
Kapitel 3 - Der Rat
Es dauerte über eine Woche, bis wir den ersten Distrikt erreichten, was hauptsächlich an den Grenzen lag.
Die Grenzwächter zwischen der Steppe und den Distrikten kontrollierten mit großer Sorgfalt alles, was man mitbrachte, weshalb Kjell und ich die Landesgrenze mit dem Schriftstück durch einen geheimen Tunnel überqueren mussten. Den Inquisitoren an den Distriktgrenzen konnten wir ebenfalls ausweichen, indem wir Schleichwege nahmen.
Doch das alles kostete Zeit und Nerven und deswegen war ich froh, als wir die letzte Grenze hinter uns gelassen hatten und den strahlend weißen Palast auf dem Odir - dem Berg, nach dem die Hauptstadt des ersten Distrikts benannt worden war - thronen sahen.
Oben im Palast angekommen, trennten Kjell und ich uns kurz, um uns in unseren Zimmern zurechtzumachen. Ich hatte wenig geschlafen, denn ich machte mir Sorgen um Krähe. Ich hatte dem Jungen bereits kurz nach unserer Abreise aus Al-Khurab die Prüfungsaufgabe mitgeteilt und ihm auf Kjells Befehl hin bis zum heutigen Tag Zeit gegeben, um sich einen Plan auszudenken. Krähe war geschockt gewesen, aber er hatte nicht versucht, mit mir zu diskutieren. Er hatte nicht einmal gefragt, warum ich ihn mit meiner Magie berührte anstatt ihm einen Brief zu schreiben.
Kjell hatte mich außerdem dazu genötigt, hin und wieder nach meinem Schüler zu sehen. Der Junge war nur selten in seinem Zimmer gewesen, aber die paar Male, als ich ihn dort vorgefunden hatte, hatte er zusammengesunken auf seiner Matratze gesessen und vor sich ins Leere gestarrt, voller düsterer Gedanken, die ich Kjell nicht mitteilte, weil sie ihn rein gar nichts angingen. Das sagte ich ihm auch so.
Mit nervös klopfendem Herzen wusch ich mich und schlüpfte danach in frische Kleidung. Gerade war ich dabei, mir die Weste zuzuknöpfen, da sah ich in der Reflexion des Spiegels, wie sich die Geheimtür öffnete und Kjell eintrat.
Ich ließ von den Knöpfen ab, denn meine Finger fühlten sich plötzlich ganz kalt an, und drehte mich langsam zu ihm um. »Wirst du ihn wirklich verbannen, sollte er durch die Prüfung rasseln?«
»Wenn er sie nicht besteht, werden wir ganz andere Sorgen haben, als seine Verbannung«, sagte Kjell nüchtern. »Es genügt ein Fehltritt seitens der Rhenari, um die Sanael dazu zu bewegen, ein Exempel an einer der Geiseln zu statuieren. Was dann geschehen wird, würde uns um mehrere Jahrzehnte zurückwerfen.«
Ich schlug die Augen nieder.
»Glaub mir, Junge«, seufzte Kjell, »ich hätte auch lieber einen erfahreneren Schatten an Thoraks Seite gewusst. Aber Krähe hat nun einmal die Zügel ergriffen, ohne das Pferd zu kennen, und nun muss er die Konsequenzen tragen.«
Ich schnaubte bitter. »Du musst nicht um den heißen Brei herumreden. Ich weiß, ich habe bei Krähe versagt. Ich war ihm kein guter Lehrmeister, sonst hätte ich...« ... ihm beigebracht, blind zu gehorchen? Nicht aus der Reihe zu tanzen? Wegzuschauen und zu nicken?
