Kapitel 3 - Chauffeur gesucht
John wusste, dass es eine Formel gab, um auszurechnen, wie viel Promille man nach wie vielen Stunden noch im Blut hatte. Er wusste genau, dass es sie gab, aber sie wollte ihm partout nicht einfallen. Aber, so dachte er um halb vier, der Wein hat sich sicher schon abgebaut. Sicher. Die trügerische Natur dieses vermeintliche sicheren Schlusses war ihm nur düster bewusst.
Nach fast drei Stunden Serien schauen hatte John die Lust daran verloren und wollte etwas anderes machen. Dabei fiel ihm ein, dass er ja seinen Neffen mal wieder besuchen könnte. John hatte einen Neffen - den Sohn seiner älteren Schwester Verena - der in der Nähe wohnte. Der Junge hieß Philipp-Frederick, bestand aber hartnäckig darauf, Phil genannt zu werden (zum Ärger seiner Mutter) und war nur fünf Jahre jünger als John selbst. Dies war zustande gekommen, weil Baby John ganze zwölf Jahre nach seiner Schwester gefolgt war. Dem großen Altersunterschied wegen hatte sie damals nicht viel mit dem kleinen Baby John anfangen können. Sie hatte mit fünfzehn schon den Freund gehabt, der nur wenige Jahre später der Vater von Phil werden würde.
John schob es auf den Altersunterschied, dass er (leider, wie er immer betonte) keine allzu enge Bindung zu seiner Schwester hatte. Sie war eher wie eine zweite Mutter für ihn. Dafür hatte er aber ein ausgezeichnetes Verhältnis zu seinem Neffen. Sie waren eher wie Brüder als Onkel und Neffe. John bedauerte es, dass er Phil länger nicht mehr gesehen hatte. Was war schuld daran gewesen? Das alte Lied: die Arbeit ...
Der arme Junge hatte sich irgendwann gar nicht mehr getraut, John zu fragen, ob er Zeit für einen Besuch hätte, denn die letzten Male hatte John ihn immer abblitzen lassen, weil er - wegen seiner Arbeit - keine Zeit hatte. Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. Die alte Leier. Jetzt schämte er sich deswegen, weil er für seinen Neffen eben doch irgendwann Zeit hätte frei räumen müssen. Notfalls eben mit dem Bagger, dachte er sich und grinste schuldbewusst vor sich hin.
Also holte er sein Handy zu sich und rief Phil an.
"Phil, was geht?", rief John fröhlich. Er klang, als würde er versuchen, all die Abweisungen insbesondere der letzten Monate wieder wett zu machen.
"John, hallo ... ja ... alles gut." Phil klang misstrauisch. Verständlich, denn so gut gelaunt hatte er seinen Onkel schon länger nicht mehr gehört.
"Weißt du, ich habe heute meinen Job geschmissen. Ich brauche einfach mehr Zeit für mich. Du weißt ja, ich hatte in letzter Zeit so wenig Freizeit ...", erzählte John im Plauderton.
"Ja, du hattest wenig Zeit ... in der letzen Zeit ..."
"Bist du zuhause?"
"Ja ..."
"Kann ich vorbeikommen?", fragte John.
"Äh ... ja. Gerne, Mann."
"Gut!", rief John.
"Gut. Dann bis ... später?"
"Ich fahre jetzt gleich los!"
"Okay. Bis gleich dann."
John zog sich seine Businessschuhe an. Turnschuhe oder Freizeitschuhe hatte er - wie er jetzt entsetzt feststellte - kein einziges Paar. Und Businessschuhe sahen zur Jogginghose einfach nur lächerlich aus, aber er hatte keine anderen. Also musste er damit Vorlieb nehmen. Er nahm sich seinen Autoschlüssel und lief mit federnden Schritten den Korridor entlang, zum Aufzug, runter zur Garage. Er pfiff vor sich hin während er sich in sein Auto fallen ließ, legte den Rückwärtsgang ein und sauste aus der Garage.
