?«
Auf was hatte ich mich bloß eingelassen?
Cade lachte humorlos. »Das soll wohl ein Witz sein, Hehler! Oder willst du etwa, dass man uns entdeckt?«
Der Mann richtete sich wieder auf und wandte seinen Kopf zu ihm. »Ich bewundere dich für deine Kühnheit, Cade. Nicht wenige Male habe ich dir deswegen Dinge durchgehen lassen, für die andere mit ihrem Leben bezahlen mussten, aber gerade überspannst du meine Geduld.«
Cade ließ sich dadurch nicht einschüchtern. »Dann gib mir einen Grund, warum du willst, dass er dabei ist. Dir kann es doch egal sein, wie und mit wem ich die Arbeit erledige.«
»Sieh es als deine Strafe dafür an, dich vor mir versteckt zu haben«, sagte der Hehler eisig. »Außerdem könnt ihr zu zweit mehr tragen. Das vergrößert den Ertrag für mich und damit auch für euch.«
Eine Weile starrten sie sich an, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Ich sah zwischen den beiden umher, wagte aber nicht, das Schweigen zu brechen. Es kam mir vor, als fochten sie einen stummen Kampf miteinander aus, den Cade schließlich verlor, als er seinen Blick auf den Boden senkte.
Der Hehler lächelte zufrieden. »Es wird eine Menge zu stehlen geben, und ich werde euch reichlich belohnen. Für jeden Wertgegenstand, den ihr mir holt, gibt es einen Aufschlag. Das ist doch genau die Chance, um die du mich immer gebeten hast, oder nicht?«
Cade rührte sich nicht. Nicht einmal dann, als der Hehler seine Hand ausstreckte und seine Wange tätschelte. Er biss bloß sichtlich die Zähne zusammen.
»Ihr solltet jetzt aufbrechen«, sagte der Hehler. Er wandte sich von uns ab und hinkte zurück zu der Tür, aus der er getreten war. »Ich erwarte euch in drei Stunden in der Antiquitätenhandlung. Lasst mich nicht warten.«
Cade packte mich sofort am Handgelenk und eilte durch die Gassen. Sein Griff war fest und sein Rücken verspannt, weswegen ich mir die Fragen zunächst verbiss, die sich hinter meiner Stirn aufgetürmt hatten. Ich folgte ihm bloß, bis er schließlich anhielt und mich losließ.
»Scheiße!«, stieß er hervor und raufte sich die Haare. »Warum bist du nicht gegangen, als ich es dir gesagt habe?! Hast du eine Ahnung davon, wie gefährlich dieser Mann ist?!«
»Aber warum hast du dann überhaupt für ihn gearbeitet?«, fragte ich verwirrt. »Schuldest du ihm etwa Geld?«
»Nein.«
»Ist es wegen Nachtkreuz?«
»Natürlich nicht!«
»Warum dann?«
Cade gab mir keine Antwort darauf. Stattdessen murmelte er nur: »Lass es uns einfach so schnell wie möglich hinter uns bringen.«
Ich hatte noch nie einen Einbruch begangen und allein bei der Vorstellung wollte sich mir der Magen umdrehen. Was, wenn wir erwischt wurden? Es gab schlimme körperliche Strafen auf solche Vergehen. Ich hatte sogar mal einen Bastard in einem der Grenzdörfer getroffen, dem man beide Hände und Füße dafür abgehackt hatte.
»Wir müssen das doch nicht wirklich machen, oder? Wir könnten zum Trupp‑«
Ein Klirren, gefolgt von eiligen Schritten, ließ mich zusammenschrecken. Ich blickte über die Schulter und sah nur noch eine zierliche Gestalt in einer Gasse verschwinden. Mit geweiteten Augen und laut hämmerndem Herzen drehte ich mich wieder zu Cade, der sich beeilte, seine eigene Nervosität mit einem unbeteiligten Stirnrunzeln zu kaschieren.
