Kapitel 23 - Klarheit
Das Klopfen an der Tür wollte nicht aufhören. John versuchte, es zu ignorieren und sich einfach nur auf seine Biografie zu konzentrieren. Er hatte sich vorgenommen, sich den ganzen Vormittag nur mit dem Schreiben zu befassen und am Nachmittag zu seinem Neffen Phil zu fahren. Dabei hatte er sich selbst fest versprochen, dass es an der Tür klingeln konnte oder dass sein Telefon bimmeln konnte, er aber nicht reagieren würde. Dass ihn niemand bei seinem Vorhaben stören durfte.
Dieser Vorsatz wurde nun auf eine harte Bewährungsprobe gestellt, denn der ungebetene Besucher vor der Tür wollte nicht aufgeben. Klopf, klopf. Klopf, klopf. Fluchend klappte John seinen Laptop zu und ging zur Tür. Er ahnte schon, wer davor stehen würde, noch bevor er durch den Türspion gelugt hatte.
"John!" Zielstrebig stapfte die zierliche Gestalt schnurstracks an John vorbei durch den Flur ins Wohnzimmer. Er hatte mit ihr gerechnet, wenn auch nicht schon so früh. Dabei war ihm durchaus klar gewesen, dass sie mit ihrem Auto nur gute sieben Stunden fahren musste und damit einiges schneller war als er mit dem Zug. Ebenfalls war ihm klar gewesen, dass sie Johns fluchtartige Abreise in weniger als einem Tag bemerken würde.
Schließlich hatte John auch davon ausgehen müssen, dass sie ihn im Auge gehabt hatte. Er wusste nicht genau, wo sich ihr Zimmer befunden hatte, aber ihr Fenster musste einen Ausblick in Richtung der Straße gewährt haben, sonst hätte sie ihn nicht beim Verlassen der Unterkunft beobachten können, als er ans Meer gegangen war.
"Bevor du etwas sagst: es tut mir leid! Okay, es tut mir leid", sagte John und hob beschwichtigend die Hände. Tara legte den Kopf schief und lächelte gequält.
"Ach, John ...", sagte sie und fasste sich an den Kopf als würde er ihr weh tun.
"Ich bin einfach so abgereist und das war nicht gerade höflich von mir, aber ...", sagte John. Er hatte sich diese Worte genau so zurechtgelegt.
"Warte mal, ich glaube, jetzt bin ich dran", sagte Tara.
"Was? Wieso?", fragte John.
"Ich muss dir jetzt was sagen." Tara schaute auf den Boden und dann in Johns verdutztes Gesicht.
"Hör zu, John. Ich war das mit den Steckbriefen. Es tut mir wirklich leid. Ich habe ja nicht damit gerechnet, dass du gleich bis nach Frankreich fliehen würdest ..."
John blieb stumm. Er fühlte sich, als habe er Taras Worte nicht richtig verstanden. Als hätte sie sie in einer ihm unbekannten Sprache artikuliert. Mit starrem Blick schaute er sie an und wartete darauf, dass sie weiter sprach. Sie schaute ihn an, wie ein Reh kurz bevor es aus dem Sichtfeld sprang.
"Sag' bitte etwas", sagte sie leise.
"Du warst das mit den Steckbriefen?", fragte John.
"Ja. Und es tut mir wirklich leid, ich ..."
"WARUM? Warum?", rief John flehentlich.
"Ich ... du ... ich dachte, du seist ein Arschloch, das jemand in die Schranken weisen muss. Mein Vater hatte mir von dir erzählt. Wie du ihn behandelt hattest. Ich war entsetzt gewesen. Und dann, wie der Zufall es so wollte, fand ich dich kurze Zeit später auf Love and People. Ich wusste zuerst nicht einmal, dass du es warst, der hinter Jürgen Katz steckte. Ich war am Laptop gesessen und hatte mir dein Profil angeschaut. Ich hatte nicht bemerkt, dass mein Vater hinter mir stand. Der war das, hatte er gesagt und auf den Laptop gezeigt. Der Typ war der Kunde, von dem ich dir erzählt habe. Aber warum hat der hier graue Haare?"
Tara unterbrach sich und wartete auf eine Reaktion von John. Als die ausblieb, sprach sie weiter.
