Kapitel 18a
Ein lauter Frauenschrei reißt mich aus der Tiefe und ich schlage die Lider auf. Augenblicklich werde ich von der Sonne geblendet und presse sie wieder aufeinander. Ich sehe Sterne vor meinen geschlossenen Augen und versuche gegen die aufsteigenden Kopfschmerzen zu kämpfen. Vorsichtig taste ich meinen Körper ab. Alles noch dran und keine außerordentlich großen schmerzen. Unter mir spüre ich warmen Sand und höre leise Wellen rauschen. Ab und zu erreichen sie meine nackten Füße. Was ist passiert?
Hustend und weiterhin mit geschlossenen Augen versuche ich mich an die Ereignisse der letzten Nacht zu erinnern. Aber ich brauche ein paar Augenblicke. Wir sind untergegangen. Gesunken. Fällt mir alles wieder ein und ich taste nach Willy. Als ich eine Hand zu greifen bekomme, atme ich erleichtert auf und öffne langsam meine Augen. Willy liegt neben mir. Kurz betrachte ich ihn und halte den Atem an. Als sich sein Brustkorb leicht hebt und senkt, atme ich erleichtert auf. Er lebt.
Vorsichtig schlüpfe ich aus der Rettungsweste und helfe auch Willy aus seiner. Jedoch ist er noch benebelt und murmelt etwas Unverständliches, als ich versuche ihn zu wecken. Schnell drücke ich ihm einen Kuss auf die Stirn. Erst jetzt blicke ich mich um. Von links nach rechts erstreckt sich ein Stand an dem Überreste unseres Schiffes angespült wurden. Große Holzbalken, Teile des Mastes und Fässer sind verstreut. Ich kann ein paar Männer im Sand liegen sehen. Aber aus dieser Distanz nicht sagen, ob sie noch am Leben sind oder wie Willy vor Erschöpfung in einem halbkomatosen Zustand liegen.
Mein Blick bleibt an einer Person hängen, die aufrecht sitzt und sich über etwas beugt. Bei näherem Betrachten erkenne ich Zac. Eine erneute Erleichterung macht sich in mir breit. Kurz überprüfe ich noch einmal, dass es Willy gut geht und gehe auf Zac zu. Umso näher ich komme, erkenne ich, dass er über einen Körper gebeugt ist. Direkt neben ihm erkenne ich wer. Mein Herz setzt einen Schlag aus und mein Atem stockt. Vor ihm, regungslos, liegt Pete. Blass, mit blauen Lippen und komplett still.
Erschrocken falle ich neben Zac auf die Knie und mir kommen die Tränen. Zac hält Pete in seinem Arm und ich sehe wie auch ihm Tränen an den Wangen hinunterlaufen. Ich habe die letzten Tage beobachtet, dass die beiden eine enge Beziehung haben. Mir war nicht bewusst, wie viel tiefer sie war, als gedacht. Die Art und weiße wie er ihn hält, ist beinah innig, liebevoll. Waren sie ein Paar?
Ich lege meiner Hand zur Beruhigung auf Zacs Schulter und er zuckt zusammen. Er hat nicht bemerkt, dass ich hier bin. Mit rot unterlaufenen Augen blickt er zu mir. Mein Atem stockt erneut und ich muss schwer schlucken. Ich sehe ihm an, dass etwas in ihm zerbrochen ist. Der Ausdruck in seinen Augen ist derselbe wie der von Beynon, als ich ihn verlassen habe. Aber viel tiefer. So viel stärker. Ich spüre, wie er dasselbe fühlen muss, wie ich beim Anblick von Jaydens leblosem Körper. Er hat ihn geliebt!
„Er ist tot", sagt Zac so zerrissen, dass mir zuerst seine Stimmlage nicht auffällt. Als er die Worte wiederholt, dringt es zu mir durch. Seine Stimme ist höher, viel höher, sanfter und ... eine Mädchenstimme.