»Wenn ich es könnte, würde ich dich zu unserem Trupp zurückschicken«, sagte er mit gesenkter Stimme und legte mir beide Hände auf die Schultern, »aber der Hehler hat seine Augen und Ohren überall und ich brauche das Geld. Du wirst also mit mir mitkommen müssen.«
Als er meine wachsende Furcht bemerkte, lächelte er mir ermutigend zu. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich ins Haus schleusen und dort wartest du in einem der Räume, bis ich fertig bin. Komm jetzt.«
Trotzdem zitterten mir die Knie, als wir auf ein Dach kletterten, um uns dort umzublicken. Der Wind hatte zugenommen und biss in meine Ohren. Nicht einmal die Sonne vermochte die Kälte zu vertreiben, die sich in meine Glieder geschlichen hatte. Aus den Augenwinkeln sah ich die alte Kirche sowie die Arena, aber ein Meer aus ziegelroten Dächern trennte uns nun von ihnen. Ich verfluchte mich innerlich dafür, je ein Wort mit dem Jungen gewechselt zu haben. Hätte ich ihm doch bloß nicht unsere echten Namen genannt!
»Es ist dort«, murmelte Cade und als ich mich zum ihm umdrehte, zeigte er auf das Dach eines weit entfernten Hauses, das durch seine blauen Ziegel aus den anderen herausstach. »Es wird uns bestimmt eine Stunde kosten, dorthin zu gelangen.«
Mit mir vermutlich sogar noch länger, dachte ich bitter, ließ die Worte aber unausgesprochen.
Wir kletterten wieder hinunter und arbeiteten uns stillschweigend durch Seitenstraßen weiter vor, bis wir die Gegend erreichten, wo sich die Villen der Adligen befanden. Die Häuser hier waren mit bunter Farbe bemalt und wirkten auf mich fast genauso riesig wie die Ruine der Tennre-Kirche. Es gab sogar einige kleine Plätze, an denen Brunnen und Bänke standen und die Straßen hier waren alle frei von Unrat. Es stank auch nicht so fürchterlich wie dort unten in den schmalen Gassen.
Durch den langen Marsch war ich wieder erschöpft und so war es Cade, der eines der Dächer erklomm, um herauszufinden, wie wir uns unserem Ziel am besten nähern konnten, während ich unten stand und mich in den Schatten einer Hausmauer drückte. Schwere Schritte echoten durch die Straßen, obgleich ich niemanden ausmachen konnte. War das die Stadtwache?
Ich verlagerte mein Gewicht. Meine Kleidung war schmutzig und zerlumpt, meine Stoffschuhe löchrig. Abgesehen davon waren Cade und ich Schleicher. Wenn die Stadtwache uns hier erfasste, würde sie uns fraglos verhaften, ganz gleich, ob wir irgendwo eingebrochen waren oder nicht...
Etwas umgriff meine Schulter.
Mit einem erschrockenen Keuchen fuhr ich herum, doch es war nur Cade. Er zog mich ein paar Schritte rückwärts, tiefer hinein in die Schatten, und schaute mit zusammengekniffenen Augen an mir vorbei auf die Straße wie ich es zuvor getan hatte, den Finger an die Lippen gehoben.
Wenige Sekunden später stampften zwei grimmig aussehende Stadtwachen an unserem Versteck vorbei. Ihre Blicke schweiften wachsam über die Gegend und als einer von ihnen dabei in unsere Richtung sah, gefror ich. Für einen schrecklichen Moment war ich überzeugt, er hätte uns gesehen, aber dann wanderten seine Augen einfach über uns hinweg.
»Wir müssen uns über die Dächer fortbewegen«, sagte Cade, sobald die beiden Männer außer Sichtweite waren. »Die Stadtpatrouille ist überall. Außerdem stehen die Häuser nah genug aneinander, um über sie zum blauen Haus zu gelangen. Glaubst du, du kannst noch klettern?«
Ich nickte.
»Dann komm.« Er bedeutete mir, ihm zu folgen und wir erklommen ein verwaistes Malergerüst, das sich an der Wand eines Hauses emporräkelte, und schwangen uns von dort auf das Dach. Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis wir unser Ziel erreichten. Allerdings hatten die Kletterei und das Springen von Dach zu Dach meine Lungen strapaziert und deshalb waren wir gezwungen, uns einige Minuten flach auf die Ziegeln zu legen, während die Stadtwache die Straßen unter uns abmarschierte. Ich musste mir beide Hände vor den Mund pressen, um den Hustenanfall zu dämpfen. Cade beobachtete mich besorgt, bis die Attacke verklungen war und die Wachen weitergezogen waren.
»Es ist schlimmer geworden«, stellte er fest, als er mich auf die Beine zog.