Seine Stimmung war auf einmal ganz beschwingt, er konnte sich den Wandel selbst nicht erklären. War mit der Kündigung seines verhassten Jobs alle Last von ihm abgefallen? War das die Befreiung gewesen, die schon so lange überfällig gewesen war? Was es auch war, John ritt auf der Welle und es tat gut, auch einmal keine Sorgen und Gedanken im Hinterkopf zu haben.
Am anderen Ende der Stadt stand ein netter, kleiner Bungalow, den Phil sein Zuhause nannte. Dort wohnte er und dort verkaufte er in seiner Garage selbst gezimmerte Kleinmöbel und Dekoration. Jedes Mal, wenn John eines der Schränkchen oder Bilderrahmen in Augenschein nahm, wunderte er sich über das handwerkliche Talent seines Neffen, denn aus der Familie Hellwer konnte es garantiert nicht kommen. Weder John, noch sein Vater, noch sein Opa hatten auch nur im Geringsten etwas mit Handwerk am Hut. Sie verzweifelten schon, wenn es darum ging, ein Regal zusammen zu bauen.
Johns Gedanken waren genau bei diesem Thema, als er links blinkte und auf die Hauptstraße einbiegen wollte. Von links kam ein roter Kleinwagen angefahren, den er eigentlich hätte sehen müssen, allein schon wegen der Farbe. Wahrscheinlich hatte er ihn auch gesehen, hatte aber die Geschwindigkeit des kleinen Wagens unterschätzt. Es kam wie es kommen musste: John fuhr los, der Kleinwagen kam nicht rechtzeitig zum Stehen und krachte in den hinteren Teil von Johns Sportwagen. Reifen quietschten, Blech knirschte und John hielt sich apathisch an seinem Lenkrad fest, bis der Wagen ganz zum Stehen kam.
Eine große, kräftige Frau stieg aus dem Kleinwagen aus. Ihre Motorhaube war nun eine Ziehharmonika. Entsetzt starrte sie den Schaden an. John kletterte über die Beifahrerseite aus dem Wagen, da die Fahrertür irgendwie nicht mehr aufging, obwohl sie von außen unbeschädigt war. Er schaute sich den Schaden an seinem eigenen Wagen mit einem fasziniert-entrückten Blick an. Das war jetzt um einiges schlimmer als der Kratzer von heute Morgen. Vom Aufprall war der Kofferraumdeckel aufgesprungen, die Tankklappe war eingedellt und das Rücklicht war kaputt.
"Haben Sie mich denn nicht kommen sehen?", quietschte die Frau entsetzt.
"Ja, doch ...", sagte John. Er klang, als sei er mit dem Kopf an einem ganz anderen Ort.
"Ja, und? Warum sind Sie dann losgefahren?", schrie sie ihn an.
"Ich dachte, es reicht noch ..."
"SIE DACHTEN!", schrie sie und ruderte mit ihren kräftigen Armen in der Luft herum.
"Jetzt werden Sie mal nicht hysterisch", sagte John beschwichtigend, verfehlte aber die Wirkung.
"Das Auto ist HINÜBER! Sie Idiot! Ich kann mir kein neues Auto leisten! Wie soll ich denn jetzt zur Arbeit kommen?" Sie kickte mit Schwung gegen den linken Vorderreifen von Johns Wagen.
"Was soll das jetzt? Mein Auto kann doch nichts dafür!", rief John, wenig überzeugt von seiner eigenen Aussage. Er wusste nicht, was jetzt zu tun war. Man lernte es in der Fahrschule. Was tat man in so einem Fall ... was tat man ... im Falle eines ... Unfalls ... Seine Hände fingen wie auf Knopfdruck wieder an zu zittern. Die Frau holte ihr Handy aus ihrer Hosentasche, entfernte sich ein Stück von John und rief jemanden an.
"Wen haben Sie angerufen?", fragte John nachdem sie aufgelegt hatte.
"Na wen wohl?", gab sie schnippisch zurück und kehrte ihm den Rücken zu. John dämmerte es, wen sie angerufen haben könnte und jetzt ging ihm die Düse. Sein erster Impuls war es, abzuhauen, aber das war eine blöde Idee, denn man würde ihn suchen. Das Auto war auf ihn gemeldet und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis man seinen Wohnort ausfindig gemacht hatte. Er blieb wie angewurzelt stehen.