»Du hast nicht versagt. Sich mit den Konsequenzen seines Handelns auseinanderzusetzen ist eine Lektion, die jeder Schattenlehrling früher oder später durchlaufen muss. Du warst nicht anders, falls du dich noch entsinnen kannst... Ares, ich hätte ihm keine solch schwierige Prüfung zugemutet, wäre ich nicht der Überzeugung, dass er sie mit fliegenden Fahnen bestehen kann. Alles, was du tun musst, ist sicherzugehen, dass er die richtigen Entscheidungen trifft. Übrigens wird sich der Rat in einer Stunde zusammenfinden. Bis dahin sollten wir erfahren haben, wie Krähe die Sache anzugehen gedenkt.«
Ich nickte, schloss die Augen und atmete tief ein.
›Bist du bereit?‹, fragte ich meinen Dämon.
›In erster Linie bin ich müde‹, lautete Fenris' mürrische Antwort.
›Du bist nicht müde, dir gefällt diese Prüfung nur genauso wenig wie mir. Aber es führt kein Weg daran vorbei.‹
›Kannst du nicht noch einmal mit deinem Schattenmeister sprechen?‹
›Du meinst, Kjell würde seine Meinung jetzt ändern, nachdem er die ersten hundert Male daran festgehalten hat?‹
›Jetzt übertreib nicht. Du hast ihn nur siebenundzwanzig Mal darauf angesprochen. Was ist mit der Königin?‹
›Sie wird sich nicht einmischen wollen, solange es ihre Pläne nicht behindert und das wird es nicht. Es wird sie vorantreiben.‹
Der Dämon tat seinen Frust fluchend kund.
Ich wartete geduldig, bis er sich beruhigt hatte. ›Bist du nun soweit?‹
Wieder fluchte er aus vollster Seele, schwieg dann ein paar Augenaufschläge lang und murrte schließlich: ›Jetzt bin ich es.‹
Die Barrikade zu seinem Geist verblasste. Ein angenehmer, kühler Schauer durchlief mich und als ich daraufhin meine Augen öffnete, stand ich nicht länger in meinem Zimmer, sondern hockte im Körper des Falken auf der Fensterbank eines großzügig bemessenen und doch einfach gehaltenen Raumes im rhenarischen Herrscherhaus. Von draußen wehte ein warmer Wind über mein Gefieder.
Krähe ging in seinem Zimmer auf und ab und versuchte, seinen Atem ruhig zu halten. Zwecklos. Seit er seine Prüfungsaufgabe erhalten hatte, hämmerte sein Herz gegen seinen Brustkorb, als wollte es ihm die Rippen zertrümmern. Das alles war ein Albtraum, doch ganz gleich, wie sehr er sich anstrengte, er konnte nicht aus ihm erwachen.
›Krähe‹, sagte ich.
Der Junge fuhr zusammen und sein Kopf schnappte in meine Richtung. »Ares?«
›Ja. Ich bin hier, um mir deine Vorgehensweise anzuhören.‹ Selbst nach meinem eigenen Ermessen klang meine Stimme steif und kalt.
»Mhm«, machte Krähe. Er kam auf mich zugelaufen und kniete sich an seinem niedrigen Schreibtisch auf den Boden. Geistesabwesend nahm er den Stapel des Kartenspiels, das dort gelegen hatte, in die Hand und begann ihn zu mischen.
Meine Krallen kratzten über das Holz, als ich mein Gewicht verlagerte, von der plötzlichen Furcht gepackt, dass mein Schüler es sich anders überlegt hatte und die Prüfung verweigerte. Ich wusste nicht, was ich dann getan hätte.
»Es wird nicht schwer sein, sie gegen ihn aufzubringen, weißt du?«, murmelte Krähe. »Die Edlen sind bereits alle aufgebracht, weil er zugelassen hat, dass man ihnen ihre Erstgeborenen weggenommen hat.« Er hielt mit dem Mischen der Karten inne. »Ares, wie lautete eigentlich deine Schattenprüfung?«
Obgleich Kjell sich selbst nicht länger als mein Lehrmeister bezeichnete, hatte ich das Gefühl, als dauerte meine Prüfung noch immer an, aber das erwähnte ich Krähe gegenüber nicht. Stattdessen sagte ich: ›So etwas wie eine offizielle Schattenprüfung habe ich nie abgelegt. Aber natürlich hat man auch meine Loyalität getestet.‹ Ich erzählte ihm, dass man mich nach Senges Tribunal in einen Raum mit einem Wegelagerer eingeschlossen hatte, dessen Aussage die Inquisition als Beweis für meine Flucht aus der Burg und somit meine Untreue gegenüber der Krone hatte anführen wollen, und mir den Befehl erteilt hatte, seine Erinnerungen an mich auszuradieren.
