09: In gebotener Eile
Immerhin hatte er Raik dazu überreden können, das Kommunikationsarmband an einer Pfote festzuzurren, damit sie weiterhin Kontakt halten konnten. Siegfried war sich nur nicht mehr sicher, ob das wirklich eine gute Idee gewesen war. Denn, wo Lillian es nahezu meisterlich beherrschte, ihre Gedanken nur dann zu teilen, wenn sie es für angebracht hielt, hatte Raik den Dreh mit dem „Gedanken für sich behalten" nicht raus. Oder es war ihm einfach egal. Siegfried vermutete eher Letzteres.
Einen Moment lang stand er unschlüssig in der Gasse, während er durch Raiks Augen verfolgte, wie dieser durch die Straßen huschte, auf der Suche nach dem Geruch des Mannes, den sie in den Logen gesehen hatten. Dabei ignorierte er die Rufe der Menschen, die immer wieder erschrocken beiseite sprangen, wann immer der große „Hund" in ihrem Blickfeld auftauchte.
Innerlich schüttelte Siegfried den Kopf. Und jetzt? Was blieb ihm noch zu tun?
„Lillian?", fragte der Hexer leise und verfluchte sich selbst für die Unsicherheit in seiner Stimme.
Einen Moment lang kam nichts von ihr. Dann sowas wie ein Fluch, den er nicht verstand. „Is grad schlecht."
Siegfried zögerte. Ihr Tonfall sagte eindeutig, dass er genauso gut nach Hause gehen und stricken könnte. Weder wollte sie ihn hier haben, noch brauchte sie ihn. Und er konnte ihr nicht einmal einen Vorwurf daraus machen. Trotzdem wollte er das alles nicht auf sich sitzen lassen. Also holte er tief Luft und sammelte sich, ehe er sich die eine Frage traute, die ihm noch blieb: ‚Kann ich helfen?'
Lillian antwortete ihm nicht. Vielleicht, weil sie zu beschäftigt war. Vielleicht, weil sie ihm nichts mehr zutraute. Doch dann schien sie sich einen Ruck zu geben. „Dann komm zum Hintereingang. Mach die Tür auf. Schnell."
Er rannte.
Wilde Freude. Er hatte die Spur gefunden. Jagd. Die Schnauze am Boden, dem einen Geruch hinterher, der zwischen dem Gestank von Müll, Mensch und Exkrementen wie ein goldenes Band hervorstach.
Siegfried schüttelte Raiks Eindrücke ab und lief zur nächsten Seitenstraße um die Ecke und dann um eine Weitere. Bis er vor der kleinen, dreckigen Tür stand, durch die sie alle vor ein paar Stunden in das Varieté gekommen waren. Als er die Klinke drückte, war sie heiß – und abgesperrt. Siegfried zögerte.
Der Einsatz von Magie war nur im äußersten Notfall gestattet. Aber das hier war ein Notfall, oder? Also ließ er Raiks weißen Anzug und die Schachtel mit den Talismanen vorerst auf den Boden fallen und legte eine Hand an das Schloss. „Ars magica. Duo."
Das Armband an seinem Handgelenk klirrte, als seine Worte den zweiten Talisman daran aktivierten und die darin gespeicherte Aura, freiließen. Jetzt hatte er nur noch einen Talisman in Reserve. Bei dem Gedanken fühlte er sich unwohl. Vielleicht sollte er sich für zukünftige Aufträge mehr Talismane mit Auraspeicher besorgen, um nicht irgendwann auf seine körpereigenen Vorräte zurückgreifen zu müssen. Aber billig war das auch nicht.
Doch davon durfte er sich jetzt nicht ablenken lassen. Konzentriert griff sein Geist nach der freiwerdenden Kraft und sog sie in sein Innerstes. Im Gegensatz zu früher brauchte es ihn heute fast gar keine Anstrengung mehr, die Aura in seinem Innern in Magie umzuwandeln. Unendlich viel schwieriger war es, diese Magie präzise in das verdammte Schlüsselloch zu stopfen.
„Die Tür. Beeil dich!", zischte Lillians angespannte Stimme in seinem Kopf.
Siegfried verlor die Konzentration und die Magie entglitt ihm, verflüchtigte sich in die Umgebung, ehe er nur Teile davon zu fassen bekam. Er fluchte leise und begann von vorn. Schließlich hatte er alle Magie, die er noch hatte, in den kleinen Spalt gequetscht. Hoffentlich reichte es.
„Boom", flüsterte er und zwang der Magie seinen Willen auf.
Es explodierte.
Siegfried zuckte zusammen.
Die Tür sprang auf.