Ein Vorhang löst sich von meinen Augen. Dinge, die ich beobachtet habe, aber nicht erklären konnte. Wie die Blicke, an Pete. Die mir durchaus aufgefallen sind, aber ich nicht erklären konnte. Die Art von Zac, die sich änderte, wenn die Männer in der Nähe waren. Die Anspannung, die ich ihm ansehen konnte an Deck, aber nicht mit mir. Sein schmächtiger Körperbau und das gewisse Etwas, das ich bis jetzt nicht sehen wollte.
„Du bist ein Mädchen", flüstere ich unpassend in dem Moment. Die Worte verlassen meine Lippen, bevor ich es weiß. Zuerst ist Zac überrascht, aber dann legt sich eine Gleichgültigkeit in ihre Augen. Es reicht, um meine Vermutung zu bestätigen. Sie blickt wieder zu Pete und streicht ihm liebevoll durchs Haar. Ich lasse ihnen Platz und gehe zurück zu Willy, der inzwischen aufsitzt und sich verwirrt umschaut.
„Sind wir tot?", will er verwirrt wissen, als ich mich zu ihm beuge.
„Nein, Kleiner. Wir wurden an Land geschwemmt." Ich streiche sein nasses Haar nach hinten und betrachte ihn mit einem erleichterten Lächeln. Wir sind am Leben. Willy ist am Leben. Es wurden zwei weitere Männer angespült. Beide tot. Sie hatten keine Rettungsweste und müssen ertrunken sein. Willy schicke ich die Wrackteile nach etwas Nützlichem absuchen und nach einem Rettungsboot Ausschau zu halten. Während ich die zwei Männer bedecke, damit er sie nicht sehen muss.
Als die Sonne weit über dem Zenit steht, betrachte ich erneut Zac. Für die letzten vier Stunden saß sie über Pete gebeugt und rührte sich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie durchmacht. Wieder gehen meine Gedanken zu Jayden. Als er starb, wusste ich noch nicht, dass ich ihn liebe. Trotzdem war der Schmerz schrecklich. Aber ich weiß, dass wir von diesem Strand müssen.
Die Sonne brennt unerbittlich auf uns und Trinkwasser konnte ich keines finden. Bis jetzt hat uns niemand gefunden und von den Rettungsbooten ist nichts zu sehen. Bald bricht die Nacht herein und wir haben keinen Unterschlupf. Wir brauchen eine Unterkunft, Wasser und essen müssen wir auch. Das werden wir hier nicht finden. Ich nehme einen tiefen Atemzug und gehe auf sie zu. Wieder lege ich meine Hand auf ihre Schulter. Dieses Mal zuckt sie nicht zusammen, schaut aber auch nicht zu mir auf.
„Zac, wir müssen gehen. Die anderen finden. Essen, Wasser und ein Unterkunft", versuche ich ruhig zu sagen. Sie rührt sich nicht. Ich beuge mich zu ihr und wiederhole meine Worte. Mühevoll löst sie ihren Blick von Pete und schaut zu mir. Ihre Haut ist von der Sonne gerötet und ihre Augen von den Tränen. Der Ausdruck in ihren Augen lässt mich kurz sprachlose werden, aber dann wiederhole ich meine Worte.
Ein Schalter legt sich in ihr um. Ihr Blick wird leer. Nicht wie die Leere aufgrund von Trauer, aber neutral. Ohne jegliche Gefühle. Nichts. Nur eine kleine Reflexion von mir in ihren Augen. Es ist beinah beängstigend und erinnert mich an den Blick von Leander.
„Wir beerdigen ihn und dann gehen wir Richtung Westen", sagt sie streng und stellt sich auf. Ich brauche einen Moment, um ihrem abrupten Gemütswechsel zu folgen. Mit Holzresten des Schiffes, die wir als Schaufeln nutzen, graben wir ein flaches Grab und legen Petes Körper hinein. Willy lass ich weiterhin den Horizont nach den Booten absuchen. Dann bedecken wir Pete mit Sand und stellen das Holz als eine Art Grabstein darüber. Kurz starrt Zac auf das Grab und dreht sich zu mir. Nur noch die rot unterlaufenen Augen zeugen von der Trauer. Ihre Miene ist eisern und ihr Blick undurchdringlich leer.
