Kapitel 1 - Handwerksarbeit
"Dort hinten."
John zeigte auf das große Panoramafenster mit Blick auf die darunter liegende Stadt am hinteren Ende seines riesigen Wohnzimmers. Der Handwerker - ein kleiner, feister Mann mit roten Wangen in einer zu langen Cargohose - ging hin und begutachtete seelenruhig den schief hängenden Rollo. John tanzte ungeduldig von einem Bein aufs andere. Der Handwerker nahm den Blick vom Rollo und schaute John mit belustigtem Blick an.
"Gehen Sie doch auf Toilette wenn Sie müssen", sagte der Handwerker leichthin und lachte. John rang sich ein missmutiges Lächeln ab.
"Ich hab's ganz schön eilig", sagte er und tippte auf seine Armbanduhr. Er hatte noch einen Termin mit einem Kunden, aber so eilig, wie er tat, hätte er es nicht haben müssen. Es war noch Zeit. Aber John war John und John hatte es immer eilig.
"Okay, okay. Also ich denke, ich brauche da schon so ... 'ne halbe Stunde. Aber ich muss noch den Werkzeugkoffer holen. Der ist im Auto", sagte der Handwerker. John zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche der mittelblauen Nadelstreifenhose und löste einen Schlüssel vom Bund, den er dem Handwerker hin hielt.
"Hier, bitte. Nehmen Sie den, dann kommen Sie auch ohne mich wieder hier rein. Ich vertraue Ihnen. Wenn Sie gehen, dann legen Sie den Schlüssel einfach auf die Kommode neben der Tür und ziehen die Tür hinter sich zu. Wenn Sie mich bescheißen, dann hört Ihr Chef von mir. Klar?", sagte John.
Der Handwerker verzog keine Miene und sagte: "Danke für Ihr Vertrauen." Dabei betonte er das letzte Wort. John presste die Lippen zusammen und deutete mit dem Daumen in Richtung Tür. "Ich muss los. Sie kommen zurecht?"
"Ja."
"Dann ... Wiedersehen."
"Ja."
John verließ die Wohnung und lief durch den Korridor zum Aufzug. Er fuhr ins Untergeschoß und lief in die Garage. Sein Sportwagen parkte direkt neben der Tür. Der schwarze Lack glänzte im Licht der Neonröhren. John drückte auf den Knopf auf dem Autoschlüssel und die Rücklichter leuchteten zur Begrüßung auf. Er ließ sich auf den beigen Ledersitz fallen und zog die Tür zu. Sie schloss mit einem wunderbar dumpfen Geräusch. Das war das Geräusch, das für John den besten Schutz bei einem Unfall verriet. Auf die dicken Türen war Verlass. Wobei er hoffte, diesen Schutz nicht ernsthaft brauchen zu müssen.
John wollte den Motor starten, da fiel ihm auf, dass er seinen Aktenkoffer in der Wohnung vergessen hatte. Vor seinem inneren Auge sah er ihn auf dem Stuhl neben seinem Bett liegen. Der Stuhl, auf dessen Lehne er immer seine Hemden für den nächsten Tag legte.
John schnaufte und schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Die Armbanduhr sagte, dass es jetzt doch sehr, sehr knapp werden würde. Für das Hochlaufen und Koffer holen würden zehn Minuten draufgehen. Bis ins Büro brauchte John - inklusive Parken und Laufen - fünfzehn Minuten. Der Termin war in zwanzig Minuten. Man brauchte kein Zahlengenie zu sein, um sich auszurechnen, dass das nicht funktionieren würde. Selbst wenn John rasen und alle roten Ampeln überfahren würde, würde es nicht reichen. Aber das würde er lieber nicht tun. Die dicken Türen des Autos musste er nicht ausgerechnet heute austesten.
Mit fahrigen Fingern griff in seine Jacketttasche und holte sein Handy heraus. Er würde den Kunden anrufen müssen. Er würde sagen müssen, dass er einige Minuten zu spät kommen würde wegen ... ja, wegen was eigentlich? Weil er seinen dämlichen Koffer in der Wohnung vergessen hatte? Sollte er sich echt die Blöße geben? Entschuldigen Sie, ich hatte meinen Koffer in der Wohnung vergessen und musste nochmal hochgehen ... Nein! Was hatte ihn denn Zeit gekostet? Der Handwerker! Der Handwerker hatte dafür gesorgt, dass Zeit vertrödelt wurde. Ja, es war der Handwerker. Der war der Grund.
Der Kunde hob beim ersten Läuten ab.
"Wiesemann", meldete er sich.
"Guten Tag, hier ist John Hellwer ... von der Firma WinkelmannWash. Ich kann leider den Termin nicht einhalten und wollte Ihnen mitteilen, dass ich etwa zehn bis fünfzehn Minuten verspätet bei Ihnen sein werde ..."