Augenblicklich schlugen ihm Hitze und Rauch entgegen. Instinktiv wich er mit zusammengekniffenen Augen zurück. Als er wieder was erkennen konnte, rannte Lillian auf ihn zu, in den Armen einen Jungen, der sein Gesicht schutzsuchend an ihre Halsbeuge presste und sich trotz Husten irgendein buntschillerndes Tuch über Mund und Nase hielt.
Sofort sprang Siegfried beiseite, um ihr Platz zu machen und folgte ihr die paar Schritte, die sie noch weiter in die Straße rannte. Ruckartig drehte sich Lillian zu ihm um und legte ihm den vor Husten krampfenden Jungen in die Arme. Siegfried taumelte unter dem Gewicht des Kindes, fand dann aber seinen festen Stand wieder.
„Bring ihn nach vorne zu den anderen." Lillian gab ihm die Befehle ebenso selbstverständlich, wie Raik zuvor auch schon. „Wenn du kannst, komm zurück. Wenn nicht, treffen wir uns beim Orden."
Er nickte, als sein Blick zu dem leuchtend roten Fleisch ihrer Arme huschte, die Wunden waren eingerahmt von schwarz verkohlten Hautresten. Und noch mehr Brandblasen, die sich bis hinauf zu ihren Oberarm zogen. Jetzt erst fiel ihm der Geruch auf. Wie Steak. Siegfried wurde wieder schlecht.
Doch die Vampirin drehte sich um, wollte zurück in das Gebäude.
Der Hexer schaffte es geradeso, seine Fracht auf eine Seite zu hieven, dass er eine Hand frei hatte und nach ihrem Handgelenk haschen konnte, ehe sie wieder davon war. Er erwischte eine ihrer Brandverletzungen.
Lillian zuckte und wirbelte ruckartig zu ihm herum. „Lass mich! Ich muss noch-!"
Siegfried presste die Lippen zusammen und deutete auf Raiks am Boden liegende, helle Anzugjacke. „Nimm die mit. Als Schutz vor der Hitze."
Ihre Augen huschten von ihm zum Jackett und wieder zurück. Dann griff sie danach und warf es sich über, ehe sie in das brennende Haus zurückrannte.
Einen Moment lang starrte Siegfried auf das gähnende Loch, aus dem ein flackernder, roter schein und Unmenge Hitze kam, in das die Vampirin verschwunden war. Es kam ihm wie der Schlund zur Hölle vor. Ganz kurz geisterten wieder die Bilder aus Lillians Erinnerungen in seinem Kopf. Das Feuer. Die Toten. Die Schreie. Das Leid.
Das hier war sein Fehler.
Das Kind in seinen Armen bebte noch immer bei jedem Hustenkrampf. Das klang nicht gut. Mit einem Knoten im Magen richtete er die Position des Jungen neu aus. Er musste sich konzentrieren. Der Junge brauchte Hilfe. Also riss er sich zusammen. „Hey, kleiner Mann."
Er rannte. Rasender Herzschlag. Immer der Duftnote hinterher. Der rauen Asphalt fast schmerzhaft unter seinen Pfoten. Trotzdem war da nichts als Freude. Er holte auf. Noch ein paar Straßen und-
Das Kind krallte sich fester in sein Hemd. Das half, Raiks Eindrücke erneut wegzuschieben und auf den Jungen zu konzentrieren. „Wie heißt du? Kannst du mir das sagen?"
Das Kind nickte und jetzt erst sah der Hexer, dass aus den Augen des Jungen ganze Bäche an Tränen flossen – auch wenn er selbst nicht nach Weinen aussah. Eher trotzig. Wäre da nicht der ständige Hustenreiz gewesen, er hätte sich keine großen Sorgen um das Kind gemacht. Aber der Husten war da. Konnte er nicht irgendetwas tun? Er musste doch etwas tun können! Irgendwas.
„Werner", keuchte der Junge und wischte sich mit den schmutzigen Hemdsärmeln über die Augen.
„Oh. Guter, starker Name", murmelte Siegfried und sei es nur, um das Kind zu beruhigen. „Mein Bruder hieß auch so. War ein guter, starker Mann."
Dass sein Bruder niemals von der Westfront zurückgekehrt war, sagte er nicht.
Stattdessen musterte er den Jungen genauer. Von dem Husten abgesehen, sah es erst einmal unverletzt aus. Im Gegensatz zu Lillians Armen, die sich so eng wie möglich um das Kind geschlungen hatten. „Tut dir was weh, Werner?"