»Die Erinnerungen eines Distriktlers?!«, keuchte Krähe. »Damit hast du doch eines der fünf Magiegesetze gebrochen!«
›Ja, das habe ich.‹
»Aber vergilt der Gesetzstein bei dir nicht Gleiches mit Gleichem? Das hieße ja dann, der Tribut hat dir auch deine eigenen Erinnerungen genommen! Und überhaupt, gegen die Gesetze vorzugehen ist doch schrecklich schmerzhaft für dich!«
›Es ist ja auch der Sinn einer Prüfung, den Prüfling ein Opfer darbringen zu lassen. Nur wer in der Lage ist, seinen eigenen Bedürfnissen und Wünschen den Rücken zuzukehren, kann ein vollwertiger Schatten werden. In unseren Leben müssen wir nämlich vieles aufgeben, was für andere selbstverständlich ist: Freiheit, Emotionen, Freundschaft, Liebe und manchmal auch unsere eigenen Moralvorstellungen.‹
»So viele Opfer«, nuschelte Krähe. »Aber wir tun es für das Allgemeinwohl, oder?«
›Es obliegt uns, Gefahren frühzeitig zu erkennen und sie abzuwenden‹, bestätigte ich. ›Deshalb sind es immer wir Schatten gewesen, die das Schicksal der Distrikte gelenkt haben, auch wenn unsere Namen nie in den Geschichtsbüchern auftauchen.‹
Der Junge mischte das Kartenspiel wieder. Seine Gedanken purzelten wild durcheinander, aber ich war erleichtert keinen Groll gegen mich oder Kjell in ihm auszumachen, weil wir ihn vor diese grausame Aufgabe gestellt hatten.
»Was geschieht eigentlich, wenn ich die Prüfung nicht bestehe?«, fragte Krähe.
Ich zögerte kurz. ›Darüber sollten wir uns vorerst keine Gedanken machen. Gib einfach dein Bestes. Das ist alles, was du tun kannst. Apropos. Wie lautet denn nun dein Plan?‹
~
Nachdem ich mit Krähe gesprochen hatte, machten Kjell und ich uns auf zu den Gemächern von Königin Celeste, wo der Rat stattfinden sollte.
Als wir uns aus dem Geheimgang zwängten, strahlte uns die Nachmittagssonne entgegen und ich musste die Hand heben, um mich vor ihr zu schützen. Nur allmählich gewöhnten sich meine Augen wieder an die Helligkeit.
Kjell und ich waren nicht die Ersten, die sich eingefunden hatten. Außer der Königin saßen bereits die Hohepriesterin Delphi und der Kriegsherr Vidarr am niedrigen, rechteckigen Tisch. Zu meiner Verblüffung war aber auch Prinzessin Svaorise anwesend, die sofort aufsprang, als sie uns bemerkte.
»Ares! Kjell!«, rief sie verzückt. »Willkommen zurück!«
Mit vor Freude leuchtendem Gesicht kam sie auf uns zugeeilt. Ich hatte nicht einmal Zeit, mich zu verbeugen, da hatte sie auch schon die Arme um mich geschlungen. Der Duft von Apfel und Lilien umhüllte mich, bevor sie mich wieder losließ und zurücktrat.
»Darf ich vorstellen«, sagte sie lächelnd und verneigte sich scherzhaft vor mir. »Das neueste Ratsmitglied in spe.«
»Oh«, machte ich.