Das wusste ich selbst, aber ich hatte kein Verlangen, darüber zu reden. Also fragte ich: »Wie lange arbeitest du schon für diesen Hehler?«
»Seitdem dein Großvater mir erlaubt, mit den Trupps herzukommen. Also seit drei Jahren«, brummte Cade, bevor er sich umdrehte und über den Rand des Daches auf einen weitläufigen Balkon sprang. Ich tat es ihm gleich.
Er lehnte sich gegen die Balkontür, um zu horchen, was dahinter vor sich ging, ehe er seine Dietriche hervorholte und zwei dünne Stäbe in das Schlüsselloch schob. Doch kaum dass er ein wenig Druck verübte, schwang die Tür von alleine auf. Wir warfen uns verdutzte Blicke zu. Cade fasste sich als Erster und stand auf, um die Dietriche zurück in seinen Gürtel zu haken.
Er holte noch einmal tief Luft und verschwand durch die Tür. Ich wischte mir die Hände an der Hose ab und blieb auf dem Balkon stehen, bis ich von der Straße her die schweren Schritte der Stadtpatrouille vernahm und kurzerhand beschloss, Cade zu folgen, obwohl alle meine Sinne mir das Gegenteil rieten.
Der Raum war üppig dekoriert. Vor den in Nussholz verkleideten Wänden standen mehrere mit Gold verzierte Möbelstücke. Der Boden war mit hellen Kacheln ausgekleidet, die im Licht der späten Mittagssonne glänzten. Es hing ein schrecklicher, süßlicher Geruch in der Luft, der mich an faulende Rosen erinnerte, und die Wärme, die im Zimmer vorherrschte, ließ meine Finger schon nach kurzer Zeit kribbeln.
Cade lauschte bereits an der Zimmertür, als ich eintrat. Auch diesmal schien er nichts Auffälliges auszumachen, wie ich aus dem erleichterten Blick schlussfolgerte, den er mir über die Schulter zuwarf. Dann nahm er plötzlich Anlauf und glitt auf seinen Stoffsohlen geräuschlos über den Boden, bis er vor einer Kommode zum Halten kam. Mit schnellen Fingern öffnete er deren oberste Schublade, zerwühlte die säuberlich gefaltete blaue Kleidung, die darin verstaut war und zog eine goldene, mit himmelblauen Schmucksteinen verzierte Halskette hervor. Er warf sie in die Luft und fing sie wieder auf, bevor er sie mit einer geschmeidigen Bewegung in seine Manteltasche gleiten ließ.
Eine wilde Entschlossenheit sprang mir aus seinem Gesicht entgegen. »Vielleicht gelingt es uns, so viel Geld aufzutreiben, dass wir dich endlich zu einem Heiler schicken können.«
Und da fiel es mir wie Schuppen vor den Augen.
»Deswegen?!«, keuchte ich. »Deswegen begehst du Einbrüche?!«
»Psst, nicht so laut!«
»Du weißt doch, dass ich nicht von Magie geheilt werden will!«, flüsterte ich.
»Die Mediziner haben gesagt, es sei deine einzige Chance, also werden wir sie nutzen.«
»Ich will sie aber nicht nutzen! Es ist meine Entscheidung wie ich sterbe, nicht deine!«
»Genau das ist es ja. Du fürchtest dich vor dem Tag, an dem dein Herz nachgibt oder es nicht mehr in der Lage ist, das Wasser aus deinen Lungen zu halten. Du kannst deinen Großvater und deine Mutter anlügen so viel du willst, aber mich kannst du nicht täuschen, denn jedes Mal, wenn du in Atemnot gerätst, sehe ich die Panik in deinen Augen. Du willst nicht auf diese Weise sterben.«
»Es ist aber nun einmal das Schicksal, das die Götter für mich vorgesehen haben.«
Cade schnaubte. »Die Götter.«
»Ja, die Götter!«
»Und was genau erwartest du von mir? Dass ich einfach danebenstehe und zugucke, wie du stirbst, weil dein Großvater dir eingeredet hat, die Magie sei schlecht, wo sie doch das Einzige ist, das dich retten kann?« Er bleckte die Zähne. »Scheiß auf deinen Großvater! Scheiß auf das Schicksal und Scheiß auf die Götter! Ich werde dich nicht sterben lassen! Und wenn ich dich erst bewusstlos schlagen muss, um dich in eines der Heilerhäuser zu schleppen, so sei es!«
Ich machte große Augen. »Das würdest du nicht tun!«
»Oh, und ob ich das tun werde, du verfluchter Sturkopf.« Er biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. »Genug davon. Lass uns später darüber reden. Ich werde jetzt da rausgehen und den Auftrag erfüllen, während du hier wartest, in Ordnung?«
»Nach allem, was du mir gerade erzählt hast, glaubst du ernsthaft noch, dass ich dich die ganze Arbeit machen lasse? Vergiss es. Ich werde dir helfen.«
»Das wirst du nicht!«
Ungeachtet seiner Worte wollte ich mich an ihm vorbeischieben, doch er stieß mich zurück.
