Kapitel 26a
Kian
Zuerst mustern mich die Wachmänner, als sei ich ein Gespenst. Sie brauchen einen Moment, um zu verstehen, dass ich echt bin. Zu verstehen, dass ich am Leben bin. Sie kennen mich besser als Merahs Bewohner, weshalb sie mich, doch meines neuen Haarschnitts, sofort erkennen. Aber sie können ihren eigenen Augen nicht trauen. Mit jedem Schritt, den ich auf den Palast zugehe, schlägt mein Herz schneller. Was sage ich meinem Vater?
Ich habe Angst, vor meinem Vater zu stehen. Angst, vor ihm zu stehen und ihn anlügen zu müssen. Angst davor, ihm nicht sagen zu können, dass die Liebe seines Lebens, meine Mutter, am Leben ist; dass seine Tochter am Leben ist.
Mit zögerlichen Schritten laufe ich durch die Gänge, die ich so viele Male, entlang gegangen bin. Gänge, die ich besser kenne, als sonst jemanden. Aber trotzdem wirken sie befremdlich. Ungewohnt und anders. Vielleicht ist es nicht der Palast, der sich verändert hat, sondern ich. Vielleicht bin ich es. Meine Ansichten. Meine Perspektiven. Die letzten Monate haben mich verändert, soviel ist sicher.
Ich gehe gerade um die Ecke, als jemand unachtsam in mich rennt. Erschrocken blicke ich auf und mein Herz rutscht in die Hose. Es gibt nur drei Menschen denen ich unter keinen Umständen begegnen wollte. Nun steht einer dieser Menschen vor mir. Auch wenn ich ihm in gewissermaßen dankbar bin, dass er Emmelin zu mir gebracht hat. Aber er hat auch meine Schwester vor dem Altar stehen lassen, was ich nicht bereit bin zu verzeihen. Zumal er mir merkwürdig erschien, seine faszinierenden Augen lenken davon ab, dass sie immer emotionslos wirken. Unberührt und gleichgültig, dass sie mir eine Gänsehaut bereiten. Selbst wenn er Emmelin anblickte, waren sie so kalt. Doch ich habe mich von seinen Handlungen ablenken lassen.
„Kian?", fragt Leander erschrocken, mit aufgerissen Augen. Er ist wahrlich schockiert. Beinah so schockiert, wenn nicht sogar mehr, als die Wachen, die ihren toten Prinzen vor sich sahen. „Du bist hier? Wie? Emmelin?", sagte er panisch und blickt sich suchend um.
„Sie ist in Sicherheit", beruhige ich ihn. Da ich seine Panik darauf schließe, dass er dieselben Sorgen wie ich teilt. Der Grund, weshalb sie außerhalb der Mauern bleibt. Es ist nicht Erleichterung, die ihn bei meiner Aussage überschüttet, sondern als habe ich etwas in seinen Gedanken wieder zum Laufen gebracht. Einen Plan, von dem er dachte, er sei gescheitert, wieder geweckt.
„Sie ist am Leben?", fragt er euphorisch. Zu euphorisch, meiner Meinung nach. Seine Augen scheinen immer etwas anderes zu sagen, als sein Mund. Emmelin zu liebe hatte ich nichts gesagt. Als sie am Altar vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, ist das letzte bisschen Vertrauen abgefallen. Aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich muss zu meinem Vater und an diese blaue Kugel kommen, bevor es zu spät ist. Etwas brennt noch auf meiner Seele, bevor ich weiter gehen kann.
„Wie geht es meiner Mutter?" Emmelin hat mir erzählt, dass Leander sie nicht mit aus dem Palast bringen konnte. Ich muss wissen, dass es ihr gut geht. Nach dem heutigen Abend werden wir sie aus Evrem holen. Als sich Leanders Blick verdunkelt, muss ich schwer schlucken. Er hat einen Ausdruck in den Augen, den ich nicht ganz deuten kann. Er ist kalt, unberührt wie sonst. Aber ich sehe ihm an, dass er versucht Mitleidig zu wirken. Nur gelingt es ihm nicht ganz.
„Deine Mutter ist tot", sagt er direkt und das Mitleid, das er versucht in seinem Gesicht aufzubauen, erreicht seine Stimme nicht. Sie ist kalt, distanziert und beinah verärgert. Er konnte meine Mutter nicht leiden, das konnte ich ihm ansehen. Mir bleibt der Atem stehen und der Mund klappt auf. Sie ist tot? Ich habe sie gerade erst wieder bekommen. Sie kann nicht tot sein. Wie? Warum? Ist es meine Schuld? Weil Emmelin geflohen ist, um mich zu retten? Habe ich ihren Tod zu verschulden. Ich sehe eine Bewegung in meinem Augenwinkel. Doch als ich mich umdrehe, finde ich niemanden vor.
Kurz blickt mich Leander an und geht an mir vorbei, ohne einen weiteren Blick an mich zu richten. Er scheint es eilig zu haben. Eilig von mir weg oder zu jemandem zu kommen. Ich bleibe stehen. Schockiert, überwältigt und verzweifelt. Als eine Träne über meine Wange rollt, löse ich mich aus meiner Starre. Unsere Mutter ist tot. Nun verstehe ich die Bedeutung dahinter. Meine Knie geben nach und ich breche zusammen.