»Oh?« Sie hob eine Braue. »War das wirklich schon alles oder kommt da vielleicht noch mehr, wenn ich dich schüttele?«
Ich grinste. »Das haben andere vor Euch versucht, aber davon wird es leider nicht besser.« Zwinkernd fügte ich hinzu: »Herzlichen Glückwunsch. Das sind großartige Neuigkeiten, Svaorise.«
Ich freute mich tatsächlich für sie, immerhin war sie kaum siebzehn Jahre alt und hatte sich ihren Platz mit Fleiß und harter Arbeit erkämpft. Zwei Jahre lang hatte sie etliche Chroniken über die Steppe gelesen und selbst die Sprache der Clans studiert. Sie hatte jedes Buch über den Blutkönig und die Artefakte verschlungen, das sie hatte in die Finger bekommen können, und war sogar vom Hexenmeister über den Jahrhundertkrieg, die Dämonen und den Gesetzstein unterrichtet worden.
»Noch großartiger wäre es, wenn ich eine Stimme hätte«, erwiderte sie verstimmt. »Aber aus einem unerfindlichen Grund ist meine Mutter der Meinung, ich sollte noch keine haben.«
Der Königin war das keineswegs entgangen. »Die Entscheidungen, die wir hier treffen, prägen nicht nur unser Land, sondern den ganzen Kontinent, Svaorise«, sagte Celeste. »Es ist also durchaus im Rahmen der Vernunft, wenn ich dich darum bitte, zumindest die nächsten zehn Ratssitzungen abzuwarten, bevor du dich einmischst.«
Die Prinzessin verdrehte die Augen, ohne sich zu ihrer Mutter umzudrehen. Dann lächelte sie mir schelmisch zu und ließ sich im Anschluss noch von Kjell beglückwünschen.
Wir setzten uns an den Tisch und dort begrüßten uns Celeste, Vidarr und Delphi und während wir uns Wein und Wasser eingossen, fanden sich auch die restlichen Ratsmitglieder ein: der falsche König Regulus, Großinquisitorin Hiraya, der Hexenmeister Listbart und zu guter Letzt auch Dorian, der Herr der Kampfmagier - der Auguren.
Damit waren wir fast vollständig. Nur Hadrian, der Oberste Heilermeister, war nicht zugegen, aber das war nichts Ungewöhnliches. Tatsächlich hatte ich ihn noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Angeblich wäre er zu beschäftigt mit seinen Pflichten in Kalidur, um dem Rat beizuwohnen.
Wir begannen die Sitzung, indem Kjell den Anwesenden die derzeitige Situation in der Steppe schilderte. »Bis auf Eris Hinrichtung hätte es nicht besser laufen können, was wir insbesondere Krähes Einsatz zu verdanken haben. Das ist einer der Gründe, aus denen wir beschlossen haben, seine Schattenprüfung vorzuziehen.«
»Eine Prüfung?«, wunderte sich Svaorise. »Wie lautet sie?«
Nachdem Kjell es ihr dargelegt hatte, wirkte die Prinzessin verstört. »Das ist eine... große Aufgabe für einen Einzelnen. Seid Ihr Euch denn sicher, dass er dazu in der Lage sein wird?«
»Ja, das ist er. Er hat nämlich bereits einen Plan ausgeklügelt. Ares?«
Ich räusperte mich. »Es geht wie gesagt darum, die rhenarischen Edlen dazu zu bringen, sich gegen ihren eigenen Dakahn zu wenden, damit Yarrans Aufstieg zu einem Großdakahn nichts mehr im Wege steht. Deswegen wird Krähe...« Ich stockte, denn auf einmal war ich mir der Anwesenheit der Prinzessin sehr gewahr. Sicher wusste sie, was wir Schatten taten. Jemand musste ihr gesagt haben, dass wir Dinge erledigten, die in den Augen anderer verachtenswert waren. Bestimmt war sie sich im Klaren darüber, dass Krähe und ich keine Ritter in strahlenden Rüstungen waren, sondern Diebe, Lügner und Intriganten... oder etwa nicht?
