Kapitel 11 - Tour
John hatte noch nie auf einem Motorrad gesessen. Und jetzt saß er hinten auf Taras Zweirad und klammerte sich an ihr fest. Sie hatte ihn dazu überredet, ihn nach Hause zu fahren. Aber jetzt dachte sich John, er hätte lieber hartnäckig bleiben sollen. Er hatte darauf bestanden, den Bus zu nehmen. Aber Tara hatte ihn doch dazu überredet. Auf dem Motorrad fühlte sich John mehr als unwohl. Er hatte andauernd das Gefühl, er würde über kurz oder lang herunterfallen. Mit verkrampften Fingern krallte er sich an Taras Jacke fest.
"Bleib locker", rief Tara ihm gegen das Rauschen des Fahrtwinds zu.
"Jaaa ...", wimmerte John. Er hielt den Blick fest auf Taras Helm gerichtet. Nach links oder rechts oder nach vorne zu sehen traute er sich nicht. Wenn John auch noch sehen würde, wie schnell die Welt an ihm vorbei rauschte, dann würde ihm schlecht werden oder er würde anfangen, zu schreien. Er versuchte, sich auf den zarten Geruch ihrer Haare zu konzentrieren, auf das Gefühl, seine Arme um die schmale Taille zu schlingen. Das war durchaus kein schlechtes Gefühl.
Wenn John einen Blick nach links, rechts oder vorne geworfen hätte, dann wäre ihm aufgefallen, dass Tara ihn nicht nachhause fuhr. Es hätte ihm eigentlich auch schon komisch vorkommen müssen, dass sie nicht nach Richtungsanweisungen gefragt hatte, denn sie wusste ja schließlich nicht, wo genau John wohnte. Aber John war ganz darauf bedacht, möglichst wenig von außen zu sehen, und so sah er nicht, dass in der Gegend, in die sie fuhren, immer weniger anstatt immer mehr Häuser waren.
Als Tara anhielt, wagte John einen Blick um sich herum. Da war viel Grün. Dort wo er wohnte war nie und nimmer so viel Grün. Bäume, Wiese. Wasser plätscherte. Ein kleiner Bach, der nur einen Meter neben den beiden floss.
"Wo sind wir?", fragte John und rutschte ungelenk vom Motorrad herunter. Er und Tara nahmen sich die Helme ab.
"Mein Lieblingsort", sagte Tara. Sie sah John an und lachte. "Ey, Mann, guck doch nicht so böse! Ich tue dir damit einen Gefallen. Ist es nicht schön hier?"
"Ich gucke nicht böse", sagte John mit verstellter Stimme und verschränkte die Arme vor der Brust. Tara lachte. John lachte auch. Er schaute sich um.
"Wo sind wir hier?", fragte er nochmal.
"Wir sind tatsächlich gar nicht so weit weg von der Stadt, aber es sieht aus, als sei es eine ganz andere Welt, stimmt's? Das hier nennt sich Wald", sagte sie und breitete ihre Arme aus. Wie sie jetzt vor John stand, bemerkte er, wie klein sie war. Sie reichte ihm bis knapp zur Schulter. Aber sie hatte mehr Energie als zehn Johns zusammen.
"Du gehst gerne in den Wald", murmelte John und es klang wie eine Notiz an sich selbst.
"Ja, klar. Hier ist es ruhig, aber nicht verschlafen. Der Wald lebt! Es gibt hier so viel zu sehen, es wird nie langweilig. Manchmal gehe ich hier joggen. Aber nicht immer, denn ich habe bei sowas keine Ausdauer. Ich mache es ein paar Mal und dann habe ich wieder Lust auf etwas ganz anderes. Gehst du joggen oder spazieren oder so?"
"Nee. Ich ... hatte nie Zeit für sowas." John scharrte mit dem Fuß durch den Schotter.
"Keine Zeit zum Spazierengehen? Die Zeit sollte man sich doch nehmen! Heißt das, du gehst regelrecht vom Bett in die Arbeit und von der Arbeit ins Bett und dazwischen machst du ... nichts?" Tara sah John entgeistert an.
"Kann man so sagen. Ich hab's ja gesagt: ich habe keine Hobbys. Glaubst du es jetzt?"
Tara verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr lederne Jacke quietschte dabei. "Ich will es nicht glauben", sagte sie und zog eine Augenbraue hoch.
"Dann machen wir jetzt etwas. Was du willst. Wir können joggen oder spazieren gehen oder sonst was", sagte John. Tara sah ihn freudig an.
"Echt? Cool, Mann. Ja, für's Joggen haben wir nicht die richtigen Klamotten. Du nicht und ich auch nicht. Aber spazieren gehen geht immer."
Tara schloss ihr Motorrad ab und die beiden gingen los. Es war zwar nicht so, als ob John noch nie in einem Wald gewesen war, aber es war schon in der Tat sehr lange her, seit dem er einen Wald zum letzten Mal betreten hatte. Er sah sich um wie ein kleiner Junge, der das alles zu ersten Mal sah. Die Bäume mit ihren verschiedenen Blättern in allen möglichen Formen, die vorbeiflitzenden Eichhörnchen, die Schnecken, die gemütlich den Weg überquerten, die Tannenzapfen, die herumlagen.
Sie liefen nebeneinander her und eine ganze Weile sagte keiner etwas. Bei einem Baum, den John nicht identifizieren konnte, blieb Tara stehen und strich mit der Hand über die glatte schwarz-weiße Rinde.