Stille an anderen Ende. John hatte gehofft, dass der Kunde die Stille mit einer beruhigenden Floskel füllen würde, aber der am anderen Ende holte nur Luft, um zu rufen: "Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit! Ich habe einen dichten Terminplan und da sind auch fünf Minuten Verspätung noch fünf zu viel! Wissen Sie was? Vergessen Sie den Termin einfach. Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie beschweren!"
John sank tiefer in den Ledersitz. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er das Lenkrad mit der freien Hand fest umklammert hielt. Als sein Blick darauf fiel, löste er den Griff und räusperte sich.
"Entschuldigen Sie, aber ich kann nichts dafür. Mein Rollladen ist kaputt und ich musste den Handwerker rufen. Dem habe ich sogar meinen Schlüssel gegeben, der ist jetzt alleine in meiner Wohnung, damit ich schnellstmöglich zu Ihnen kommen kann ...", stammelte John. Wie unprofessionell, dachte er sich im selben Moment und lockerte seine Krawatte, was musste er das dem Kunden jetzt auch noch erzählen? Dass er den Handwerker alleine zurückgelassen hatte, brauchte der Mann doch nicht zu wissen.
"Das ist mir sowas von egal! Es ist mir egal, ob Sie den Termin verpassen, weil Ihr Handwerker was auch immer macht oder weil eine Herde Kühe die Straße versperrt. Verpasst ist verpasst." Und mit diesen Worten legte er auf.
John starrte auf sein Handy, als hätte dieses selbst ihn gerade zur Sau gemacht und schaltete es aus. Losfahren brauchte er jetzt nicht mehr. Es wäre der einzige Termin heute gewesen. Es wäre der einzige Grund gewesen, heute ins Büro zu fahren. Andernfalls hätte John heute zuhause bleiben können.
Dann habe ich heute frei, dachte John bitter. Er stieg wieder aus, wobei er beim Aussteigen ungewollt gegen die Tür seines Wagens stieß und diese an die Wand schnappte. "Nein!", stieß er hervor und sah sich die Tür von außen an. Da war eine Delle und der Lack war angekratzt. Ein Makel in dem perfekten Gesamtbild.
"Nein", schnaufte er. Er schloss die Tür und fuhr mit dem Finger über die verkratzte Stelle. "Nein", hauchte er noch einmal und fuhr sich mit beiden Händen durch die sorgsam gestylten braunen Haare. Er schloss das Auto ab und ging, ohne sich noch einmal danach umzusehen, in Richtung des Aufzugs. Ein anderes Mal. Ein anderes Mal würde er sich des Dilemmas annehmen.
"Da sind Sie ja wieder!", sagte der Handwerker gespielt freudig ohne sich zu John umzudrehen. Er schraubte gerade am Rollladenkasten herum.
"Ja, da bin ich wieder. Ich habe meinen Termin verpasst. Tja. Blöd für mich, nicht wahr? Hauptsache, Sie haben nicht Ihren Termin verpasst, oder?", schnauzte John. Der Handwerker hielt inne und sah John scharf an.
"Was wollen Sie damit sagen?", fragte er lauernd.
"Ach nichts. Nichts ... nur, dass ich auch einige Minuten länger auf Sie hab warten müssen!"
"Ach so? Der feine Herr ruft sich einen Handwerker und plant nicht ein bisschen Zeit ein? Ich hatte gesagt, ich komme um zehn nach acht und wann bin ich gekommen? Um zehn nach acht." Der Handwerker wandte sich wieder dem Rollo zu.
"Und Sie hätten nicht um acht kommen können?", fragte John matt. Er merkte, dass er nicht im Recht war, versuchte aber trotzdem seinen Posten zu verteidigen. Auch wenn es sinnlos war.
"Ich hatte gesagt, ich komme um zehn nach acht und Sie haben gesagt, das sei in Ordnung", sagte der Handwerker mit lehrmeisterhafter Stimme.
John gab sich geschlagen. "Okay, tut mir leid. Ich schnauze Sie an, weil ich nicht mit meinen Problemen klar komme. Nehmen Sie es nicht persönlich."
Der Handwerker machte ein grunzendes Geräusch und schraubte weiter. John ging in die Küche und betätigte die Kaffeemaschine.
"Wollen Sie auch einen Kaffee?", rief er ins Wohnzimmer.
"Nehme ich gern", kam zögernd zurück. "Mit Milch, wenn's geht."
John kam mit zwei Tassen wieder ins Wohnzimmer. Der Handwerker räumte sein Werkzeug in den mächtigen Werkzeugkoffer, der ihm fast bis zur Hüfte reichte. John fragte sich, wie er den alleine hatte tragen können.
"Setzen wir uns", sagte John und deutete auf den Glastisch, der neben den Panoramafenstern stand. John schätzte den wunderbaren Ausblick beim Essen sehr. Ob morgens bei seiner Tasse Kaffee und einem Croissant, Mittags oder Abends. Sie setzten sich und John deutete auf den kunstvoll geschwungenen Drahtkorb in der Mitte des Tisches, in dem noch zwei Croissants vom Frühstück lagen.