»Ares, du wirst dieses Zimmer nicht verlassen, bis ich fertig bin«, knurrte Cade.
Ich wich einen Schritt vor ihm zurück. Er wurde nicht oft handgreiflich, schon gar nicht mir gegenüber. Es war ihm also ernst und deswegen versuchte ich es anders: »Bitte lass mich dir helfen. Zusammen können wir schneller-«
»Verdammt nochmal, tu dieses eine Mal das, was ich dir sage! Der Hehler hat mich zwar noch nie angelogen, aber etwas an dieser Sache ist faul. Hast du noch dein Seil?«
Als ich bloß das Kinn reckte, trat Cade einen warnenden Schritt auf mich zu. »Das Seil, Ares.«
Noch ein paar Momente stand ich starr und trotzig da, dann ließ ich meine Schultern hängen und öffnete meinen Mantel, um ihm einen Blick auf das Seil zu gewähren, das ich mir über dem Hemd um meinen Bauch gewickelt hatte.
»Gut. Ich werde mich beeilen. Wenn irgendetwas schiefgehen sollte, dann wirst du dich damit vom Balkon hinunterlassen und wegrennen so schnell du kannst, hörst du mich?«
»Ich bin nicht schwach«, platzte es aus mir hervor.
Cade sah mich verwirrt an, ehe sich eine leise Erkenntnis in seine Augen schlich. »Sagst du das wegen vorhin? Ich habe nur versucht, dich aus der Sache herauszuhalten. Natürlich bist du nicht schwach. Wir alle wissen das. Der Einzige, der es nicht weiß, bist du selbst.«
Ich starrte ihn finster an. »Warum hast du mir dann nicht vom Hehler erzählt?!«
»Später«, brummte Cade und wandte sich von mir ab, um zur Tür zu huschen. »Ich will hier so bald wie möglich weg.«
Er wich mir aus, das war mir klar. Cade schien mich sehr wohl für zu schwach zu halten, um ihm bei diesen Dingen helfen zu können. Das Erbärmliche war, ich konnte es ihm nicht einmal wirklich übelnehmen.
»Ich wollte nicht, dass du weißt, wie ich das Geld aufgetrieben habe«, flüsterte Cade da. Er hatte mir den Rücken zugedreht und die Hand auf die Klinke gelegt. »Ich hatte Angst, du würdest es dann erst recht nicht annehmen.«
Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass ich das Geld nicht angenommen hätte, ganz gleich wie er es sich beschafft hätte, doch da hatte er auch schon das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen.
Eine gespenstische Stille legte sich über den Raum.
Nachdenklich setzte ich mich im Schneidersitz auf den Boden und zupfte missmutig an einer Naht meines Ärmels. Selbst wenn ich zulassen würde, dass Cade mich zu einem Heilerhaus brachte, wie würden Großvater, Mutter und der Rest meines Stammes darauf reagieren? Die Magie war eine Grenze, die wir nicht überschritten. Sie war Tabu. Und ich war nicht bereit, meine Familie zu verlieren, nur weil ich zu feige war, meinem Schicksal entgegenzutreten.
Dennoch verbat es mir mein Gewissen, meinen besten Freund all die Arbeit machen zu lassen. Abgesehen davon konnten wir Geld immer gut gebrauchen.
Ich hörte auf, mit der Naht zu spielen. Zwar hatte Cade mir verboten, den Raum zu verlassen, aber vielleicht fand ich ja noch etwas Wertvolles hier. Ich stand also wieder auf und begann, wie Cade zuvor, die Schubladen der Kommode zu durchsuchen. Ich tastete die Kleidung ab, konnte aber zu meiner Enttäuschung nichts finden. Gerade wollte ich die unterste Schublade wieder schließen, da fiel mir ein dunkelblauer Umhang mit einer silbernen Stickerei ins Auge.
