Kapitel 22a
Mit gemischten Gefühlen starre ich auf meine Hand, an der gerade noch der goldene Ring von Beynon glitzerte. Es ist merkwürdig, ihn nicht mehr zu tragen. Leer, aber befreiend. Verlassen, aber angekommen. Seit dem Tag als Beynon ihn mir angesteckt hat, habe ich ihn nicht mehr als ein paar Minuten abgenommen und nun würde ich ihn nie wieder tragen. Der Gedanke ist erschreckend, aber beruhigend zu gleich. Alles steht im Kontrast zu sich selbst. Herz gegen Verstand. Alles durcheinander.
Wir sind endlich auf dem Weg nach Hause. Nach Hause. Nach Merah. Jetzt, wo wir dem Ziel so nahe sind, beginnen meine Gedanken wieder zu drehen. Ich weiß, ich sollte vor Freude auf und ab springen, das Gefühl von Freiheit verspüren. Aber es erreicht mich noch nicht.
„Emmelin? Alles in Ordnung?", höre ich Kian aus weiter Ferne fragen, obwohl er neben mir steht. Kurz blicke ich auf Leedahs Hafen, nehme einen tiefen Atemzug und wende mich zu ihm. Erschöpft lächle ich und nicke.
„Du magst ihn, nicht wahr?", fragt er und schaut auf meine Hand.
„Ich weiß nicht. Ich glaub nicht. Ich glaube, ich habe mich an ihn gewöhnt." Ich vermisste Beynon, aber auch Leander. Liebe ist das nicht. Oder glaube ich zumindest nicht. Oder fühlt sich liebe doch so an? Endlich habe ich die Gelegenheit, auf die ich seit meiner Rückkehr aus der Hütte, gewartet habe. Kian ist hier. Endlich kann ich ihm alles erzählen. Willy plapperte fröhlich mit den Piraten, die Bewohner der See bevorzugen. Zuerst waren sie skeptisch ihm gegenüber, nachdem er sein Wissen zu Schau gestellt hatte, wurden sie offener ihm gegenüber. Weshalb ich mich beruhige und ihm den Rücken kehre.
Ich richte meinen Blick in die Ferne und beginne Kian alles zu erzählen. Alles. Wirklich alles. Jedes einzelne meiner Gefühle, das Kribbeln, die Gesten, aber auch von meiner Angst, meinen Träumen und Leanders Worten. Ich fühle, wie mein Herz leichter wird und mein Verstand ruhiger. Jedes Wort, das meine Lippen verlässt, bringt Ordnung in mein Gedankenchaos. Danach berichte ich ihm von den Tagen im Palast ohne ihn. Von Leanders Verhalten, von der Flucht, dem Sturm und zuletzt wie wir zu ihm fanden. Er lauscht meinen Worten und fragt ab und zu nach, wenn etwas unklar ist. Die meiste Zeit hört er einfach nur zu. Und es tut gut.
„Was ist damals mit Zaara passiert?", frage ich, nachdem die Stille nach meiner Erzählung zu bedrückend wird. Zaara hat entschieden, nicht mit uns zu kommen. Aus offensichtlichen Gründen, aber auch weil sie die Hoffnung nicht aufgibt, dass die anderen Männer von Leanders Schiff sie suchen werden. Wenn nicht, würde sie nach Evrem zurückreisen. Ihr Herz schlägt für das Königreich. Ich rechne ihr hoch an, was sie für uns getan hat und wenn ich irgendwann einmal die Chance habe mich zu revanchieren, so werde ich es tun.
Kian zögert zuerst, beginnt mir dann seine Geschichte zu erzählen. In den meisten Punkten gleicht sie Zaara Erzählung. Mit dem kleinen Unterschied, dass er damals begonnen hat Gefühle für sie zu entwickeln. Direkt sagt er es nicht. Aber ich kann es zwischen den Worten hören. Es tut gut, seine Stimme wieder zu hören.
Wir können einfach Kian und Emmelin sein. Wir sind keine Gefangenen. Müssen nicht darauf bedacht sein, überhört zu werden. Müssen nicht herumschleichen, um der Gerüchteküche aus dem Weg zu gehen oder Blicke von anderen fürchten. Wir sind einfach wir. Bruder und Schwester. Schwester und Bruder. Einfach wir. Und es ist gut. Befreiend und schön. Einen Moment, den ich mir nicht besser vorstellen könnte.