»Krähe wird... ähm...«
Plötzlich brannte mir das Gesicht. Das erste Mal seit langem schämte ich mich all unserer Taten, und es war, als erwachte ich aus einer Trance, die mich jahrelang im Griff gehabt hatte. All die Magieverbrechen, die ich begangen hatte, all die Hinrichtungen, die ich zu verantworten hatte, drückten auf mich nieder wie eine fallende Mauer, und die Worte, die ich mir so sorgsam zurechtgelegt hatte, zerbröselten auf meiner Zunge. Ich konnte sie einfach nicht aussprechen.
Kjell war sichtlich verärgert über mein Zaudern, erbarmte sich meiner aber schließlich.
»Krähe wird den Edlen Dokumente zuspielen, in denen Thorak als Verräter und Schwächling abgestempelt wird«, sprang er ein. »Er ist bereits im Besitz von Briefen zwischen dem Dakahn und seinem ehemaligen Hauptspion, in denen er diesen darum bittet, seine Edlen zu beschatten. Wir haben auch Informationen bezüglich der unrechtmäßigen Hinrichtung seines Onkels, eines ehemaligen Anwärters auf den Titel des Dakahns, und sollten die Aufzeichnung dieses Scheingerichts demnächst erhalten. Das wird vermutlich jedoch nicht ausreichen. Daher werden wir zusätzliche Dokumente in Umlauf bringen, wie zum Beispiel Berichte von Schamanen, in denen nahegelegt wird, Thorak habe die Geisteskrankheit seiner Mutter geerbt. Wir werden den Archivaren im Haus der Schriften außerdem Bestechlichkeit im Hinblick auf das Vertuschen von Thoraks ausländischer Abstammung vorwerfen. Die Archivare werden sich nur entlasten können, wenn sie seine Ahnenurkunde aus den geschlossenen Archiven hervorholen. Ebendiese wird jedoch beweisen, dass durch Thoraks Adern tatsächlich nicht nur Steppenblut fließt. Das wird ihn praktisch dazu zwingen, abzudanken. So etwas vor den Hohepriestern zu verheimlichen, ist nämlich eine Todsünde.«
Delphi strich sich ihr rabenschwarzes Haar hinters Ohr, wirkte aber ansonsten völlig unbeteiligt.
Svaorise fragte langsam: »Diese zusätzlichen Dokumente, von denen Ihr sprecht... sind das Fälschungen?«
»Ja«, sagte Kjell, ohne mit der Wimper zu zucken.
Die Prinzessin starrte ihn an. »Ist es denn nicht strafbar, Fälschungen zu erstellen?«
»Das ist es, weshalb er sich nicht dabei erwischen lassen sollte.«
»Krähe ist doch aber erst seit drei Jahren ein Lehrling«, presste die Prinzessin hervor. »Wie könnt Ihr da schon so viel von ihm verlangen? Diese Prüfung grenzt ja geradezu an Fahrlässigkeit. Ich-«
»Svaorise«, mahnte die Königin sie. »Das ist eine Sache unter Schatten. Wir haben uns nicht in diese Belange einzumischen.« Sie betrachtete Kjell und mich eindringlich. »Ich stimme meiner Tochter jedoch zu. Diese Prüfung ist riskant. Sie könnte uns viel kosten.«
»Leider hat der rhenarische Dakahn sein Vertrauen in die übrigen Spione verloren«, sagte Kjell. »Krähe ist der Einzige, den er in seiner Nähe duldet. Entweder schafft der Junge es oder wir werden nicht darum herumkommen, den Dakahn einen öffentlichen Selbstmord begehen zu lassen, und zwar unter Einfluss von Ares' Magie. Dadurch vermeiden wir, dass Yarran ein Meuchelmord vorgeworfen werden kann, allerdings birgt die Freisetzung von so viel Magie eine nicht zu unterschätzende Gefahr: dämonische Übertritte.«
Svaorise kämpfte mit den Tränen. »Ares. Was sagst du dazu?«
»Krähe ist sich all dessen bewusst und hat der Prüfung zugestimmt«, sagte ich matt.