"Bedienen Sie sich, bitte", sagte er. Der Handwerker bedankte sich und nahm sich ein Croissant. Er tauchte das eine Ende in den Kaffee und biss das Stück dann ab.
"Sehr lecker", brummte er mit einer Spur ungewollter Anerkennung in der Stimme.
Ja, dachte John stolz, sie kommen jeden Tag frisch.
Als der Handwerker das Croissant gegessen hatte, deutete er auf das andere, das sich noch in dem Korb befand, und John nickte. Der Mann nahm es sich und tauchte auch dieses Croissant in den Kaffee. Als er gegessen hatte, schüttete er sich den ganzen Kaffee in einem Zug herunter. Er stellte die Tasse wieder auf dem Tisch ab und sagte versöhnlich: "Vielen Dank. Das war sehr gut. Ich wäre dann auch fertig hier. Der Rollladen sollte wieder funktionieren."
John gab dem Mann seine Bezahlung und so viel Trinkgeld, wie die ganze Reparatur gekostet hatte, obendrauf. Der schaute ungläubig auf die Scheine und wollte sie nicht annehmen. John winkte ab.
"Sehen Sie es als ... Entschädigung. Weil ich so fies zu Ihnen war."
Der Handwerker bedankte sich noch einmal und ging dann. John bot ihm noch im Gehen an, ihm beim Tragen des Werkzeugkoffers zu helfen, aber der Mann winkte dankend ab.
Als John auf seinem Sofa lag und aus dem Panoramafenster den Himmel betrachtete, der heute voller Wolken hing, fiel ihm blitzartig sein Schlüssel wieder ein. Hatte der Handwerker ihn dagelassen oder hatte er ihn etwa mitgenommen? John suchte erst das Wohnzimmer ab, wo er den Schlüssel nicht fand. Dann, deutlich beunruhigter, fiel ihm ein, dass er auf der Kommode liegen könnte, was er aber für wenig wahrscheinlich hielt, da er dort ja vorbei gekommen war und ihn hätte sehen müssen. Trotzdem ging er zu der Kommode und sein Verdacht wurde bestätigt: der Schlüssel lag da nicht.
John tastete in seinem Jackett herum, weil darin sein Handy war. Er suchte die Nummer heraus, von der aus er mit dem Handwerker telefoniert hatte. Direkt beim Chef anrufen wollte er nicht, denn falls es sich um ein Missverständnis handelte, wollte er nicht direkt Staub aufwirbeln. Aber was, wenn es eben KEIN Missverständnis war? Wenn er wirklich und mit voller Absicht den Schlüssel mitgenommen hatte? Und heute Nacht wiederkommen und die ganze Bude leer räumen würde? John würde das Schloss austauschen lassen müssen und das würde wahrscheinlich eine Stange Geld kosten ... oder? Was kostete es, das Schloss austauschen zu lassen?
Mit zitternden Fingern hielt er das Handy an sein Ohr und ließ es läuten. Es dauerte eine ganze Weile, da nahm der Mann ab.
"Gibt es noch ein Problem mit dem Rollo?", fragte er.
"Nein. Alles gut mit dem Rollo. Es ist nur ... haben Sie vielleicht aus Versehen meinen Schlüssel mitgenommen? Ich finde ihn nämlich nicht mehr. Wo haben Sie ihn denn hingelegt?"
"Ich ... hmmm ..." Der Mann schien zu überlegen, denn es wurde still in der Leitung. John konnte nur leise Verkehrslärm im Hintergrund hören. Keinen Motor. Der Mann war noch nicht abgefahren. Dann sagte er: "Ich erinnere mich, dass ich den Schlüssel auf einen Stuhl gelegt habe. Schauen Sie mal auf den Stühlen nach."
John lief eilig zu seinem Esstisch und schaute auf den Sitzen aller sechs Stühle nach. Auf keinem war der Schlüssel. Dann schaute er unter den Stühlen, falls der Schlüssel herunter gefallen war. Auch da war nichts.
"Er ist nicht da", hauchte John in sein Handy. Panik schlich sich in seine Stimme.
"Jetzt drehen Sie mal nicht durch", sagte der Handwerker beschwichtigend.
"Wo könnte der Schlüssel noch sein?", fragte John und seine Stimme wurde schriller.
"Schauen Sie mal am Fenster entlang nach. Vielleicht ist er dahin gefallen."
John ging an der Fensterwand entlang und da! Tatsächlich, da lag der Schlüssel! Da lag er ...
"Ich hab ihn!", rief John ins Telefon. Die Erleichterung war ihm anzuhören.
"Na sehen Sie! Ich glaube, der ist dahin gefallen, als ich den Koffer eingeräumt habe. Ich hatte auch meine Schraubenzieher auf den Stuhl gelegt und wahrscheinlich habe ich ihn aus Versehen runter geschubst, den Schlüssel. Entschuldigen Sie."
"Alles gut, alles gut, jetzt ist er wieder da. Auf Wiederhören."
"Wiederhören."
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