***
„Eklis? Wo ist denn Eklis?", frage ich schockiert und entrüstet.
„Wir haben bezahlt, dass ihr uns zum Hafen bringt", fügt Kian wütend hinzu.
„Hör zu, Kleiner. Ihr habt bezahlt, dass wir euch nach Merah bringen. Eklis liegt in Merah und somit ist unser Teil des Deals erledigt", antwortet der Kapitän, der mir von Anfang an suspekt war. Zwar trägt er keine Augenklappe, aber die zerschlissene Kleidung, den gruseligen Blick und sogar den Papagei hat er. Eine große Narbe im Gesicht verleiht ihm eine angsteinflößende Note. Ich verschränke verärgert meine Arme, weiß aber, dass wir nichts tun oder sagen können, was den Kapitän umstimmen könnte.
Langsam nehmen wir Fahrt aufs Land an. Eine Stadt, die mir komplett unbekannt ist, aber laut Kian weit vom Palast entfernt. Eklis liegt mindestens sieben Tage zu Fuß, hat er gesagt.
„Hey, kleiner", ruft der Kapitän und wir drehen uns alle um. Jedoch gilt sein Blick Willy. Er schnippt ihm etwas entgegen, das durch die Luft wirbelt und Willy gekonnt fängt. „Wenn du etwas älter bist, nehme ich dich gerne in meine Crew auf." Er zwinkert Willy zu und dreht sich um. Ein letztes Mal blicke ich zu ihm und drehe mich dann zum Dock. Eklis.
Ob es uns gefällt oder nicht, wir sind hier. Kurz nachdem wir an dem kleinen Pier stehen, segeln die Piraten davon. Etwas verloren stehen wir an dem kleinen Hafen und blicken dem Schiff hinterher, das bald nur noch ein schwarzer Fleck am Horizont ist. Wir sind in Merah. Zwar in Eklis. Aber Eklis ist in Merah, wie der Kapitän gesagt hat.
„Was hat er dir gegeben?", frage ich Willy, nachdem ich mich von dem kleinen schwarzen Punkt am Horizont löse. Er reicht mir eine Silbermünze. Vielleicht hatte der Kapitän, doch ein schlechtes Gewissen. Erleichtert, dass wir zumindest nicht hungrig unseren Heimweg antreten müssen, atme ich noch einmal tief durch. Wir sind in Merah.
***
„Wann können wir nach Haus? Ich vermisse Mama", quengelt Willy. Wir laufen schon seit drei Tagen und haben nur einen Teil des Weges hinter uns. Mit der Münze der Piraten haben wir genug Geld für spärliche Mahlzeiten. Aber für eine Kutschfahrt, reicht es nicht. Ebenfalls haben wir erfahren, dass der König den Tod von Kian verkündet hat. So glaub uns keiner, dass Kian der Prinz ist. Zumal er durch seinen neuen Haarschnitt und den grünen Hämatomen, nicht leicht zu erkennen ist. Die Menschen misstrauen uns. Aber ich kann es ihnen nicht übelnehmen. Das Leben als Ari und Ramir ist schwer, auch ohne Fremden auszuhelfen.
Ich schaue zu Willy, der an meiner Hand geht und inzwischen sehr mitgenommen aussieht. Er humpelt leicht, da seine Füße, wie meine, schmerzen und von Blasen übersät sein müssen. Sein Haar liegt verknotet und dreckig auf seinem Kopf und eine dünne Staubschicht klebt auf seiner Haut. Ich hatte Angst vor dieser Frage.
Angst, weil ich ihm die Antwort darauf nicht geben will. Wie erkläre ich einem sechsjährigen, dass das Leben, das er geführt hat, eine Lüge ist. Dass die Menschen, die er seine Familie nannte, seine Entführer sind. Und alles wovon er glaube wahr zu sein, gelogen ist. Wir kehren nie wieder zurück, Kleiner. Aber da ist noch die größere Frage. Lebt unsere Mutter noch? Würden wir sie je wieder sehen? Es ist nicht die Zeit. Noch nicht. Er verdient die Antwort, aber noch nicht. Nicht so. Nicht hier. Nicht jetzt.
Mir wird etwas bewusst. Die Fragen, die mich in Evrem quälten. Die Antworten, die Beynon mir enthalten hat. Meine Mutter mir enthalten hat. Diese Situation ist nicht so anders. Ich tue genau dasselbe. Enthalte ihm die Antworten. Doch ich bringe es nicht übers Herz, sie ihm jetzt schon zu geben.
