Kapitel 23
Die ersten Tage ohne Paul sind die Hölle.
Es vergeht keine Minute wo ich nicht daran denke, was Paul wohl jetzt gerade macht. Ist er schon am Flughafen? Fliegt er wirklich allein? Vermisst er mich? Hat er bereits Ersatz für mich gefunden, jemanden der weniger Ansprüche an ihn stellt, und ihn im Bett genauso befriedigen kann? Was, wenn er in Nizza eine sexy Französin kennenlernt und mit ihr ein paar heiße Tage verbringt? Ein wenig Spaß, dem war er ja nie abgeneigt. Und mehr war das zwischen uns ja für ihn anscheinend auch nicht.
Mein ganzer Körper fühlt sich an wie mit Blei gefüllt, während ich mich durch den Tag schleppe, mich in meiner Wohnung verstecke vor der Sonne und dem Leben, das von draußen versucht durch meinen Schutzwall zu brechen. Kinderlachen, fahrende Autos, bellende Hunde. Nichts davon will ich hören, denn alles erinnert mich daran, was ich verloren habe.
Die Tatsache, dass ich vier Tage Urlaub habe, sind Fluch und Segen zugleich. Zwar kann ich mich in meiner Wohnung verkriechen und muss mich meinen Arbeitskollegen nicht sofort stellen, aber es gibt auch nichts, was mich von meinem Leiden ablenkt. Egal, was ich versuche, meine Gedanken kehren unweigerlich zu Paul zurück. Jeder Blick auf meine Smartwatch erinnert mich wieder an Paul, also verbanne ich die Uhr schließlich in die Schublade meines Nachtkästchens.
Und wäre Emi nicht mit einem Großeinkauf vorbeigekommen, so hätte ich wahrscheinlich auch aufs Essen vergessen.
Während ich am zweiten Tag in einem Anfall von manischer Aktivität meine Wohnung durchputze, trudelt eine Nachricht von Kathi auf meinem Handy ein.
Alles ok bei dir? Wieso meldest du dich nicht und wo ist das versprochene Foto von Paul und dir? Oder seid ihr zwei so beschäftigt, dass du keine Zeit hast, mir zu schreiben? ;)
Ach, Kind, wenn du wüsstest! Nein, eigentlich ist es besser, du weißt es gar nicht. Oder soll ich es Kathi doch erzählen? Will ich meiner Tochter wirklich das Ausmaß der Verwüstung in meinem Herzen offenbaren? Eigentlich will ich sie doch gar nicht mit meinen Beziehungsproblemen belasten, andererseits will ich sie aber auch nicht anlügen. Unehrlichkeit ist etwas, das mir absolut gegen den Strich geht, also werde ich wohl in den sauren Apfel beißen müssen.
Mist, Linda, da hast du dir ja schön was eingebrockt.
Ich werfe den Putzlappen in den Kübel und wische mir den Schweiß von der Stirn. Bevor ich es mir wieder anders überlegen kann, rufe ich meine Tochter an. All das, was ich ihr zu erzählen habe, lässt sich nicht in eine Textnachricht quetschen. Während ich darauf warte, dass Kathi antwortet, beobachte ich die langsam vor meinem Fenster dahinziehenden Schäfchenwolken. Ob Paul wohl an mich denkt? Oder mich bereits vollkommen aus seinem Gedächtnis gestrichen hat? Die Vorstellung tropft wie Säure in mein Herz. Ich schließe meine Augen und drehe mich vom Fenster weg.
„Mama?"
Kathis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken, katapultiert mich plötzlich zu dem Tag zurück, als meine Scheidung von Thomas endlich durch war. Ich sehe noch genau den Moment vor mir als Kathi an dem Tag von der Schule heimkam. Hoffnung und Enttäuschung spiegelten sich damals auf ihrem Gesicht. Hoffnung, dass es nun endlich besser werden würde für uns zwei, Enttäuschung, dass es niemals eine „richtige" Familie geben würde für uns drei. Meine eigene Angst als Mutter versagt zu haben, vermischten sich mit der Zuversicht es ab jetzt besser machen zu wollen.
