Kapitel 20c
„Wir müssen näher und dort rüber, um eine bessere Aussicht zu bekommen", sagt sie feste. Jetzt höre ich, dass ihr der Anblick nahe geht. Dieses Mal lassen wir Willy nahe am Eingang, um ihm den Anblick zu ersparen. Zwar bin ich selbst auch nicht darauf aus, das Schrecken vor mir, noch genauer zu betrachten. Aber wenn wir einen Weg finden wollen, Kian zu befreien, dann muss ich da durch.
Wir finden einen Platz, von dem wir eine bessere Sicht auf Kian bekommen. Erneut zieht sich alles in mir zusammen. Die Hämatome, die ich am Hafen gesehen habe, sind noch schlimmer als gedacht. Die blau-grünen Flecken bedecken beinah sein ganzes Gesicht. Auch wenn die Schwellung heruntergegangen ist, sehe ich, dass er Schwierigkeiten hat sein linkes Auge zu schließen. Seine Augen sind rot unterlaufen und sind so leer, wie damals als in Evrem gefoltert wurde. Der Anblick zerreißt mir das Herz und ich wende meinen Blick wieder ab.
„Siehst du ihn?", fragt Zaara und ich nicke. Als sie Kian erspäht, weiten sich ihre Augen und sie nimmt erschrockene in paar Schritte nach hinten. Sie muss ihn bis jetzt nicht beachtet haben und erst jetzt das Ausmaß seiner Misshandlung bemerkt haben. Sie schluckt schwer und schaut zu mir. Ich kann Wut in ihren Augen sehen und es erleichtert mich, dass auch sie das Geschehen nicht unberührt lässt. Was sie ihm angetan haben, lässt auch mich meine Hände zu Fäusten formen.
„Das ist dein Bruder?", fragt sie schockiert und wütend, mit einem Hauch von Vorwurf. Ich weiß nicht, weshalb sich ihr Ärger auf mich bezieht, aber ich versuche es zu verdrängen. Ich nicke leicht, doch sie bekommt es nicht mit. Sie scheint in ihren Gedanken versunken. Eine Weile starrt sie in die Luft und ist komplett abwesend. Als ich sie an der Schulter berühre, zuckt sie hoch. Die Wut immer noch in den Augen, aber gemischt mit Misstrauen. Das können wir später klären, beschließe ich und spreche sie nicht darauf an. Sie erklärt mir ihren Plan. Wenn auch ausbaufähig, ist es das Beste, was uns auf die Schnelle einfällt.
„Kian", flüstere ich und pfeife leise, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Das Metall, das immer wieder laut in die Tonne fällt, ist zu laut. Ich schleiche noch ein Stück näher. „Kian", sage ich etwas lauter. Doch er blickt nicht auf. Als ich erneut seinen Namen rufe, schaut einer der Männer neben ihm auf und mir direkt in die Augen. Auch er hat diesen hoffnungslosen Blick, der mich schlucken lässt. So leer, verzweifelt und verloren, dass ich mir nicht vorstellen kann, was er durchmachen muss.
Ich habe Zaara versucht zu überreden, allen von ihnen zu helfen. Aber sie sagte, dass es zu riskant ist und wir auch hier landen könnten. Was sie mit Willy machen würden, wollten wir uns erst gar nicht vorstellen. Es zerreißt mich, dass wir sie zurücklassen müssen. Wenn wir zurück in Merah sind, kann der König etwas tun, sage ich, um mein Gewissen zu beruhigen.
Der junge Mann hält in seiner Bewegung inne und dreht seinen Kopf fragend nach links. Es erschreckt mich, dass er nicht sofort um Hilfe bittet. Er ist so verloren, dass er nicht einmal an eine Flucht denkt. Kian bemerkt das Verhalten, des jungen Mannes und folgt seinem Blick. Als seine smaragdgrünen Augen auf die meine treffen, erwacht etwas in ihm zum Leben. Das Funkeln kehrt zurück und eine Erleichterung legt sich über ihn. Seine Mundwinkel gehen in die Höhe und erreichen seine Augen. Erleichtert atme ich auf, dass er nicht, wie damals bei seiner Folter, in sich verloren gegangen ist.