„Bald kleiner. Erst müssen wir etwas erledigen", sage ich mit schwerem Herzen. Eine Träne rollt ihm übers Gesicht. Aber er erwidert nichts. Ich halte kurz inne und beuge mich zu ihm. Der Anblick zerrt zu sehr an mir. Der müde Blick, der erschöpfte Ausdruck und der Anflug von Hoffnungslosigkeit. Alles in dem Gesicht eines Kindes. Nicht irgendein Kind, aber mein kleiner Bruder. Ich wische ihm die Träne beiseite und lege eine Hand auf sein Gesicht.
„Was wolltest du schon immer tun oder haben, aber hast es nie bekommen?" Kurz mustert er mich verwirrt und denkt über meine Worte nach.
„Einen Hund", sagt er, mit einem kindlichen Funkeln in den Augen und einem leichten Lächeln. Ich küsse seine Stirn und lächle zurück. Die Hoffnungslosigkeit weicht seinem zu jungen Gesicht und was bleibt ist die Erschöpfung, die auch an mir nagt.
„Wenn das alles vorbei ist, bekommst du einen Hund. Versprochen. Aber du musst noch etwas stark sein. Okay, Kleiner? Bald ist es vorbei", sage ich aufmunternd. Ich weiß nicht, ob es die Wahrheit ist. Aber ich hoffe es mit ganzem Herzen. Wir wissen nicht, was uns erwarten wird. Kian und ich haben noch nicht darüber gesprochen. An Bord bei den Piraten habe ich begonnen, die decodierten Seiten des Journals zu lesen.
Es ist von einem ehemaligen König geschrieben, der alles daran setzte, einen Weg zu finden, seine Tochter nicht opfern zu müssen. Es erinnert mich an eines der Aufzeichnungen, die ich bei Beynon gelesen habe. Aber es scheint älter zu sein. Die Seiten, die wir gelesen haben, enthalten detaillierte Erklärungen von Erfahrungen und Erkenntnisse, die der ehemalige König sammeln konnte. Er entschlüsselte die Teile des Vertrages in der fremden Sprache. Über Jahre versuchte er sich an mehreren Lösungsmöglichkeiten, um den Fluch aufzuheben. Doch Erfolglos. Wir wissen inzwischen mehr, aber nicht genug.
Eines wissen wir doch: Bis wir eine Lösung für das Brechen des Fluches gefunden haben, können wir dem König, meinem leiblichen Vater, nicht erzählt, wer ich bin. Oder von Mutter. Die Gefahr, dass ich auf dem goldenen Tisch lande, ist zu groß. Wie wir das alles anstellen wollen, ist noch unklar.
Es entsteht immer ein Problem, das größer ist, als die Dinge, die den Fluch betreffen. Wenn es wirklich wahr ist. Ich bin noch immer nicht überzeugt. Aber der König von Evrem ist gewillt, über Leichen zu gehen, weshalb ich die Sache ernst nehme. Inzwischen hat sich das Siegel auf meinem Arm nicht mehr verändert und es beginn mich zu beunruhigen.
Wieder suchen wir uns einen geschützten Platz in einem Dorf und machen es uns bequem. Wir haben aufgegeben, von Tür zu Tür zu gehen, um nach Hilfe zu fragen. Die Menschen leben meist schon zu zehnt in kleinen Hütten und haben nicht den Platz drei weiter aufzunehmen. Andere misstrauten uns nur.
Willy liegt auf meinem Arm und gemeinsam starren wir in das Sternenmeer. Auch Kian schaut in den Himmel, aber ich sehe, dass er in Gedanken woanders ist. So wie jeden Abend seit er auf Zaara getroffen ist. Liebevoll erkläre ich Willy die Sternbilder und versuche mich an die Geschichten unseres Vaters zu erinnern. Er wird ihn nie treffen können. Aber ich will, dass Willy etwa von ihm im Herzen trägt.
Die Anstrengung des Tages weicht von seinem Gesicht und das übliche Lächeln kehrt zurück. Auch unsere Mutter hat Willy viel von unserem Vater erzählt. Bei dem Gedanken an sie kommen mir wieder die Tränen. Mit Mühe unterdrücke ich einen Gefühlsausbruch, der Verzweiflung und klammere mich an die Erinnerungen, der Vergangenheit.
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