Kapitel 27c
„Emmelin, was machst du hier?", fragt Beynon schockiert. Seine eisblauen Augen sind erfüllt von Sorge. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass sie mir gilt. Flehend blickt er zu mir. Er hat denselben Schimmer in den Augen wie Jayden; die Frage und die Unverständlichkeit für meine Handlung.
„Beynon, ich hab keine Zeit. Ich muss zu Kian. Und nächstes Mal, wenn du Leander schickst, um mich zu holen, dann sag ihm, dass er nicht meine Freunde verletzen soll", blaffe ich genervt und entreiße mich seines Griffes. Ich spüre, dass er mir folgt und mich erneut am Arm packt.
„Ich habe Leander nicht geschickt. Und du solltest nicht dort rein. Du kannst nichts tun. Bitte, komm mit mir." Ich sehe ihm an, dass er mich jeden Moment über seine Schulter werfen und mich eigenhändig hinaustragen will. Aber ich kann etwas tun. Als ein erneuter Menschenschwall an uns vorbeidrängt, lockert sich Beynons Griff. Schnell entziehe ich meinen Arm und dränge mich durch die Menge.
Das Murmeln, der Menschen wird immer lauter. Schreie folgen und einer kurzen Phase der Stille. Immer mehr Menschen drängen durch den Ausgang. Angestrengt quetsche ich mich langsam durch sie. Ein Blick hinter mich bestätigt, dass ich Beynon abgehängt habe und er irgendwo in der Masse versunken ist.
Etwas seitlich halte ich kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen. Aufmerksam betrachte ich die hysterische Menschenmenge, als mein Blick auf ein Mädchen am Boden fällt. Sie trägt die Uniform, die ich einst in dem Palast getragen habe. Eine Hofdame. Erschrocken betrachte ich sie. Der Anblick raubt mir erneut den Atem, als mir ausfällt, dass sie sich nicht rührt. Sie ist übersät von scharlachrotem Ausschlag mit mehreren Eiterblasen und großen Beulen. Ihre Augen stehen starr offen und Übelkeit überkommt mich.
Schnell arbeite ich mich zum großen Ballsaal. Muss Distanz zwischen mich und das tote Mädchen bringen. Ich hoffe, Kian ist noch hier. Es ist schon eine Stunde her, seit die Zeremonie stattgefunden hat. Wie erwartet finde ich den Saal leer vor. Es ist beängstigend, wie still es hier ist. Das komplette Gegenteil zu dem Geschehen im Garten. Nur ein paar einzelne Kerzen flackern in der Dunkelheit. Der Boden ist übersät von Scherben, umgefallenen Stühlen und anderen Objekten, die den Boden übersehen. Bis auf mich ist der Saal menschenleer. Ich drehe mich gerade zum Gehen um, als mein Blick an dem goldenen Tisch hängen bleibt. Roter Staub liegt darauf und er sieht aus wie gesplittertes Glas. Mein Verdacht, dass es tatsächlich der Fluch ist, der das Chaos verursacht, verstärkt sich.
Ich hetze weiter über den Gang, vorbei an weiteren Menschen, die von Ausschlägen und Beulen übersät sind. Manche husten, röcheln und andere schreien vor Schmerzen. Jedes Mal jagt es mir ein Grauen durch den Körper. All das Leid ist meine Schuld. Jeder Tod geht auf mich. Ich jage vorbei an mehr als nur einem leblosen Körper und hoffe, dass was immer es ist noch nicht Amrox erreicht hat.
Als ich vor der Tür zum Arbeitszimmer des Königs stehe, nehme ich einen tiefen Atemzug. Ich habe Kian noch nirgends finden können. Zuerst brauche ich noch etwas anderes. Etwas, das mir erst vor ein paar Tagen wieder gekommen ist. Als ich damals die blaue Kugel berührt habe und die letzten Erinnerungen der Mädchen durchlaufen haben, ist mir etwas bewusst geworden. Nicht jede der Mädchen starb durch die Kugel. Immer wieder wurde das Herz von einem Dolch durchbohrt. Erst nachdem Beynon mir erklärt hat, dass die Namen, die er eingekreist hat, Prinzessinnen von Merah waren, habe ich die Verbindung gemacht. Eine Prinzessin stirbt nicht durch den Stein, aber durch den Dolch. Ich brauche diesen Dolch.
Ich nehme einen tiefen Atemzug. Mein Herz hat einen konstanten schnellen Rhythmus angenommen und meine Atmung geht gehetzte. Aber ich nehme den Moment, um meine Nerven zu beruhigen, nicht meinen Körper. Ohne anzuklopfen, öffne ich die schwere Tür. Wie erhofft finde ich den König vor, der aufgeregt durch den Raum marschiert und überrascht zu mir schaut. Leider ist Kian nicht hier, aber der Dolch hat Priorität. Jede Minute, die verstreicht, kostet mehr Menschenleben.
„Wo ist der Dolch?", frage ich direkt. Ich habe keine Zeit mich zu erklären oder für Protest. Der König schaut mich fragend an. Ich sehe, dass tausend Dinge durch seinen Kopf rasen und er nicht versteht, wovon ich spreche. Die Welt bricht gerade zusammen, natürlich versteht er nicht wovon du redest, mahnt mein Verstand. „Wo ist der Dolch zur Opferung von den Prinzessinnen?"