"Diese Birke steht schon hier seit ich denken kann", sagte sie, "manchmal werden Bäume gefällt, aber niemals dieser hier. Den kenne ich schon seit ich ein kleiner Stöpsel war. Mein Bruder ist mit mir immer hierher gekommen. Der weiß total viel über Bäume und Kräuter und so."
Tara schaute an dem hohen Baum hoch. John folgte ihrem Blick. Die Baumkrone war viele Meter über den beiden. Der Baum musste wirklich schon lange dort stehen, denn er war einer der größten im Umkreis. John legte seine Hand auf die Rinde. Tara sah es und lächelte.
"Ein toller Baum", merkte sie an und ging weiter. Im Vorbeigehen strich ihre Hand über die hohen Gräser am Wegesrand. John betrachtete sie eine Weile. Es sah denkbar komisch aus; eine kleine Frau im ledernen schwarz-roten Bikeroutfit in einem Wald. Tara sah aus wie von einem anderen Stern. Als würde sie von ganz weit her kommen, um auf diesem Planeten den fremdartigen Wald zu erkunden. Sie drehte sich um und rief: "Kommst du?"
John holte auf und sagte: "Ich sollte öfter herkommen."
"Na also, geht doch", sagte Tara zufrieden und klopfte John auf die Schulter.
"Dann macht Tante Tara mit Johnny jetzt öfter einen Ausflug, was meinst du?" Sie stieß John sanft den Ellbogen in die Seite.
"Wenn Tante Tara so meint", entgegnete John und grinste verschmitzt.
Sie gingen nebeneinander her und Tara summte ein Lied vor sich hin, dessen Melodie John noch nie gehört hatte.
"Singst du auch eigene Lieder?", fragte er.
"Mhm. Ich schreibe auch eigene Songs. Sie sind zwar nichts Besonderes, aber guter Durchschnitt und die Leute hören sie gerne. Es ist ja doch was anderes, wenn man auch eigene Lieder singt und nicht nur welche, die es schon gibt."
"Finde ich gut. Also, dass du eigene Lieder machst. Ich wäre zu unkreativ für sowas. Ich würde keinen Text auf die Reihe bekommen, geschweige denn, eine Melodie zu komponieren. Machst du die auch selber?"
"Die Melodie? Nein, die macht mein Bruder. Ich überlege mir, wie das Lied klingen soll und er bastelt mir eine Melodie daraus. Wir nehmen den Song dann auf - aber nicht professionell, so zuhause ohne irgendwelchen Profi-Schnickschnack. Ziemlich dilettantisch eigentlich, aber ... es macht uns Spaß. Tja, was soll ich sagen ..."
"Magst du mir etwas vorsingen?", fragte John.
"Gerne. Was willst du hören? Sun love oder Raindrops?"
"Sind sie beide von dir?"
"Ja."
"Hmmm ... nehmen wir mal Sun love", sagte John.
"Okay", Tara räusperte sich, "also gut ... Cloudless blue sky, people passing by, sunshine is arriving, people are striving ... striving to enjoy ... the beauty of the day ..." Tara schaute John an. Auf ihren Wangen bildeten sich kleine rote Röschen.
"Hey, deine Stimme! Das war mega gut! Wow, und den hast du selber geschrieben?" John sah sie anerkennend an.
"Ach komm, das ist so simpel. Übersetze es mal auf Deutsch: wolkenloser Himmel, Leute laufen rum, die Sonne scheint und die Leute bemühen sich, es zu genießen ... Auf Englisch klingt es viel besser. Auf Deutsch klingt es wie der Aufsatz von einem Drittklässler. Und noch dazu ist der Reim von enjoy und day nicht sauber. Aber mir ist nix anderes eingefallen, was Sinn macht."
"Ich glaube, du siehst das ganz falsch. Der Song ist perfekt. Und nicht jeder Reim muss sauber sein. Ich finde dieses Lied fantastisch! Ich wette, es wird oft gewünscht."
"Tatsächlich ja. Ich habe das ja nie verstanden. Ich habe den Song mit achtzehn geschrieben. Das war im Sommer. Ich war mit einer Freundin im Freibad gewesen und ... dreimal darfst du raten ... der Himmel war wolkenlos und mir ist die Idee zu dem Song gekommen. Alle fanden ihn gut, aber ich finde ihn zu einfach. Er hat keine Tiefe. Es ist ein Song, den man einfach nur anhören und gut finden kann, aber es ist keine Message drin." Tara seufzte.
"Muss denn jeder Song eine Message haben? Er kann doch auch einfach so existieren. Als Kunstwerk. Und es ist ein Kunstwerk. Darf ich vielleicht auch noch Raindrops hören?", fragte John. Tara lächelte ihn an.
"Klar doch. Es freut mich ja, wenn andere meine Songs mögen. Also gut, Raindrops ... Gentle raindrops are falling on my coat, I am sailing in my little boat, sailing through the stormy night, holding my coat very tight ..." Tara lächelte verlegen.
"Cool. Cooler song. Toller Rhythmus. Du hast echt Talent!", sagte John.
"Danke, du bist süß. Ich habe noch eine Handvoll andere Songs geschrieben. Aber die beiden werden fast bei jeder Feier angefragt. Die kommen gut an. Man kann anscheinend gut dazu tanzen ..."
"Gefallen dir deine eigenen Lieder nicht? Warum so selbstkritisch?", fragte John.
"Na weil ... ich mag meine Lieder, ja. Aber ich ... würde gerne auch etwas damit ausdrücken. Nicht nur Eindrücke beschreiben. Aber so kreativ bin ich dann auch wieder nicht." Tara zuckte mit den Schultern.
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