Keine Ahnung, ob mir das auch wirklich gelungen ist. Wenn ich mir Kathi heute ansehe, eine selbstständige und zielstrebige junge Frau, dann denke ich doch, dass ich was richtig gemacht haben muss, auch ohne Hilfe eines Partners.
„Mama? Ist alles okay?"
Ich schlucke das „Ja, alles okay", das mir schon auf der Zunge liegt, hinunter und sage: „Leider nicht ganz. Aber bevor du dir unnötig Sorgen machst. Ich bin nicht krank und es hat auch keinen Unfall oder sonst irgendeine größere Katastrophe gegeben." Ich lehne mich gegen den Küchentisch und starre auf die fleckenlos polierte Anrichte.
„Aber? Was ist es denn dann?" Ich kann förmlich die Sorge in ihrer Stimme spüren.
„Paul und ich ... die Beziehung ist zu Ende. Er ist allein nach Nizza geflogen und wir werden uns auch danach nicht mehr wiedersehen." Ich fixiere meinen Blick auf die Armatur. Die habe ich vergessen, abzuwischen.
„Was? Aber wieso denn? Ich dachte, es lief so toll mit euch beiden?"
„Das dachte ich auch, aber manchmal täuscht man sich eben. Ich möchte jetzt auch gar nicht alle Details ausbreiten, das tut mir noch zu sehr weh, aber ich wollte, dass du Bescheid weißt." Meine Kehle ist ausgetrocknet und ich muss schon wieder gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen.
„Ja, schon klar. Du musst mir auch gar nicht alles erzählen."
Trotzdem spüre ich natürlich zwischen den Zeilen, dass sie mich liebend gerne ausfragen würde, warum und wieso es zu dieser plötzlichen Wendung gekommen ist.
„Später vielleicht, wenn ich das alles etwas besser verdaut habe", schiebe ich schnell nach, denn ich möchte nicht, dass sie denkt, ich würde ihr nicht vertrauen.
„Das verstehe ich schon. Bist du dir sicher, dass du nichts brauchst? Soll ich vielleicht bei dir vorbeikommen?"
„Nein, mach dir mal keine Sorgen um mich. Ich stehe das schon durch. Ich bin schließlich eine erwachsene Frau und Liebeskummer ist nichts Neues für mich. Du hast jetzt mit deiner Übersiedlung ohnehin genug um deine Ohren." Ich schnappe mir den Putzlappen und schrubbe über die Armatur bis sie glänzt wie neu und ich mich darin spiegeln kann. „Vielleicht komm ich dich mal besuchen, wenn du dich in deiner neuen Wohnung eingelebt hast."
„Auf jeden Fall. Die Wohnung ist zwar nicht groß, aber für dich hab ich immer Platz."
Ich wische mir eine Träne ab, die plötzlich über meine Wange rinnt. „Das tut gut zu hören", sage ich mit erstickter Stimme und bevor ich wieder zu heulen anfange, sage ich: „Ich muss jetzt Schluss machen. Die Wohnung putzt sich nicht von allein. Jetzt, wo die Reise ins Wasser gefallen ist, komme ich endlich dazu, alles blitzblank sauber zu machen."
„Dann übernimm dich mal nicht."
„Das werd ich schon nicht. Aber wenigstens lenkt mich das ab."
„Es tut mir wirklich leid, dass das mit Paul nichts geworden ist. Ich hab mich so gefreut für dich, dass du endlich jemanden gefunden hast, der zu dir passt und mit dem du glücklich bist." Kathi seufzt und sagt dann: „Männer sind halt doch Arschlöcher. Drum bin ich froh, mich aus dem ganzen Beziehungschaos rauszuhalten. Sollte mal ein möglicher Kandidat auftauchen, muss der erstmal beweisen, dass er die ganze Mühe überhaupt wert ist."
Meine eigene Tochter so desillusioniert über die Liebe reden zu hören ist irgendwie schockierend, aber wenigstens bleiben ihr vielleicht solche Enttäuschungen erspart. Wenn ich schon dumm genug bin, mich immer wieder in die falschen Typen zu verlieben, dann ist meine Tochter wenigstens schlauer.