»Das war nicht meine Frage.« Die Stimme der Prinzessin war schneidend scharf. »Meine Frage war-«
»Genug, Svaorise«, sagte die Königin. »Kjell. Ares. Auch wenn es sich anders anhören mag, aber meine Tochter und ich vertrauen eurem Urteil in dieser Angelegenheit. Gibt es noch etwas anderes aus der Steppe zu berichten?«
Ich atmete auf, dankbar für den Themenwechsel, auch wenn sich die Blicke der Prinzessin nach wie vor auf mich niederbrannten. Kein einziges Mal schaute ich in ihre Richtung. Dazu fehlte mir schlichtweg der Mut.
Kjell erzählte dem Rat derweil vom Fund des Schriftstückes. Die nächsten Tage über wollte er sich jeden Morgen mit mir zusammensetzen, um die Glyphen zu dekodieren.
Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da meldete sich der Augur mit verkniffener Miene zu Wort. Das verwunderte mich, da er die Stimme sonst kaum erhob.
»Habt Ihr schon über meinen Vorschlag nachgedacht, mich einige der Auguren zu Eurer Leibgarde ausbilden zu lassen, Eure Majestät?«
Der Hexenmeister neben ihm gab ein Grummeln von sich, das sich anhörte wie ›Bei den Göttern, nicht noch mehr von seiner Sorte.‹
»Dorian«, sagte die Königin zaghaft, »ich habe Euch bereits gesagt, dass ich noch darüber nachdenken muss. Ich finde Eure Begründung, dass Reinblut nicht von Dämonen besetzt werden kann und sie sich deshalb als königliche Leibwachen eignen, durchaus sinnvoll. Doch ich muss auch in Erwägung ziehen, dass sie genauso gut Artefakte benutzen könnten, die die Magiegesetze zu brechen in der Lage sind. Ich will keinem Reinblut unterstellen, der Königsfamilie etwas Böses zu wollen, dennoch könnt Ihr mein Zögern im Hinblick auf unsere Geschichte sicherlich nachvollziehen.«
»Gewiss«, sagte der Augur. Er schäumte vor Wut. Nicht, dass man es ihm ansah, denn bis auf seine geröteten Wangen verzog er keinen Muskel. Aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es in ihm brodelte und als sich sein Blick mit meinem kreuzte, da erwiderte ich ihn zwar vermeintlich gelassen, krümmte mich aber innerlich zusammen. Mir dämmerte, der morgige Unterricht bei ihm würde die reinste Qual werden.
Auch Vidarr hatte einen Punkt hervorzubringen. Über die letzten zwei Jahre hatten die Grenzüberschreitungen im Norden des zweiten Distrikts weiter zugenommen und in der Zeit waren auch Berichte über Herunen aufgetaucht, die einem solch heftigen Kampfrausch verfielen, dass ein Einzelner von ihnen eine halbe Einheit von Grenzwächtern auszulöschen vermochte.
Diese Mitteilungen waren fraglos überzogen, da sie von den Baronen des zweiten Distrikts stammten und diese waren schon seit längerer Zeit über die Untätigkeit der Krone erbost. Durch die Berichte bezweckten sie vermutlich, die Krone dazu zu drängen, die Kampfmagier zu mobilisieren, um die Herunen zurückzutreiben und die Grenzen ein für alle Mal zu sichern. Zwar hätte die Königin das gerne veranlasst - alleine deswegen schon, um die Kluft zwischen den Baronen und dem Königshaus nicht weiter zu vergrößern - nur waren ihr die Hände gebunden. Sie konnte die Auguren nicht ausschicken, denn es bestand die Möglichkeit, dass sie der Dämonen gewahr wurden, die diese Herunen besetzten. Zumindest deutete alles darauf hin, dass wir es mit Besessenen zu tun hatten.