Mit einem Mal wurde mir eiskalt.
Blau und Silber...? War das etwa...?
Nein. Das konnte nicht sein. Auf gar keinen Fall. Oder?
Mach dich nicht lächerlich! Wieso soll der Hehler Cade zu so etwas anstiften? Niemand würde das wagen.
Aber was, wenn es doch das war, was ich befürchtete. Die Stickerei... ich konnte nur einen Teil davon sehen, aber sie sah aus wie ein...
Benommen streckte ich meine Hand nach dem Kleidungsstück aus. Meine Finger gruben sich in den samtweichen, edlen Stoff. Mit trockenem Mund zog ich an dessen Enden und entfaltete den Umhang, um die Stickerei aus der Nähe zu betrachten: Ein silberner Kreis.
Das Zeichen der Inquisition.
Bei den Dämonen!
Ich ließ den Umhang los, als hätte ich mich daran verbrannt und machte sogar einige Schritte rückwärts.
Wir sind dabei, die Inquisition auszurauben!
Nacktes Entsetzen erhob sich in mir. Ein paar Sekunden verweilte ich so, ehe ich die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangte.
Cade. Ich muss ihn warnen!
Ohne nachzudenken, stürzte ich aus dem Zimmer. Ich fand mich auf einem umlaufenden Balkon wieder, der um einen quadratisch angelegten, überdachten Innenhof herumführte. Darunter gab es noch zwei weitere Etagen. Auf der rechten und linken Seite verband jeweils eine Wendeltreppe alle Stockwerke miteinander. Fackeln hingen in Halterungen an den Wänden und tauchten den ganzen Hof in ein schummriges Licht. Auf Anhieb konnte ich um die zwanzig Türen ausmachen.
Auch erhaschte ich einen kurzen Blick auf Cade, der gerade in einem der gegenüberliegenden Räume verschwand.
»Cade!«, zischte ich.
Natürlich hatte er mich nicht gehört, also rannte ich los. Ich hatte nicht einmal die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als mir schwindelig wurde und ein scharfer Stich durch meinen Brustkorb schoss. Ich hielt mich am Geländer fest und bemühte mich, meine Atmung unter Kontrolle zu kriegen, doch stattdessen überkam mich ein starker Hustenreiz.
»Wer macht da so einen Lärm?«, rief jemand verärgert.
Alles in mir erstarrte. Selbst mein Herz setzte kurz aus. Ich sank in die Hocke und presste mich an die Wand, die Hände vor den Mund gedrückt, während mir schlagartig bewusst wurde, dass der Hehler sehr wohl gelogen hatte.
Die Villa war nicht leer.
Wir waren nicht allein.
Gleich mehrere Türen öffneten sich in den unteren Stockwerken. Es traten junge Frauen und Männer heraus. Allesamt hatten sie längliche Gesichter und Haare und Haut so weiß wie der Mond.
»Klingt, als müsse da jemand mal dringend zu einem Heiler!«, hörte ich einen spotten.
»Kann man denn nicht mal bei den Meditationsübungen ein wenig Ruhe haben?«, zischte ein anderer.
»Spinnt ihr? Wieso schreit ihr jetzt alle rum?«
Das ist eine verdammte Inquisitorenschule!, dachte ich fassungslos.
Meine Augen suchten reflexhaft nach einem Fluchtweg. Drei Türen weiter stand Cade wie zur Salzsäule erstarrt, seine Haut war aschfahl. Er winkte mich zu sich herüber, doch ich schüttelte den Kopf. Der Reizhusten hielt meine Lungen noch immer in Schach und die weißen, dünnen Stäbe des Geländers würden mich kaum vor den Blicken der Blassen verbergen. Es war ein Wunder, dass sie mich nicht schon längst entdeckt hatten. Ich wollte sie nicht unnötig auf Cade aufmerksam machen.
Mit einer Hand über Nase und Mund gedrückt, um bloß nicht zu atmen, kroch ich von Cade weg auf das Balkonzimmer zu, durch das wir eingestiegen waren.
Wäre ich bei guter Gesundheit gewesen, hätte ich es aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz vielleicht sogar geschafft, mich unbemerkt aus dem Staub zu machen. Ich hätte hinunterklettern und dann an der Haustür klopfen können, um die Inquisitoren unter irgendeinem Vorwand so lange abzulenken, bis Cade über das Seil entkommen wäre. Aber ich war nicht gesund und der verfluchte Husten brach gnadenlos aus mir hervor, noch ehe ich die Tür erreicht hatte.
