Kapitel 17 - Ein Anrufer
Wo konnte man telefonieren, wenn man kein Handy hatte? In einer Telefonzelle, natürlich. John nahm sich vor, direkt eine zu suchen. Er war ausgeschlafen, was sollte er sonst die ganze Nacht lang tun? Ihm fiel ein, dass sich sein Geldbeutel noch in seiner alten Hose befand. Die sich wiederum im Waschbecken befand. John war froh, noch kein Wasser darüber laufen gelassen zu haben. Er suchte die Taschen ab und fand sein Portemonnaie darin. Und mit ihm fiel noch ein kleiner Zettel heraus.
John entfaltete ihn. Darauf stand "Tara" und darunter eine Nummer. John zog die Augenbrauen hoch. An den Zettel erinnerte er sich nicht. Hatte Tara ihn in seine Tasche gesteckt? Wenn ja, wann? John drehte den Zettel um, aber da stand nichts weiter. Nur der Name und die Telefonnummer. Er überlegte, ob er sie anrufen sollte. Er entschied sich dafür, erst seine Eltern anzurufen. Dann fiel ihm ein, dass gerade Nacht war. Und wie reagierte man, wenn in der Nacht ein Anruf kam - und dann auch noch aus Südfrankreich? Man ging nicht ran, wenn man niemanden kannte, der sich gerade in Südfrankreich befand. Ganz einfach.
Er würde mit einem nächtlichen Anruf seine Eltern noch mehr erschrecken, als dass die ganze Sache einen Nutzen hätte. Aber Tara ... sie würde womöglich auf einen nächtlichen Anruf gefasst sein. Sie hatte ihm ja immerhin den Zettel mit ihrer Nummer zugesteckt. Also würde sie wahrscheinlich damit rechnen, angerufen zu werden. Vielleicht war sie auch noch gar nicht im Bett. Viele junge Leute gingen nicht so früh ins Bett. Bei dem Gedanken musste John grinsen. Es klang nämlich wie die Gedanken eines alten Mannes. Also ... also würde er sie anrufen. Er warf einen Blick auf die Uhr, die über der Tür hing. Nach Mitternacht.
Leise zog John die Zimmertür hinter sich zu und ging die Treppen hinunter. Draußen auf der Straße war kaum noch jemand unterwegs. Zumindest in diesem Moment war John der einzige weit und breit. Alle Läden waren geschlossen, Türen waren zu, Rollos unten. John fühlte sich ein wenig unbehaglich, in der Dunkelheit alleine unterwegs zu sein. Das vermied er seit jeher. Und es zu vermeiden war auch nie schwer gewesen. Falls er doch einmal nachts unterwegs sein musste, dann hatte er in der geschützten Blechhülle seines Autos gesessen.
An einer Straßenecke entdeckte John eine Telefonzelle. Er trat ein. Wie funktioniert das nochmal ..., überlegte er. Nachdem er Taras Nummer gewählt hatte, läutete es lange. Dann wurde der Hörer abgenommen. Eine wache Stimme sagte: "Hallo?"
"Tara?", fragte John.
"John?", fragte die Stimme.
"Ja, hier ist John. Tara, wie geht's dir?", fragte er zurückhaltend. Er hatte sie bei ihrem letzten Treffen wahrscheinlich verletzt, nahm er an. Auch wenn er in ihrer Stimme keine Spur davon hörte.
"Mir geht's gut, John. Und dir? Sag mal von wo aus rufst du eigentlich an?"
John glaubte, ein wenig Belustigung in ihrer Stimme hören zu können.
"Ich ... aus einer Telefonzelle in Südfrankreich", sagte er und grinste verstohlen. Er schaute durch die verschmierte Glasscheibe nach draußen. Immer noch war niemand auf der Straße zu sehen.
"Südfrankreich? Wie bist du jetzt dahin gekommen?", fragte Tara und lachte.
"Lange Geschichte ...", sagte John. Stille in der Leitung. Es war, als würde Tara darauf warten, dass John die Geschichte erzählte, aber das zu tun, war ihm definitiv zu aufwändig. Und er hatte womöglich nicht genügen Münzen dabei.
"Gibt es etwas Neues? Wegen der Plakate?", fragte John.
"Nee. Ich war heute in der Stadt. Ehrlich gesagt ... ich habe kein einziges mehr gesehen, John."
"Wie?", hauchte John in den Hörer.
"Ja. Wirklich. Ich bin die Straße rauf und runter gelaufen. Ich habe bei fast allen Geschäften geschaut. Entweder die haben die Plakate entfernt ... oder ..."
"... oder ich bin irre", vollendete John den Satz. Er hörte Tara am anderen Ende der Leitung seufzen.
"Ach, John. Du bist echt der komischste Vogel, den ich je gesehen habe. Aber ich habe die Plakate ja auch gesehen. Und ich werde dir dabei helfen, diese Sache irgendwie aufzuklären. Auch wenn ich dich nicht lange kenne. Ich halte meine Augen weiter offen. Du kannst mich jederzeit anrufen. Auch in der Nacht."
John lächelte.
"Danke, das ist nicht selbstverständlich ...", sagte John. Er warf noch eine Münze nach.
"Ich fahre morgen zu deiner Wohnung und schaue nach, ob es Anzeichen gibt, dass jemand da gewesen ist", sagte Tara.
"Das musst du nicht", sagte John, war aber gerührt, dass Tara ihm helfen wollte.
"Doch, doch. Das ist gar kein Problem. Wir gehen der Sache auf den Grund."
"Danke", sagte John.
"Bitte. Tja, dann wünsche ich dir eine gute Nacht ... du hast doch einen Platz zum Übernachten gefunden, oder?", fragte Tara.
"Ja, habe ich. Ich habe den ganzen Nachmittag geschlafen, deswegen rufe ich auch jetzt erst an. Dir auch eine gute Nacht", sagte John. Damit legte er auf. Eine Münze klapperte aus dem Gerät heraus. John nahm sie und verließ die Telefonzelle. Er wusste nicht, was er jetzt mit den Informationen anfangen sollte. Und mit seinen Gefühlen. Er freute sich, weil Tara so nett gewesen war. Und weil er ihr nicht egal war. Aber er war beunruhigt, komischerweise deshalb, weil die Plakate nicht mehr da waren.
John stand vor der Telefonzelle. Einen Moment überlegte er, ob er eine Runde um die Häuser laufen sollte. Er versprach sich davon, den Kopf frei zu bekommen. Die Leute in den Filmen oder Büchern taten es doch auch immer, wenn sie gerade an ihrem persönlichen Tiefpunkt angekommen waren, oder nicht? Dann wurde eine nachdenkliche Musik aufgelegt und das nachdenkliche Gesicht des Protagonisten in Nahaufnahme gezeigt. Man würde vielleicht ein Lied einspielen wie ... wie Raindrops?
John dachte an Tara. Und er stand weiterhin vor der Telefonzelle. Er entschied sich dagegen, noch herumzulaufen und sah zu, dass er auf schnellstem Weg in sein Zimmer kam. Die Nacht fand er seit jeher unheimlich. Die Dunkelheit machte ihm Angst, denn er konnte keine Schatten sehen. Man wusste nicht, wer oder was hinter der nächsten Ecke lauerte. Ein wenig ärgerte sich John über sich selbst, weil er immer so eine Angst hatte, aber er tröstete sich damit, dass es ja wohl gerechtfertigt sei, in der Nacht Angst zu haben. Im Schutz der Dunkelheit passiert vieles, dachte er, und deshalb geht es jetzt zurück in das sichere Zimmer.
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