Kapitel 27b
Schon im nächsten Moment fliegen die Fäuste. Erstarrt beobachte ich, wie Jayden von einer Faust nach der anderen getroffen wird. Aber auch ihm gelingt es, ein paar Treffer zu landen. Für einige Minuten kämpfen die beiden unerbittlich, bis Leander die Oberhand gewinnt. Ohne zu zögern, legt er seine Hände um Jaydens Hals und drückt zu.
Verzweifelt schreie ich auf Leander ein und zerre an ihm. Doch er lässt nicht ab. Inzwischen ist Jayden leicht blau und ich sehe, wie das Leben langsam aus ihm fließt. Erinnerungen von meiner eigenen Erfahrungen blitzen vor meinen Augen auf und das Adrenalin durchflutet mich.
Ich schnappe mir einen großen Stein und ziehe ihn Leander über den Kopf. Ein dumpfer Ton erfüllt die Stille. Der Schlag ist so feste und unerwartete, dass Leander ihn nicht kommen sieht. Er kippt zur Seite mit einem weiteren dumpfen Ton und lässt von Jayden ab. Der schnappt gierig nach Luft und schaut mit aufgerissen Augen zu Leander, der regungslos neben ihm liegt.
Jaydens Atmung geht rasselnd, aber die Farbe kehrt in sein Gesicht zurück. Die Panik in seinen Augen schwindet, aber nicht ganz. Zuerst beuge ich mich zu Jayden, betrachte ihn und helfe ihm sich aufzusetzen. Neben ein paar Prellungen und Platzwunden scheint es ihm gutzugehen. Er beantwortet meinen Fragen mit einem nicken oder Kopfschütteln und scheint sich seiner Umgebung bewusst zu sein. Erleichtert atme ich auf.
Plötzlich rollt eine Angst über mich. Leander? Angst, dass ich ihn getötet habe. Ich eile zu ihm; drehe ihn auf den Rücken und atme erleichtert auf, als ich sehe, dass er noch atmet. Sein Brustkorb hebt sich regelmäßig und seine Augen zucken leicht unter seinen Lidern. Eine Platzwunde an seiner Schläfe, die bereits aufgehört hat zu bluten, lässt auf meine Handlung deuten. Sonst hat er bei weitem weniger Blessuren, als Jayden davongetragen.
Etwas anderes fällt mir auf. Über seiner Brust prangt ein großes Tattoo. Sein Shirt wurde bei dem Kampf zerrissen, weshalb es offen liegt. Das Wappen von Evrem zierte seine Brust, was mich verwundert. Ich weiß, dass Beynon kein Tattoo hat. Weshalb es nichts damit zu tun haben kann, dass er Thronerbe Evrems ist. Als illegitimer Thronerbe erscheint es mir merkwürdig, weshalb er sich das königliche Symbol auf die Brust tätowieren würde. Ist es keine tägliche Erinnerung, nicht wirklich Teil der königlichen Familie zu sein? Oder erhofft er sich in Wahrheit den Thron?
Seine abfallenden Behauptungen und Handlungen zu urteilen, habe ich nicht erwartet, dass er dem Königshaus so treu untergeben ist. Bevor ich den Gedanken weiterverfolgen kann, beginne die Erde zu beben, ein lautes Grollen durchflutet die sonst stille Nacht und der Mond verfinstert sich.
Erst jetzt bemerke ich das leichte ziehen auf meinem Arm. Das mit jeder Sekunde schmerzhafter wird und bald wie ein Feuer auf meiner Haut brennt. Ich schiebe den Ärmel nach oben und erkenne das Symbol, das einst blau auf meiner Haut schimmerte, nun blutrot flackern. Schmerzhaft beiße ich die Zähne zusammen und presse meine Augen und Hände zusammen. Aber der Schmerz wird größer. Ein Schmerz wie bei der Markierung während der Auslese durchfährt meinen Körper.