„Was steht ihr rum? Weiter!", ertönt wieder eine wütende Stimme und das Geräusch eines Peitschenschlags. Ich zucke erschrocken zusammen, als sich Kians Blick schmerzerfüllt zusammen zieht. Schnell gehe ich hinter dem Metall in Deckung. Halte meinen Blick weiter auf Kian, der wieder Metall aus dem Berg zieht. Aber das Lächeln ist auf seinen Lippen geblieben. Dann schaue ich zu dem Mann, der in der Mitte mit der Peitsche steht und die jungen Männer böse mustert. Er zieht an einer Zigarette und dreht sich um. Er geht zurück in die Richtung wie zuvor. Nur dieses Mal sehe ich die kleine Hütte, die bis gerade eben unentdeckt war. Das Fenster bietet einen direkten Blick auf die Männer. Wie haben wir das zuvor übersehen? Als mein Blick zu Zaara geht, sehe ich ihr an, dass sie sich dieselbe Frage stellt.
Leise schleiche ich zu ihr. Wir brauchen einen anderen Plan, denn die Gefahr von dem Mann gesehen zu werden ist zu groß. Schnell schleicht Zaara zu der Hütte, um einen besseren Blick zu haben, was genau der Mann sieht und was nicht. Gekonnt schleicht sie um das kleine Haus und analysiert jeden Winkel.
Danach kommt sie mit einem Lächeln zurück und erklärt mir den neuen Plan. Dieses Mal ist es nicht schwer Kians Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, da er immer wieder mit einem Lächeln zu mir blickt. Ich schleiche auf die andere Seite, um an den Blindenfleck der Hütte zu kommen und winke Kian zu mir. Inzwischen bemerkt mich ein weiterer junger Mann, aber er setzt seine Arbeit fort, als wäre ich nicht hier. Zuerst schaut sich Kian ängstlich um und kommt auf mich zu.
„Emmelin, du bist hier", sagt er freudig und zieht mich in eine Umarmung. Als ich meine Arme um ihn lege, zuckt er zusammen. „Aber es ist zu gefährlich. Du musst gehen, bevor er dich sieht", sagt er besorgt und dreht sich panisch um.
„Ich hol dich hier raus, Kian." Schon macht sich Zaara an die Fußfessel. Sie hat gesagt, dass sie das Schloss knacken kann. Woher sie so etwas weiß, habe ich nicht gefragt. Kurz schaut Kian erschrocken zu ihr. Aber ich wende seinen Blick wieder zu mir. Ich sehe ihm an, dass er Angst um mich hat. Mit meinem Lächeln versuche ich ihm Hoffnung zu machen.
„Kian, wir gehen nach Hause", sage ich mit einem breiten Lächeln. Er will gerade etwas erwidern, da ertönt das leise Klicken der Fessel und sie fällt ab. Zaara dreht sich schnell ab und verschwindet hinter einem Haufen Metall. Wir brauchen einen Moment und folgen ihr dann. Ich drehe mich noch einmal um und sehe den überraschten Blick der anderen Männer.
Erneut zerrt alles an mir, auch ihnen zu helfen. Aber das ist im Moment nicht möglich. Eilig ziehe ich Kian zu Willy, der ihn ebenfalls um den Hals fällt. Schnell reiche ich Kians eines der Hemden, die uns Mathilde gegeben hat. Aus den Mauern zu kommen, wird nicht so schwer, da die Wachleute nichts überprüfen. Aber ein junger Mann ohne Kleidung und geschundenen Rücken könnte Aufmerksamkeit auf uns ziehen.
Noch hat der Aufpasser, Kians Abwesenheit nicht mitbekommen und wir verlassen das Metall-Sortierungs-Werk schnell. Mit eiligen Schritten und gesunkenen Köpfen eilen wir auf das Tor aus Anahtum heraus. Wir reihen uns unauffällig in der Schlange, der Menschen ein und halten unsere Köpfe weiterhin gesenkt. Willy geht so neben uns, dass die Wachmänner ihn nicht sehen können.