"Innerhalb ganz kurzer Zeit hatte ich einen richtig schlechten Eindruck von dir. Überleg doch mal: ein Typ, der so mit einem Handwerker rumspringt und sich dann noch auf einer Datingplattform unter falschem Namen ausgibt. Aus meinem Vater hab' ich deinen richtigen Namen heraus bekommen und direkt in der Suchmaschine eingegeben. Was finde ich? Dein Mitarbeiterprofil bei WinkelmannWash. Das Bild, das ich für die Steckbriefe verwendet habe. Ich hab' dir einen Schrecken einjagen wollen. Klar, das war dumm. Ich hab' ja selber etwas Unrechtes getan. Aber die Steckbriefe sind ja nicht lange in den Schaufenstern gehangen. Noch am selben Tag haben die Ladenbesitzer fast alle abgenommen."
"Und woher wusstest du, dass ich ausgerechnet an dem Tag in die Innenstadt gehen werde?", fragte John.
"Das hatte ich nicht gewusst. War eher Zufall, denke ich", sagte Tara.
"Und du sagtest mir, du hättest keine Kreativität", sagte John zynisch.
"John, bitte verzeih mir. Ich bin dir direkt hinterher gereist. Als du sagtest, du seist im Süden von Frankreich, dachte ich, mich trifft der Schlag. Da war mir klar geworden, dass ich zu weit gegangen bin", sagte Tara.
"Na schön, dass es dir aufgefallen ist", sagte John.
"Es tut mir leid", murmelte Tara.
John atmete schnaufend aus und schüttelte den Kopf. Da stand sie vor ihm, die taffe Tara, wie ein Häufchen Elend. Was er gerade gehört hatte, wollte aber nicht in Johns Kopf gehen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass jemand so viel Aufwand machen würde, nur um sich an jemand anderem zu rächen. Vor allen Dingen war es John nicht klar, warum genau sie sich an ihm hatte rächen wollen.
"Eine Frage hast du mir immer noch nicht beantwortet. Warum?", fragte John mit Nachdruck.
"Das hab' ich doch schon gesagt. Weil ich dich in die Schranken ..."
"Nein, das gilt nicht. Du hast dir doch nicht so einen Aufwand gemacht, damit du einen x-beliebigen Typen in seine Schranken weist. Und vor allem habe ich mich ja bei deinem Vater entschuldigt. Also wenn mein unfreundliches Auftreten wirklich der Grund war ...", sagte John nachdenklich.
"Ich weiß, dass du dich entschuldigt hast. Aber ich wollte, dass solche Typen wie du auch mal lernen, dass man sich nicht total daneben benehmen kann und dann durch eine Entschuldigung einfach wieder alles gut ist. Solche Typen wie du sollten lernen, dass das Gegenüber auch Gefühle hat ...", sagte Tara.
John sah, dass sich in ihren Augen Tränen sammelten. Es würde nicht mehr lange dauern und sie würde ganz aufgelöst sein. Doch Mitleid hatte er in diesem Moment trotzdem nicht mit ihr. Er zweifelte ihre fadenscheinige Erklärung an. Ja, John hatte sich ihrem Vater gegenüber nicht gut verhalten und ja, John hatte ein Profil unter falschem Namen und mit falschen Angaben erstellt, was auch nicht richtig war. Aber hatte er dafür den Psychoterror wirklich verdient? Wegen diesen Dummheiten?
"Also hat es gereicht, dass ich mich einmal daneben benehme und ein falsches Profil auf Love and People erstelle, damit du mich durch die Weltgeschichte jagst?", fragte John.
"Ja. Das hat gereicht. Du solltest das Gefühl haben, dass auch andere Leute dich aufs Korn nehmen können", sagte Tara. In den letzten Worten klangen Tränen an. John betrachtete sie. Sie vermied seinen Blick. Er konnte ihr ansehen, dass sie sich am liebsten abwenden wollte, sich aber gleichzeitig nicht die Blöße geben und vor John Schwäche zeigen wollte. Sie blieb stehen wie sie war und kämpfte mit den Tränen.
Bevor er die nächste Frage stellte, ließ John ihr ein wenig Zeit, sich zu sammeln. Er wollte ihr zeigen, dass er nicht das Arschloch war als das Tara ihn darstellen wollte. John war ein Guter. Der alte John und der neue John auch. Tara sollte ihr Bild von ihm überdenken. Er hatte mehr Empathie als sie ihm zugestehen wollte, das sah er ihr deutlich an.