Ein lauter Schrei löst sich aus meiner Kehle und endlich klingt der Schmerz etwas ab. Das Symbol flackert weiterhin bedrohlich rot, aber die Schmerzen legen sich so weit, dass ich wieder zu Atem komme.
Besorgt betrachtet mich Jayden und kann den Grund für meine Schmerzen nicht entdecken. Mit Schweiß auf der Stirn, röchelnder Atmung und pumpenden Herz stütze ich mich auf. Auch er hat Mühe, sich auf die Beine zu bringen. Der bebende Boden erschwert das Laufen. Das abklingende Adrenalin macht meine Knie weich und meine Schritte noch unsicherer.
Erst jetzt bemerke ich, wie spät es ist. Die zweite Auslese. Sie muss gerade stattgefunden haben. Dem Geschehen zu urteilen, ist unser Plan den Fluch zu brechen nicht aufgegangen. Wir haben uns geirrt. Der Fluch ist nicht gebrochen. Der Moment den ich gefürchtet habe, ist eingetroffen.
Die Bilder meines Albtraums blitzen vor meinen inneren Augen. Freunde, Familie und andere Menschen, die mich beschuldigen an ihrem Leid Schuld zu tragen. Die Erinnerung überwältigt mich. Wir haben doch alles richtig gemacht! Schreie ich in Gedanken. Jayden zieht mich durch die spärlich beleuchteten Straßen und in sein Zuhause.
„Was geht hier vor?", höre ich Jaydens Mutter panisch rufen. Alle versammeln sich ängstlich im Wohnzimmer. Immer noch bebt die Erde bedrohlich. Die Möbel vibrieren, Bücher fallen aus den Regalen und Geschirr zersplittert auf dem Boden.
Micah, Rani und Willy kauern ängstlich zwischen mir und Jayden. Ivy und Myla laufen die Tränen. Elian und Esai wirken so besorgt wie ich. Kurz suche ich nach Cameron. Als ich mich daran erinnere, dass der schwarze Kranz, von dem ich dachte für Jaydens Tod steht, eigentlich für Cameron dort hing.
„Ich weiß es nicht", höre ich Jayden mit zittriger Stimme sagen, während er Rani in den Arm zieht. Ich brauche einen weiteren Moment, um den Gedanken von zuvor aufzugreifen. Die zweite Auslese, der Fluch. Ich weiß, was hier vorgeht. Kian und ich hatten Unrecht. Der Fluch ist nicht gebrochen. Die Aufzeichnungen hatten Unrecht. Es hat nicht funktioniert.
„Das ist meine Schuld", rufe ich verzweifelt und springe auf. Noch bevor mich Jayden aufhalten kann, sprinte ich aus der Tür und auf die Straße. Als wir gerade angekommen sind, ist mir die Kutsche aufgefallen. Mit der vermutlich Leander hierhergekommen ist. Ich muss in den Palast. Kian und ich müssen etwas anderes ausprobieren.
Noch bevor ich in die Kutsche springen kann, hält mich Jayden am Arm. Obwohl das Zeichen auf meinem Arm nicht mehr schmerzt, jagt seine Berührung einen erneuten Stich durch mich. Als er mein schmerzverzerrtes Gesicht sieht, lässt er erschrocken los.
„Emmelin, was machst du?" Ich sehe auch ihm die Angst an. Der Schleier, den er gerade noch aufrechterhalten hat, ist abgefallen. Aber es ist nicht nur die Situation, die ihm Angst macht.
„Jayden, ich habe keine Zeit, es dir zu erklären. Bitte pass auf Willy auf. Kian wird alles erklären. Aber ich muss gehen." Kian wird alles erklären. Meine Worte kommen heraus, bevor ich überhaupt weiß, was ich sage. Unterbewusst weiß ich bereits, dass ich nicht zurückkomme. Jayden will gerade protestieren, aber ich drücke meine Lippen auf seine.
Ein letzter Kuss.
Ein letztes Mal so nah.
Ein letztes Mal nur ich und er.