Eine Weile knie ich zusammengekauert auf dem Boden. Jedoch ohne eine weitere Träne zu vergießen. Bilder von der Zeit, die ich mit ihr hatte, erscheinen vor meinem Auge. Als ich Schritte hinter mir höre, schaue ich erschrocken auf. Doch treffe auf mir unbekannte Augen. Ich erkenne die Uniform der Hofdamen, was mir Emmelin in Gedanken bringt. Emmelin, ich kann nicht auch verlieren. Mit all meiner Kraft verdränge ich den Gedanken an unsere Mutter. Das Trauern muss warten. Zuerst muss ich meine Schwester retten. Vielleicht irrt sich Leander. Vielleicht, nur vielleicht, lebt unsere Mutter noch. Sie ist schon einmal von den Toten auferstanden.
*
Mein Vater will mich beinahe nicht mehr aus der Umarmung lassen. Ich sehe ihm an, dass er es nicht glauben kann. Die Angst, dass alles nur ein Traum ist. Er hat den gleichen Ausdruck in den Augen wie Emmelin, als sie Jayden vor ein paar Tagen gesehen hat. Denselben Unglauben, dieselbe Freude und Erleichterung. Zum ersten Mal sehe ich, wie ähnlich er und Emmelin sich sind. Ich weiß nicht, wieso ich es nicht früher gesehen habe. Es ist so offensichtlich, dass es nicht mehr weg zu denken ist. Ich bin froh, dass er nicht viele Fragen stellt und sich mit meiner erfundenen Erklärung über meinen Aufenthaltsort zufriedene stellt.
Emmelin und ich halten es erstmal für das Beste, Evrem außen vorzulassen. Nicht, weil wir Mitleid mit ihnen haben oder Verständnis. Aber wir wollten unsere Mutter nicht gefährden. Was jetzt wahrscheinlich kein Problem mehr ist. Ein Stich zieht sich durch meinen Körper bei der Erinnerung. Ich habe nicht die Zeit, ihm alles zu erklären. Und will nicht Gefahr laufen, dass er von Emmelin erfährt.
Emmelin ist achtzehn. Die Tochter des Königs. Und somit, um den Fluch aufrechtzuerhalten, müsste sie heute Abend auf dem goldenen Tisch liegen. Sie müsste es sein, die zu Staub zerfällt und für immer verschwindet. Das werde ich für nichts auf der Welt riskieren. Nie. Erst recht nicht jetzt. Jetzt, wo wir unsere Mutter verloren haben. Beide, ein zweites Mal.
Nein, Emmelin wird nicht sterben. Nicht für diesen Fluch, der sich immer noch, als eine alberne Tradition herausstellen kann. Mit dem Journal unseres Ururgroßvaters konnten wir die Lösung zum Fluch erarbeiten. Den Weg finden, das Ganze ein für alle Mal zu beenden. Niemand müsste mehr sterben. Niemand mehr unschuldig sein Leben lassen. Aber dafür muss ich an den Stern kommen.
Als auch noch Lilly in das Zimmer tritt, vergesse ich für einige Zeit meine Mission. Ich liebe sie. Liebe sie so sehr, wie ich Emmelin liebe. Der heutige Tag dient auch, um ihr Leben zu retten. Denn in sieben Jahren ist sie es, die denselben Weg, wie Emmelin gehen müsste. Auch für sie kämpfe ich. Als alle gehen, um sich für den heutigen Abend fertig zu machen, bleibe ich mit meinem Vater zurück.
„Vater. Die Zeremonie. Die zweite Auslese. Kann ich sie heute ausführen?", frage ich schüchtern. Ich habe nicht viel Zeit und nicht die Möglichkeit den Stein, der sich als Stern entpuppt, zu finden. Mein Vater blickt erst schockiert und dann ernst. Er denkt über meine Frage nach. Trotzdem lässt die Anspannung nicht locker.
„Irgendwann musst du es lernen. Vollziehen kannst du sie nicht. Die Last musst du noch nicht tragen. Aber es kann nicht schade, dir alles zu erklären", erwidert er. Gefolgt von einer detaillierten Beschreibung des Ablaufs, der Schritte und einer Formel. Danach holt er den Stein aus einer Schublade und reicht ihn mir.
„Pass gut auf ihn auf", mahnt er, bevor auch er losgeht um sich vorzubereiten. Ich kann ihm noch immer die Angst ansehen, dass ich wieder verschwinde. Ich betrachte die blaue Kugel in meiner Hand. Nur der zersplitterter Stern kann den Wandel halten, erinnere ich mich an die Worte des Journals. Ich muss es schaffen. Denn wenn nicht, wenn der Fluch wahr wird, dann weiß ich, was Emmelin bereit ist zu tun. Sie hat es nicht gesagt, versucht es vor mir zu verheimlichen. Aber ich habe es in ihren Augen gesehen.
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