„Hallt! Stehen bleiben!", ertönt die Stimme des Wachmannes. Mein Puls steigt weiter in die Höhe und meine Hände beginnen zu zittern. Langsam hebe ich meinen Blick und ich sehe, dass er mit dem Mann vor uns spricht. Grob packt er den Mann und zieht ihn auf die Seite. Ein weiterer Wachmann winkt uns durch. Kurz sehe ich, wie der Wachmann auf den Mann einschlägt, aber dann geht mein Blick nach vorne.
Wieder mit schnellen Schritten gehen wir auf den Wald zu, in dem wir zuvor die Mauern von Anahtum betrachtete haben. In dem Moment, als wir in dessen Schatten verschwinden, ertönt ein ohrenbetäubender Lärm. Erschrocken drehe ich mich um und sehe, wie sich das Tor von Anahtum schließt.
„Das war knapp", höre ich Kian sagen. Er klingt so müde und sieht gequält aus, dass es mir den Magen verdreht. Trotzdem hat er ein Lachen im Gesicht. Wir haben es geschafft. Ich habe Kian wieder, jubele ich innerlich. Aber auch an mir beginnt die Müdigkeit zu zerren.
„Wir sollten schnell viel Distanz zwischen uns bringen. Auf einem Umweg zurück zum Hafen finden. Um sicherzugehen, dass wir nicht erwischt werden", höre ich Zaara mit ihrer Männerstimme sagen. Kurz frage ich mich, weshalb sie sich vor Kian verstellt, aber es ist nicht wichtig. Nicht in diesem Moment.
Sie geht ein paar Schritte vor uns und verhält sich paranoid. Aber es ist verständlich. Nicht nur haben wir gerade einen Gefangenen befreit, aber auch ist es ihnen aufgefallen. Sie könnten schon nach uns suchen. Nur meiner Freude über Kians Anwesenheit zu danken, überfällt mich nicht, dasselbe paranoide Gefühl. Sie hat recht. Wir müssen hier weg.
*
Irgendwann lassen meine Knie nach und ich stolpere. Meine Beine fühlen sich an wie Gummi, meine Muskeln lechzen und ich kann keinen Schritt mehr gehen. Mit letzter Kraft rutsche ich zu einem Baum und lehne mich an ihn. Willy lässt sich müde neben mich fallen und legt seinen Kopf in meinen Schoss. Er war die ganze Zeit so tapfer und hat kein einziges Mal gejammert. Stolz streiche ich ihm durchs Haar und halte meinen Blick kurz an ihm.
„Ich kann nicht mehr", sage ich laut, damit mich auch Zaara hört, die einige Meter vor uns geht. Sie dreht sich kurz um und denkt über etwas nach. Kian schwankt auf den Beinen und ich sehe ihm an, dass er keinen weiteren Schritt mehr gehen kann. Zaara mustert zuerst die Gegend und dann uns. Die Müdigkeit muss auch an ihr zerren. Wir entscheiden uns für die Nacht hier zu bleiben.
Kian lässt sich neben mir nieder und legt sich auf die Seite, mit dem Gesicht zu mir Gerichte. Immer noch lächelt er mir müde zu und es umschließt mein Herz. Willy schnauft bereits regelmäßig und ist in einen tiefen Schlaf gefallen.
„Alles Gute zum Geburtstag", sagt Kian und sein Lächeln wird noch größer. Ich brauche einen Moment und dann fällt der Schleier von meinen Augen. Das Gefühl vom morgen, dass mich den ganzen Tag gequält hat. Das Gefühl, dass etwas anders ist. Mein Geburtstag. Mein achtzehnter Geburtstag. Wie Kian sein Zeitgefühl behalten konnte, frage ich erst gar nicht und bedanke mich mit einem breiten Lächeln. Dann wird sein Blick wieder ernster.
„Wie konntest du aus Evrem fliehen?" Ich kann ihm ansehen, dass die Frage schon lange auf seinen Lippen hängt. Er blinzelt immer langsamer und letzten Endes hält er seine Augen geschlossen. Kurz lächle ich über ihn, aber dann fallen auch meine Augenlider zu.
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