Als ich mich löse, ist er noch immer wie erstarrt und ich springe in die Kutsche, bevor er mich aufhalten kann. Im nächsten Moment rollt sie los. Ich habe den Kutscher gleich erkannt und er mich. Vielleicht ist es doch von Vorteil, Prinzessin von Evrem zu sein. Mein Herz rast und meine Atmung geht flach. Das Adrenalin fließt nicht durch meinen Körper, aber trotzdem fühle ich die ansteigende Nervosität.
Ich lehne mich ein letztes Mal aus dem Fenster. Sehe wie Jayden, nach einem weiteren Moment, beginnt hinter der Kutsche herzurennen. Aber die Distanz wird immer größer. Eine Träne rollt mir übers Gesicht. Zu meinem rasenden Herz, scheint es jetzt auch noch zu zerreißen.
„Ich liebe dich, Jayden!", rufe ich laut. Doch ich sehe nicht, ob er meine Worte noch versteht. Mit einer extremen Geschwindigkeit brettern wir über die sowieso schon bebende Straße. Mit jeder Minute, die wir uns dem Palast nähern, beginnt mein Herz schneller zu schlagen.
Am Tor, steht doch des Chaos ein Wachmann. Dem jedoch dieselbe Angst wie Jayden in den Augen steht. Aber auch der Mut, sie zu bekämpfen. Kurz befürchte ich in meiner Mission zu scheitern. Als ich den Wachmann erkenne, atme ich erleichtert auf. Kurz entschlossen springe ich aus der Kutsche und vor den jungen Mann.
„Tal. Du kennst mich doch, oder? Ich bin eine Freundin von Jayden. Ich bin einer der Hofdamen", erkläre ich schnell, um Einlass zu erhalten. Er mustert mich skeptisch. Die Erde bebt immer noch, auch wenn etwas weniger als zuvor. Nach einem Augenblick nickt er und gewährt mir Einlass.
Im Garten herrscht Chaos. Gäste des Balles rennen ängstlich umher, schreien wild durcheinander und beladen ihre Kutschen. Pferde wirren unruhig und Frauen weinen hysterisch. Ich versuche, nach Kian Ausschau zu halten. Als die Erde Schlaghaft aufhört zu beben. Ich komme kurz ins Wanken, da mein Körper sich daran gewöhnt hat, die Bewegungen auszugleichen. Ein Moment der Stille und Anspannung übernimmt. Es ist beinah beängstigend, wie alle Geräusche für ein paar Sekunden aussetzen.
Als kurz darauf ein gelber Nebel die Luft befällt, bricht wieder Chaos aus. Geschrei, Schluchzer und hektisches Trampeln übernimmt die Stille. Der Rauch zwingt die Menschen zum Husten. Aber kurz darauf zieht er weiter. Wie eine Welle arbeitet er sich den Weg vom Palast in die Welt. Bis auf ein leichtes brennen im Rachen, bleibt nichts zurück. Die Gäste schauen sich etwas ruhiger und verwirrt um. Als suchen sie nach einem Desaster, scannen die Blicke die Umgebung.
Ein Raunen erfüllt die Atmosphäre, bis eine Frau hysterisch aufschreit. Ein markerschütternder Schrei. Nicht wie die Ängstlichen zuvor. Ich brauche einen Augenblick, um den Grund ausfindig zu machen. Als ich sehe, wie sich ein Mädchen in Hofdamen-uniform vor Schmerzen auf dem Boden krümmt, bleibt mir kurz der Atem stehen. Bei genauerem Betrachten erkenne ich einen scharlachroten Ausschlag und ähnliche Beulen wie aus meinen Albträumen auf ihrer Haut. Der Fluch ist echt! Und er wurde gerade entfesselt, schießt es durch meine Gedanken und verscheucht die letzten Zweifel.
Panisch renne ich durch die Menschenmenge. Die noch angsterfüllter, wild herumirrt und somit das Vorankommen erschwert. Als ich gerade durch das Eingangstor schreiten will, packt mich jemand am Arm.
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