"Warum bist du mir hinterher gefahren?", fragte John in einem betont milden Tonfall.
"Das habe ich dir gesagt. Weil ich dich liebe", sagte Tara und ein verhaltenes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht.
"Du liebst ein Arschloch?", fragte John und schnaubte verächtlich. Er hatte es einfach nicht unterdrücken können. Er verstand Tara nicht.
"Ja. Weißt du, ich bin zu dem Treffen mit dir gekommen, obwohl ich der Meinung war, dass du ein Arsch bist, dem man seine Grenzen aufzeigen sollte. Aber ich wollte dich auch kennenlernen. Ich wollte wissen, wen ich da aufs Korn nehme. Und du hast mir gefallen, auch wenn ich das nicht zugeben wollte. In der Nacht darauf bist du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Was meinst du, warum ich mitten in der Nacht ans Telefon gegangen bin, als du mich aus Frankreich angerufen hast? Wegen dir konnte ich einfach nicht mehr schlafen", sagte Tara.
"Dir ist schon klar, dass das jetzt eine denkbar schlechte Basis für eine Beziehung ist?", fragte John. Tara nickte verhalten.
"Ich denke, wir sollten eine Weile lang Abstand voneinander gewinnen. Ich muss erst einmal darüber nachdenken", sagte John.
"Verstehe ich. Ich würde mich an deiner Stelle jetzt auch hassen", sagte Tara.
John kam einen Schritt auf Tara zu und legte ihr seine Hand auf die Schulter.
"Ich hasse dich nicht. Aber ich muss mir darüber klar werden, ob ich mit dir noch weiterhin Zeit verbringen kann oder ob diese Sache zwischen uns so groß ist, dass sie immer in den Vordergrund rücken wird. Außerdem glaube ich, dass du dich damit nicht an mir rächen wolltest, sondern dass du mich als Projektionsfläche missbraucht hast", sagte John.
Als er den letzten Satz ausgesprochen hatte, traf ihn ein feindseliger Blick von Tara.
"Wie meinst du das jetzt?", fragte sie scharf.
"Du hast von 'Typen wie mir' gesprochen. Ich glaube, dass da etwas in deiner Vergangenheit passiert ist, das du immer noch nicht bewältigt hast. Oder dass du versucht hast, es mithilfe von mir zu bewältigen", sagte John.
Tara wandte sich von John ab und lief in Richtung der Tür. Sie wird gehen wollen, bevor sie in Tränen ausbricht, dachte John. Er wollte sie nicht aufhalten. Er würde sie in Ruhe lassen. An der Tür blieb sie einige Sekunden lang stehen, wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht und drehte sich dann doch noch einmal zu John um.
"Auf Wiedersehen", sagte sie und dann verschwand sie durch die Tür.
"Wiedersehen", sagte John in den Raum hinein. Tara hatte es nicht mehr gehört. Sie war gegangen, ohne auf eine Antwort von John zu warten.
John ging ans Fenster und schaute nach draußen. Er konnte Tara dort unten auf dem Bürgersteig ausmachen. Wie sie nach draußen lief und sich mit den Händen über die Augen wischte. Sie hatte ihr Motorrad am Straßenrand abgestellt. John beobachtete sie dabei, wie sie aufstieg und sich den Helm aufsetzte. Sie warf noch einen Blick auf das Haus und schaute dabei genau zu dem Fenster, aus dem John sie gerade beobachtete. Einen Moment lang schienen sich die beiden über mehrere Meter Luftlinie hinweg anzuschauen, dann wandte sich Tara ab und fuhr davon.
Zurück an seinem Laptop konnte John sich nicht mehr auf seine Biografie konzentrieren. Klar, das was er jetzt gerade erfahren hatte, würde sich wunderbar als Stoff zum Schreiben eignen. Aber es war so privat, dass er es auf keinen Fall mit einbeziehen wollte. Andererseits war, wie er jetzt erkannt hatte, die ganze Geschichte einzig und alleine darauf aufgebaut: auf einer Frau, die sich an einem Mann hatte rächen wollen.
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