Der Junge zitterte in seinen Armen. „Mein Fuß... der Schrank. Umgefallen. Die Frau hat mich gefunden... und... und..." Er hustete wieder quälend.
Das war sicher vom Rauch.
„Keine Sorge. Alles gut. Weißt du, wo du bist?", beeilte sich Siegfried, ihn zu beruhigen, als sein Blick auf das bunte Tuch fiel, das noch immer in der Hand des Kindes lag. „Meine Bekannte hat dich durch die Hintertür rausgebracht."
Der Junge nickte benommen.
Da fiel es Siegfried endlich ein: Der Unterricht. Wenn Menschen großer Hitze ausgesetzt waren und dabei viel Rauch einatmeten, konnte es sein, dass ihr Mund, Rachen oder sogar die Atemwege Verbrennungen davontrugen. Doch noch gefährlicher waren der Rauch und die giftigen Gase, die abhängig von dem, was verbrannt war, ebenfalls im Qualm enthalten waren. Dagegen half möglichst hoch konzentrierter Sauerstoff.
Innerlich dankte er seinem vergangenen Selbst, dass er damals so akribisch dem Unterricht gefolgt war. Endlich wusste Siegfried, was er zu tun hatte. Kurz entschlossen setzte er sich in den Dreck der Gasse und verfrachtete den Jungen auf seinen Schoß, damit er ihn nicht länger tragen musste und sich konzentrieren konnte. „Warte kurz", murmelte er und griff er nach dem bunten Tuch, das der Junge noch immer in der Hand hielt. „Ars magica. Tres."
Wieder klirrte ein Anhänger seines Armbandes. Der Letzte. Und einen Moment später floss die Aura durch sein Innerstes. Sein Körper würde sie nicht lange halten können, weil sein „natürlicher Auraspeicher" selbstverständlich voll war. Aber das war auch nicht nötig. Stattdessen griff er nach der Aura und wandelte sie mit Hilfe seines Hexensinnes wieder in reine Magie um, die er versuchte in den Stoff einzuflechten. Leider war es nicht gerade eines seiner Talente, Magie irgendwohin zu binden oder sie mit einer spezifischen Aufgabe auszustatten – in dem Fall „Luftreinigung".
„Lautus. Lautus. Lautus", murmelte er und merkte kaum, wie er in das für die Hexerei gebräuchliche Latein abrutschte. Dabei stellte er sich vor, wie die Magie einen zuverlässigen Türsteher darstellte, der die dunklen Rauchpartikel genauso wenig passieren ließ, wie ihre menschlichen Gegenstücke den Pöbel. Dagegen durften die lieben Sauerstoffpartikel ungehindert durch das Tuch. Genau wie die Reichen und Schönen, die sich einen Türsteher leisten konnten.
„Lautus. Lautus. Lautus." Die Luft musste sauber werden. Hoffentlich funktionierte das. Es musste reichen, denn besser konnte er es nicht. „Finite", flüsterte Siegfried leise und gab dem Zauber seine finale Form.
Der Junge auf seinen Beinen bewegte sich unruhig, doch das ignorierte der Hexer für den Moment und spürte seinem neu erschaffenen Werk nach. Er war entsetzt. Diesen Talisman zu schaffen hatte viel mehr Magie gebraucht, als beabsichtigt – er hatte sogar unbewusst von seinem Körpervorrat genommen. Das war nicht gut. Es macht ihn angreifbar für Flüche und übernatürliche Angriffe. Hoffentlich bemerkte niemand diese Schwäche.
Und das Ergebnis? Probehalber hielt Siegfried sich das Tuch an den Mund. Gut. Es war nicht perfekt – aber die Luft darunter war viel frischer als ohne Tuch. Leider würde das nur für fünfzehn, vielleicht zwanzig Minuten halten. Aber so erschuf man normalerweise auch keine Talismane. In der Regel brauchte diese komplexe Kunst viel Aura, Zeit und vor allem Nachdenken – selbst wenn man sie beherrschte. Aber das tat er nicht. Und er hatte auch keine Zeit gehabt, um Vorbereitungen zu treffen oder um über etwas nachzudenken. Unzufrieden legte er Werner das Tuch kurzerhand wieder über den Mund. „Hier. Atme weiter dadurch. Das hilft gegen den Husten."
Und wirklich hörte der Junge nach wenigen tiefen Atemzügen mit dem Husten auf. Immerhin. Mehr konnte er nicht tun.
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soooo - hier noch einmal die Übersetzungen, die ich von der großartigen Kaind0 bekommen habe! <3
Ars magica - magische Kunst
duo - zwei
tres - drei
lautus - waschen (als Begriff für säubern)
finite - Ende
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