Meine Stimme ist überraschend sachlich und feste. Nun schaut er mich mit aufgerissenen Augen an, aber rührt sich nicht.
„Ich brauche ihn. Jetzt! Oder wollen sie, dass noch mehr Menschen sterben. Wo ist er?", frage ich gehetzt und gehe auf ihn zu. Vermutlich nicht die beste Idee, mit dem König, der zudem mein leiblicher Vater ist, zusprechen, aber ich habe keine Zeit.
„Woher weißt du von ihm? Was willst du damit?", fragt er, nachdem er sich einfängt. Ich kann ihm den Schock ansehen. Die Augen, die auf ein doppeltes wachsen und die Augenbrauen, die in die Höhe schießen. Jetzt habe ich seine Aufmerksamkeit. „Wie sprichst du mit deinem König, Mädchen?" Die Sorge aufgrund der momentanen Lage behält die Oberhand.
„Ich habe keine Zeit, um das zu erklären. Wenn das alles enden soll, dann brauch ich ihn. JETZT! Was haben sie noch zu verlieren?" Er braucht einen Moment, bevor er auf eine Schublade zugeht und etwas herausholt. Kurz darauf reicht er mir das kalte Metall, das schwer in meiner Hand liegt. Er gleicht dem in meinen Albträumen und ein Schauer überzieht meinen Körper. Wie in Trance betrachte ich die Wölbungen, Verschnörkelungen und Gravuren. Wahrlich wunderschön. So elegant und doch so tödlich. Als ich wieder Schreie auf den Gängen höre, löse ich mich aus der Begeisterung.
„Wo ist Kian?", will ich schnell wissen und gehe auf die Tür zu. Der König schaut mich ungläubig an und in dem Moment sehe ich eine Veränderung in seinen Augen. Das feindselige Blitzen wird weicher zu einem überraschten Glitzern. Es ist der Moment, in dem er erkennt, wer ich bin. Unsicher, was es ist, dass ihm die Erkenntnis gibt, zuckt ein Grinsen auf meine Lippen. Er soll mich mit einem Lächeln in Erinnerung behalten.
„Sitara?", fragt er ungläubig und ich sehe wie ihm eine Träne über die Wange läuft. Ein ungläubiges, aber liebendes Lächeln legt sich auf seine Lippen. Schlagartig übernimmt eine Besorgnis und Angst.
„Es tut mir leid", sage ich und presche aus der Tür. Ich kann es nicht ertragen, ihn so zu sehen. Diesen Blick. Die Erkenntnis, dass er im Begriff ist jemanden zu verlieren, den er gerade erst wiederbekommen hat und trotzdem von Herzen liebt. Denselben Blick, den Beynon bei meiner Flucht hatte. Derselbe den Jayden hatte und derselbe den ich auch in Kian sah. Ich muss es jetzt tun. Vielleicht ist es besser, dass ich Kian nicht finden kann.
Mit schnellen Schritten eilte ich zurück zum Ballsaal, als ein Schrei, den ich sofort erkenne, mich herumfahren lässt. Rosalee. Ohne nachzudenken, schreite ich auf sie zu. Sie kauert auf dem Boden und ihre Atmung ist unregelmäßig. Ich streiche ihr die Haare zurzeit und zum Vorschein kommt dasselbe schreckliche Bild, wie bei all den anderen.
„Emmelin", sagt sie erleichtert, als sie mich erkennt. Ihre Stimme ist schwach und röchelnd. Erleichtert, dass sie am Leben ist, aber verzweifelt, dass sie am Seidenfaden hängt, rollen wieder Tränen über mein Gesicht. Ich ziehe sie in einer Umarmung und spüre, wie mein Körper zu zittern beginnt.
„Ich wusste, dass du zurückkommst. Jayden hat mir nicht geglaubt", sagt sie hustend und mit etwas, das ein Lächeln sein soll. Ihre Haut ist glühend heiß und sie zieht schmerzlich die Luft ein. Der Anblick zerrt an meinem Inneren und das Schuldbewusstsein schreit lauter als zuvor.
Als ich Beynon im Augenwinkel erkennen, ärgere ich mich zuerst. Doch dann fällt mir seine Murmel ein. Schnell bitte ich ihn sie mir zu geben und ich umfasse sie feste. Aber nichts passiert. Keine Ranken bahnen sich auf meiner Haut, kein blauer Schimmer übernimmt und das Kribbeln bleibt aus. Es gibt nur einen Weg sie zu retten, erinnert mich mein Verstand und mein Blick fällt auf den Dolch.
„Du wirst wieder gesund", sage ich ihr schnell, lege sie behutsam auf den Boden und küsse ihre Stirn. Alle werden wieder. Ich schnappe mir den Dolch, gebe Beynon die Murmel zurück und rennen los, bevor er mich aufhalten kann.
Zurück zum Ballsaal.
Zurück zu dem goldenen Tisch.
Zurück in den Saal, in dem ich vor Stunde hätte sterben sollen.
Zurück an den Ort, an dem alles begann.
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