»Leute, da oben ist jemand!«, rief eine junge Inquisitorin.
»Ich sehe ihn auch! Dort, bei Inquisitorenmeister Senges Zimmer!«
Noch immer nach Luft japsend ließ ich alle Vorsicht fallen und sprang auf, um in das Zimmer zu hechten. Mit fahrigen Fingern öffnete ich die Tür und knallte sie hinter mir zu, worauf das Geschrei unten zunahm.
»Ein Einbrecher!«
Vergebens tastete ich nach einem Schlüssel im Türschloss. Also stürmte ich auf den Schreibtisch zu, um den Stuhl zu nehmen und ihn unter die Klinke zu wuchten. Gerade noch rechtzeitig. Der Stuhl bewegte sich leicht, als die Inquisitoren wie besessen gegen die Tür zu hämmern begannen.
Ich wartete nicht länger, sondern wirbelte herum und stürzte auf den Balkon zu. Dort befreite ich mich von meinem Mantel und schmiss ihn auf den Boden, ehe ich das Seil von mir löste.
Hinter mir bebte und krachte das Holz unter den Schlägen der Inquisitoren.
Zittrig schlang ich ein Ende des Seiles um das Geländer und knotete es fest.
Noch ein Krachen.
Ich sah mich gehetzt um, während ich das lose Ende des Seils hinunterwarf. Es war nicht lang genug, um ganz bis zur gepflasterten Straße zu reichen, aber das war wohl meine geringste Sorge.
Ich zog mir den Mantel genau in dem Moment über, in dem der Stuhl nachgab und die Tür aufflog. Zwei junge Inquisitoren standen schnaubend im Türrahmen, einer dick, der andere kaum älter als ich. Hinter ihnen sah ich noch weitere feindselige Gesichter. Nie zuvor hatte ich einem Blassen gegenübergestanden, geschweige denn einer ganzen Gruppe. Kurz war ich wie vom Donner gerührt, genau wie sie. Dann kam die Menge in Bewegung.
Der Dicke und der andere Junge jagten auf mich zu, während ich mich über das Geländer schwang, das Seil fest umgriffen. Ich hatte mich gerade einen Meter hinuntergehangelt, als ihre bleichen Gesichter über mir auftauchten.
Sie brüllten irgendetwas und versuchten mich zu packen. Als es ihnen missglückte, griffen sie nach dem Seil, um es hochzuziehen. Auch das gelang ihnen nicht, sodass ich mich schon in Sicherheit wähnte, als die Jungen von einer bösartig grinsenden Frau zur Seite gestoßen wurden. Sie zückte ein Messer. Ich starrte sie an und blickte dann hinunter auf die Pflastersteine, die sich noch immer sechs Meter unter mir befanden.
Von Panik erfasst, ließ ich mich nun zügig am Seil hinab. Ich scheuerte mir die Handflächen am faserigen Material wund, aber ich war trotzdem nicht schnell genug.
Die Inquisitorin durchschnitt das Seil.
Ich brauchte fast genauso lange, um zu verarbeiten, dass ich stürzte, wie mein Fall andauerte.
Ich schrie nicht und gab auch sonst keinen Ton von mir. Alles, was ich spürte, war ein seltsames, flaues Gefühl in meiner Magengegend und die vorbeizischende Luft, bevor ich auf dem Boden aufprallte.
Irgendwie schaffte ich es, auf meinen Füßen zu landen, doch der Schmerz, der meine Knie und Hüfte dabei durchfuhr, ließ mich stolpern und rückwärtsfallen. Ich schlug mit dem Kopf auf dem Pflaster auf und spürte etwas Warmes über meine Kopfhaut sickern. Eine gefühlte Ewigkeit war ich wie gelähmt, während die Schwärze in mein Sichtfeld kroch und sich wieder zurückzog.
Ich blinzelte nach oben, wo meine Verfolger über das Geländer gebeugt standen.
»Da ist noch ein Zweiter im Haus!«, rief jemand hinter ihnen.
»Er läuft weg!«
Die Frau fuhr herum. »Schnappt ihn euch!«, kreischte sie, ehe sie sich wieder den beiden Jungen zuwandte. »Eder, Percival, holt mir den Bastard da unten.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro