| FIVE |
𝒜𝒹ℯ𝓁ℯ
Ich lag die halbe Nacht lang wach im Bett und dachte Jonah, dem es in seinem Einzimmer-Apartament mit Sicherheit nicht anders ging. Den Bewertungen auf Google nach zu urteilen, war Clarins Hall eine regelrechte Zumutung. Mehr eine Absteige, als ein anständig bewohnbares Haus.
Er tat mir total leid. Und es belastete mich zunehmend, als mir klar wurde, wie gut ich es eigentlich hatte. Ich beschwerte mich über dies und jenes, dabei gab es Menschen, die größere Probleme hatten.
Und den Job, den Jonah machte, war mit Sicherheit wichtig, aber brachte einem nunmal nichts ein. Aus diesem Grund schrieb ich meinem Vater eine Nachricht. Ich fragte ihn, ob es möglich wäre, Jonah trotz seiner Vergangenheit bei uns in der Surfschule einzustellen. Immerhin konnten wir gerade in den Semesterferien jemanden gebrauchen, der uns mit der Reinigung der Surfbretter und Neoprenanzüge aushalf. Abgesehen davon wäre er bei uns krankenversichert.
Mir fiel ein Stein vom Herzen, als mein Vater mit einem lässig klingenden: »Jeder Mensch hat eine zweite, manchmal sogar eine dritte Chance im Leben verdient.«
Zeitgleich stiegen mir erneut Tränen in die Augen, weil Dad genauso klang, wie mein Bruder. Im Gegensatz zu unserer Mom, war er allezeit bereit zu helfen, wo er konnte.
Bloß ich habe es nicht geschafft, ihm zu helfen. Ich war nicht schnell genug, nicht ausgebildet genug. Habe nicht über das notwendige Wissen verfügt, um dich zu retten, Marcus. Und es tut mir so unendlich leid.
So hatte ich schon lange nicht mehr empfunden. Es fühlte sich so an, als würde jemand mit einem Zahnstocher in einer offenen Wunde herumstochern. Glücklicherweise erhielt ich einen Anruf von Nick, der mich schlagartig wieder aus diesem grauenvollen Loch herausholte. Ich war sehr dankbar dafür, ihn als Freund zu haben.
»Hey, Adele! Ich wollte dir nur kurz berichten, wie der Töpferkurs gelaufen ist ... Du wirst nicht glauben, was Ally wieder angestellt hat.«
»Schön, dass du anrufst.« Obwohl ich wegen Ally und Nicks Zweisamkeit etwas geknickt gewesen war, wollte ich natürlich wissen, wie sein Tag war. Nick war mir wichtig und das würde sich auch nicht wegen meinen Gefühlen zu ihm ändern. »Schieß los! Was hat Ally wieder angestellt.«
»Frag lieber, was sie nicht angestellt hat ...«
»Oh je, das klingt ja mal wieder abenteuerlich.«
Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen, als Ally im Hintergrund plötzlich ein lauthalses »So schlimm war es auch wieder nicht!« hineinrief.
»Also, ... dass ist jetzt wohl ein wenig untertrieben! Es fing damit an, dass wir uns in der Tür geirrt hatten und plötzlich in einem Aktzeichenkurs standen. Und zu allem Übel kannte Ally das Aktmodel auch noch, woraufhin sie sich ganze zehn Minuten mit ihm unterhalten hat. Währenddessen hat sie nicht einmal auf sein bestes Stück gestarrt ... Ich hingegen schon, weil es nicht zu übersehen war.«
Ich prustete lauthals los. »Und was ist dann passiert?«
»Als wir endlich im richtige Kurs waren, hat Ally den Ton ganze zweimal auf die Drehscheibe fallen lassen, was dazu geführt hat, dass die feuchten Tonstücke im sämtliche Richtungen geflogen sind.«
»Ach, Nick. Du übertreibst!«, murrte im Hintergrund und ich konnte förmlich sehen, wie sie spielerisch die Augen verdrehte. »So schlimm war es nun auch wieder nicht.«
»Das wäre es auch nicht gewesen, hättest du die anderen Kursteilnehmer nicht zu einer Tonschlacht angestachelt.«
»Eine Tonschlacht? Ernsthaft?«
»Jepp ... Du willst gar nicht wissen, wie wir alle aussahen.«
»Ich glaube, dass ich schon wissen möchte, wie ihr danach aussaht.«
»Ich hab dir ein Bild geschickt!«, plärrte Ally hinein. »Da hat Nick besonders viel Ton im Gesicht! Achte auf seine linke Augenbraue!«
Nick sah wirklich urkomisch aus. Allerdings wirkte es eher so, als wäre er mit dem Gesicht voraus in einen Schweinestall gefallen.
»Das ist soooo lustig. Das werde ich definitiv ausdrucken und einrahmen.«
»Untersteh dich, Adele! Ansonsten räche ich mich indem ich ein Bild von dir bei mir daheim aufstelle, das ich während des letzten Lichterfestes gemacht habe!«
»Oh nein, bitte nicht! Da war ich total betrunken!«
»Apropos Lichterfest ... Hast du den Kerl mit der Warnweste nun gefragt, ob er mit möchte?«
»Um ehrlich zu sein, nein. Aber ich habe heute vor, ihn zu fragen. Wie gehen zusammen surfen.« Jedenfalls spekulierte ich, dass wir zusammen surfen gingen. Seine Antwort klang gestern eher nach einem halben ja, als nach einer festen Zusage.
»Das klingt ganz toll! Morgen sind wir auch am Strand, also, wenn du Lust hast können wir gemeinsam surfen gehen.« Ally wollte wirklich surfen lernen. Allerdings machte ihre Tollpatschigkeit des Öfteren einen Strich durch die Rechnung. »Außer du hast schiss, dass dir dasselbe Schicksal blühen könnte, wie Nick.«
»Keime Sorge, ich bin für den Fall der Fälle gewappnet!«, beteuerte ich. »Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn ihr nachkommen würdet. Aber ich muss jetzt leider los! Mein Kurs beginnt in weniger als einer Stunde und ich habe mich noch nicht einmal angezogen!«
»Gut, dann sehen wir uns morgen!«, verabschiedete sich Nick. »Bis dann!«
»Ja, bis dann!«
***
Am Strand angekommen, waren meine Schüler bereits dabei, sich aufzuwärmen, was mich ein wenig mit stolz erfüllte. Dieser Kurs war anders. Man merkte, das die Schülerinnen und Schüler dieses Mal etwas älter waren und wirklich Lust darauf hatten, diesen Kurs zu besuchen.
»Was läuft, ihr Loser?!«, ertönte plötzlich eine Stimme, die dafür sorgte, dass sich alles in mir auf eine äußerst unangenehme Art und Weise zusammenzog. »Ich kann euch nicht empfehlen, an diesem Kurs teilzunehmen ... Die Surflehrerin ist dumm und unerfahren.«
»Ach ja?«, gab eine meiner Schülerinnen zurück. »Mir scheint eher, du bist hier derjenige, der dumm und unreif ist.«
Ich musste mir ein Lachen verkneifen und legte meine Hand an ihre Schulter. »Schon gut Kathrin, ich schaffe das.«
Dann ging ich auf den Typen zu, der dachte, er könnte mir den Morgen mit seiner beschissenen Laune verderben und schenkte ihm mein nettestes Lächeln, das ich in Petto hatte.
»Ich hatte doch gesagt, dass du an keinen meiner Surfkurse mehr teilnehmen darfst, Henry.«
»Harris!«, fauchte er.
»Wie auch immer ... Ich stehe zu meinem Wort, also mach dich vom Acker.«
Er trat etwas näher an mich heran. Plötzlich war da wieder dieses düstere Lächeln, das seine Lippen umspielte, ehe er ein kaum zu überhörendes »Das wirst du noch bitter bereuen!« von sich gab.
»Wie auch immer ...«, gab ich unbeeindruckt zurück. Anschließend wandte ich mich wieder meinen Schülern zu und klatschte enthusiastisch in die Hände. »Können wir dann loslegen?«
Nach anderthalb Stunden konnten wir schon einige Erfolge erzielen: Zwei der Teilnehmer konnten auf ihrem Surfboard stehen, ohne umzufallen, während die anderen ihre Übungen korrekt ausgeübt hatten. Ich war mir sicher, beim nächsten mal wären auch die, die es heute nicht geschafft hatten, auf dem Brett zu stehen, es mit hoher Wahrscheinlichkeit das nächste mal schaffen würden.
Während des gesamten Kurses hielt ich nach Jonah Ausschau, konnte ihn jedoch nicht finden. Vermutlich war er heute an einem anderen Strandabschnitt im Einsatz.
Doch zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass Jonah auch in den darauffolgenden Tagen nicht zu sehen war. Langsam aber sicher breitete sich ein Unwohlsein in meiner Magengegend aus, weshalb ich beschloss, ihn kurz vor seiner Sperrzeiten in Clarins Hall aufzusuchen.
»Na, Süße? Hast dich verlaufen?« Ein älterer Mann mit zerfledderten Klamotten und einer Bierdose in der Hand musterte mich von Kopf bis Fuß. Als er lächelte, kam eine kleine Zahnlücke zum Vorschein, was ihn, trotz seiner plump ausgedrückten Frage, irgendwie sympathisch wirken ließ.
»Ich habe mich tatsächlich verlaufen«, antwortete ich mit einem breiten Grinsen. »Aber vielleicht können Sie mir ja weiterhelfen ... Ich bin auf der Suche nach Clarins Hall.«
Er breitete seine Arme aus und nuschelte ein leises »Tja, du stehst direkt davor«, ehe er erneut einen kräftigen Schluck von seinem Bier nahm.
»Großartig.« Das Haus sah noch schlimmer aus, als die Google-Bewertungen es beschrieben hatten. Vielleicht hätte ich mir vorher doch ein Bild via Google-Street-view machen sollen.
»Adele?«
Bilde ich mir das ein, oder ist das gerade Jonahs Stimme, die hinter mir ertönt?
Ich fuhr herum. Und tatsächlich, da stand er plötzlich. Allerdings weckte sein äußeres Erscheinungsbild großen Unmut in mir. Sein rechtes Auge war blau unterlaufen und seine Unterlippe aufgeplatzt und noch leicht geschwollen. Blinzelnd und mit offenem Mund starrte ich ihn an, ehe ich langsam auf ihn zuging und meine Hand an seine Wange legte. Mit meinem Daumen fuhr ich sanft seine Unterlippe entlang. Dabei versuchte ich mich so gut es ging zusammenzureißen.
»Was ist mit dir passiert, Jonah?« Er trat einen Schritt zurück und signalisierte mir damit, dass es unangebracht war, ihn einfach so zu berühren. »T-tut mir leid. I-ich wollte nicht ...«
»Schon gut.« Dann umfasste er mein Handgelenk und zog mich mit sich ins Haus. Er sperrte die erste Wohnung im Erdgeschoss auf, trat zur Seite und vermittelte mir mit einer einfachen Geste, dass ich eintreten soll. Ich ging voran und musste zu meiner Überraschung feststellen, dass die Wohnung gar nicht so schlimm aussah, wie das Haus einem von außen vermittelte.
»Schön hast du's hier ...«
Jonah ging an mir vorbei und stellte seine Einkäufe auf der Küchenzeile ab, die sich mitten im Wohnzimmer befand.
Jonah haust also in einer Einzimmerwohnung.
»Machst du Witze?« Ihm entfuhr ein spöttischer Laut. »Das hier ist eine absolute Bruchbude.«
»Klar gibt es Schöneres, aber immerhin besser als ...«
»Der Knast?«, fiel er mir ins Wort.
»Als ... auf der Straße zu wohnen, wollte ich sagen.«
Jonah räumte ein Paar Konservendosen in einen der Küchenschränke. Dann drehte er sich zu mir um und fragte: »Möchtest du einen Tee? Oder einen Kaffee? Cola hätte ich auch ... Das Leitungswasser würde ich nicht trinken, es ist ungenießbar.«
»Jonah ...«, raunte ich leise. »Du lenkst ab.«
»Nein, ich bin nur gastfreundlich.« Er schob sich vorsichtig an mir vorbei, um die restlichen Einkäufe einzusortieren.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert? Ist das der Grund, weshalb du in den letzten Tagen nicht am Strand warst?«
»Ja ... und nein«, antwortete er zögerlich. »Die Wahrheit ist, dass ich mich an einen anderen Strandabschnitt habe versetzen lassen.«
»W-was?! A-aber wieso denn?!«
»Weil es besser so ist, Adele.« Jonah trat an mich heran. Und dann war er mir plötzlich so nah, dass mir ein sanfter Hauch seines Aftershaves in die Nase stieg. »Wäre ich geblieben, hätte es bloß wieder Ärger gegeben.«
»Ärger, mit wem? Mit diesem Idioten von neulich?!«
»Adele ...«
»Nein, Jonah! Ich will, dass du mir die Wahrheit sagst.« Ich zog Kreise in die Luft und deutete dabei auf sein Gesicht. »Ich möchte wissen, was passiert ist und wer dafür verantwortlich ist.«
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