Nach wenigen Minuten trafen zwei Polizistinnen ein. Eine jüngere und eine ältere. John sah mit sprachlosem Erstaunen dabei zu, wie die Besitzerin des roten Kleinwagens gestikulierend auf die beiden Damen in Blau zukam und ihnen den Hergang deutlich zu ihrem Vorteil schilderte.
" ... ist der einfach abgebogen OBWOHL er mich gesehen hat! Fahrlässig! Vorsätzlich! Jetzt ist mein Auto im Arsch und ich kann nicht zur Arbeit fahren!"
Die beiden Polizistinnen sahen sich den Schaden an und fragten dann John. Der sagte, die Dame im roten Wagen hätte noch einmal richtig Gas gegeben, als sie gesehen habe, dass er abbiegen wollte. Das war eine glatte Lüge und er sah im Augenwinkel, dass die Frau knallrot anlief vor Entsetzen, aber er dachte, wenn Aussage gegen Aussage stand, dann würden beide vielleicht auch so aus der Nummer herauskommen. Und außerdem hatte die Dame mit dem roten Wagen ja auch übertrieben.
Die Dame fing an, zu schreien: "Das ist GELOGEN! Das ist sowas von GELOGEN! Im Gegensatz zu diesem Herrn hier habe ICH nicht vergessen, was ich in der Fahrschule gelernt habe!!!"
Die beiden Polizistinnen sahen sich gegenseitig an und die ältere schüttelte den Kopf. Dann ließen sie John ins Röhrchen pusten. Dann nahmen sie John mit in ihr Auto. Durch die Scheibe konnte John sehen, wie die Dame mit dem roten Wagen die Augen zusammenkniff und grinste. Das war eine Nullnummer, dachte John, während er von der jüngeren Polizistin ins Revier kutschiert wurde. Das letzte Mal, dass John sich hatte fahren lassen, war vor sechs Jahren gewesen. Damals hatte er seinen Führerschein für ein halbes Jahr abgeben müssen. Er dachte nicht gerne daran zurück. Und jetzt, fürchtete er, würde er ihn wahrscheinlich wieder abgeben müssen.
"Was passiert jetzt?", fragte er, aber keine der beiden antwortete ihm. Was schlussendlich passierte war eine Menge Bürokratie. Name, Ausweis und so weiter und so fort. Ausweis nicht da, im Handschuhfach. Handschuhfach geht nicht auf. Na gut, dann eben erst mal Name, Wohnort. Und so weiter. Dann Führerschein her. Führerschein ist auch im Handschuhfach. Na gut, dann wird es eine Aufforderung geben, ihn einzusenden. Und so weiter. Papierkram. Und so fort. Dann durfte John gehen.
Es war mittlerweile fast sechs Uhr. John fühlte sich ganz belämmert. So, als sei das gerade eben alles nicht ihm passiert. Als sei er nur ein unbeteiligter Beobachter gewesen. Erschrocken stellte John mit dem Blick auf die Uhr fest, dass er Phil schon wieder versetzt hatte. Er musste ihn anrufen. Schnell zog er sein Handy aus der Tasche und rief an. Phil ging sofort ran und klang überaus mürrisch.
"Wo bleibst du, Mann?", fragte er. Da war Besorgnis in seiner Stimme.
"Ich hatte einen kleinen Unfall ..."
"Oh. Scheiße. Geht's dir gut?" Noch mehr Besorgnis.
"Ja, schon. Aber jetzt hab ich kein Auto mehr. Also keines, das fahren kann." John lachte bitter.
"Du liebe Zeit ... Soll ich dich abholen? Wo bist du?"
Ach ja. Nach guten sechs Jahren durfte sich John wieder fahren lassen, anstatt selber zu fahren.
"Wenn es dir nichts ausmacht. Ich bin ... vor dem Revier."
"Oh, scheiße. Ich bin gleich da."
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