Irgendwie schaffe ich es dann doch noch, mich durch die restlichen Tage meines sogenannten „Urlaubs" zu quälen, bis ich dann am Montag wieder in der Redaktion sitzen muss. Angeblich frisch und ausgeruht von meiner Reise, aber ein Blick auf mein Gesicht ist wohl genug, um jeden wissen zu lassen, dass der Urlaub entweder grottenschlecht war, oder ich die letzten Tage in einem unterirdischen Verlies zugebracht haben muss.
Ich gebe es zu, ich habe mit dem Gedanken gespielt, mich krankschreiben zu lassen, doch das würde sowohl meinen Boss als auch meine Kollegen nur noch neugieriger machen, also habe ich beschlossen, ins kalte Wasser zu springen und mich in die Arbeit zu stürzen. Ich wehre alle persönlichen Fragen erfolgreich ab und konzentriere mich auf die anstehende Berichterstattung der Freiluftkonzerte. Ernst und Valentin haben gute Arbeit geleistet bei der Eröffnung, doch nun übernehme ich wieder sämtliche anfallenden Reportagen.
Ich koordiniere mich mit Susanne was die Fotos betrifft und versuche Herbert zu überzeugen, dass wir unserem Praktikanten Sebastian mehr Freiraum geben sollten was die Gestaltung der Zeitungs-App anbelangt, denn der junge Mann scheint mit Begeisterung bei der Sache zu sein. Alles und jedes ist mir recht, um meine Gedanken von Paul abzulenken. Ich ignoriere meine Mittagspausen und bleibe jeden Tag länger im Büro. Wenn ich keine Zeit habe nachzudenken, dann kann mir auch die grauenvolle Leere, die jetzt in meinem Herzen Dauergast ist, nichts anhaben.
Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich ganz automatisch auf Pauls Nachrichten klicke und dann auf die leere Zeile starre, die mich herausfordernd anblinkt. Vielleicht sollte ich ihm schreiben? Versuchen ihm zu erklären, was er mir bedeutet hat, was er mir immer noch bedeutet. Meine Finger schweben unentschlossen über dem Display bis mich dann doch der Mut wieder verlässt. Sei nicht dumm, Linda, Paul will nichts mehr von dir wissen, das hat er dir klar und deutlich zu verstehen gegeben. Wenn dem nicht so wäre, dann hätte er sich wohl schon bei dir gemeldet.
Am Ende der ersten Paul-losen Arbeitswoche beschließe ich dann, der Versuchung einen Riegel vorzuschieben. Da ich meinem Herzen nicht trauen kann, lösche ich seine Nachrichten zusammen mit seiner Nummer von meinem Handy. Ein schmerzvoller, aber notwendiger Schritt, wenn ich irgendwie wieder mein Leben in den Griff kriegen will. Viel schwerer fällt mir, seine Fotos zu löschen, denn dazu muss ich sie mir erst alle wieder ansehen. Dazu bin ich immer noch nicht in der Lage. Später, das kann ich später auch immer noch erledigen.
Freitagabends schaffe ich es erstmals wieder, mich zum Laufen aufzuraffen, auch wenn ich nach wenigen Kilometern umdrehen muss, da mich alles entlang der Laufstrecke an Paul erinnert. Ich muss mir wohl ein paar neue Strecken suchen, sonst kann ich das Laufen gleich aufgeben. Zum Wochenende powere ich mich im Fitnessstudio aus und mache einen extra langen Trailrun nach dem ich mit Blasen an den Füßen und beleidigten Waden wie tot ins Bett falle.
Trotzdem wache ich am nächsten Morgen wieder auf. Der Schmerz in meiner Brust ist genauso frisch wie am ersten Tag. Paul hat mein Herz gestohlen und auch wenn er längst aus meinem Leben verschwunden ist, so bleibt die Leere, die er hinterlässt, doch mein ständiger Begleiter.
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