Alles, was die Königin dem zweiten Distrikt bieten konnte, war die Errichtung neuer Wachtanlagen. Ein schwacher Trost, sowohl für die Barone als auch für die Zivilbevölkerung an der Grenze. Vidarr tat sein Bestes, nicht so frustriert dreinzublicken, wie er sich sicherlich fühlte.
Am Ende der Sitzung wirkte die Königin erschöpft, dennoch gratulierte sie Kjell und mir vor versammelter Mannschaft zum Abschluss des Friedensvertrags zwischen den beiden verfeindeten Clans und auch die anderen Ratsmitglieder schüttelten uns dafür die Hände.
Nach und nach löste der Rat sich auf, aber erst nachdem die Prinzessin den Raum verlassen hatte, stand ich auf und schritt zur Königin.
»Eure Majestät«, sagte ich leise, während ich mich niederkniete. »Habt Ihr Neuigkeiten über meine Großmutter?«
Sie nickte betrübt. »Maressas Zustand hat sich nicht gebessert. Haven hat mir berichtet, ihre Schwächeanfälle treten noch immer regelmäßig auf und ihre Verwirrung hat zugenommen. Es tut mir leid, Ares.«
Es war nicht so, dass ich etwas anderes zu hören erwartet hatte. Trotzdem verkrampfte sich etwas in mir.
Die Königin legte mir ihre Hand auf den Arm. »Du solltest sie bald besuchen gehen.«
Ich nickte und verabschiedete mich von ihr. Mit einer schwelenden Sorge im Herzen betrat ich die Geheimgänge, wo Kjell mit einer Öllampe gewartet hatte. Er musste mich nur kurz anschauen, um zu wissen, was mich belastete.
Schweigend liefen wir durch die Gänge, bis er sagte: »Heute solltest du dich ausruhen und morgen habe ich vor, ein großes Versäumnis meinerseits nachzuholen und dich an die Glyphen heranzuführen. Aber übermorgen wirst du Zeit haben, in die Drasburg zu gehen, um Maressa ein neues Artefakt zu bringen.«
Wieder legte sich eine schwere Stille über uns und abermals war es Kjell, der sie brach.
»Hör zu, ich weiß, es ist das Letzte, mit dem du dich befassen willst, aber du wirst von nun an behutsam im Umgang mit den Erbbaronen sein müssen, wenn du die Burg betrittst. Noch behutsamer, als du es bisher schon warst. Valerius und Cassandra wittern bereits, dass ihre Zeit gekommen ist und werden sich dir gegenüber nicht länger zurückhalten. Das heißt, du wirst in Zukunft einen sehr schmalen Grat wandern müssen. Weder darfst du ihnen zu viel noch zu wenig Kontrolle über dich einräumen. Beides könnte gefährlich für dich werden.«
»Ich werde vorsichtig sein«, sagte ich und entschied, dass nun ein guter Zeitpunkt war, eine Bitte hervorzubringen, die mich schon seit Wochen beschäftigte. »Kjell, Meggie hat in anderthalb Wochen Geburtstag und ich würde sie gerne besuchen gehen.«
»Ich weiß, Junge, und solange du dich während des Magieunterrichts anstrengst und mir hilfst, Fortschritte bei der Entzifferung der Glyphen zu machen, habe ich nichts dagegen«, sagte der Herr der Schatten.
Eifrig versprach ich ihm, mein Bestes zu geben und als ich wenig später allein auf meinem Bett lag und hinauf zum himmelblauen Baldachin starrte, da schlich sich trotz all der Geschehnisse in der Steppe, Krähes Prüfung und der Krankheit meiner Großmutter ein Lächeln auf mein Gesicht.
Wolke, Merle und Meggie. Bald werde ich sie wiedersehen.
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