„Es wird eine lange Nacht. Wir laufen bis wir auf ein Dorf treffen", sagt sie streng, dreht sich um und beginnt zu laufen. Schnell rufe ich Willy zu mir und wir folgen ihr. Wir haben Schwierigkeiten, mit ihren schnellen Schritten mitzuhalten. Auch ich will den Ort schnell verlassen, an dem wir gerade einen Freund begraben haben.
Zu meiner Erleichterung müssen wir nicht lange laufen, bis wir auf ein paar Häuser treffen. Jedoch stellt es sich um einiges schwerer heraus, jemanden zu finden, der uns aushilft. Ich kann ihr Misstrauen verstehen. Mehrmals versucht Zac unsere Situation zu erklären. Die meisten mustern uns ungläubig und schlagen die Tür vor unserer Nase zu. Ich würde uns auch nicht glauben. Ein Mädchen, ein kleiner Junge und ein schmächtiger junger Mann, der sich anhört, als habe er einen Frosch verschluckt. Nicht sehr glaubwürdig.
„Unser Schiff ist im Sturm gekentert und wir wurden an den Strand gespült. Wir sind auf dem Weg zum Hafen, aber wir brauchen etwas Wasser, Essen und eine Unterkunft für diese Nacht", erklärt Zac zum gefühlt hundertsten Mal. Die alte Dame mustert zuerst Zac und dann mich. Als ihr Blick auf Willy trifft, wird er weicher und ein Lächeln legt sich auf die Lippen. Ihre tiefen Falten und das lockige graue Haar lassen sie niedlich aussehen.
„Der Kleine zittert ja am ganzen Leib. Kommt schon rein, Kinder. Essen habe ich nicht viel. Aber ein heißes Bad und ein weiches Bett kann ich euch anbieten", sagt sie und öffnet die Tür. Dankend treten wir in das beheizte Haus und eine Erleichterung überkommt mich. Sie reicht jedem eine Schüssel Eintopf und macht sich daran, Wasser für ein Bad aufzukochen. Sie reicht uns frische Kleidung und weiche Handtücher.
Nach dem Bad löst sich die letzte Kälte aus meinen Knochen und die frische Kleidung fühlen sich gut an. Ich helfe Willy sich zu waschen und bringe ihn ins Bett. Er kann kaum noch aufrecht stehen und schläft sofort ein. Danach gehe ich wieder hinunter zur Küche, in der Mathilde, die alte Dame, auf Zac einredend. Die jedoch nur dürftig antwortet und ab und zu nickt. Zacs Blick geht irgendwo ins Nichts. Als sie mich bemerkt, steht sie auf und macht sich in Richtung Badezimmer.
„Vielen Dank, Mathilde. Sobald wir unsere Leute finden, werde ich sicherstellen, dass sie für alles entschädigt werden", verspreche ich der alten Dame. Sie lächelt mir liebevolle entgegen und streicht mir übers Gesicht.
„Ach, mein Kind. Ich bin froh über etwas Gesellschaft. Es kann hier ganz schön einsam werden. Der da ist nicht sehr gesprächig, oder?" Sie deutet zu Zac. Die gerade, die Treppe hinauf geht, um ebenfalls ein Bad zu nehmen. Sie spricht weiterhin in ihrer aufgesetzten Männerstimme, weshalb Mathilde sie für einen Jungen hält.
„Zac hat heute jemanden verloren." Pete ist tot. Obwohl ich ihn nur ein paar Tage kannte, schmerzt es auch mich stark. Der freche junge Mann ist mir ans Herz gewachsen. Für Zac muss es unerträglich sein. Doch ihrem neuen leeren Blick ist absolut nichts abzulesen.
„Das tut mir leid. Es ist nie leicht jemanden zu verlieren. Die Zeit lehrt einen sich an die Erinnerung zu klammern und nicht die Trauer." Mathilde beginnt mir von ihrem Mann zu erzählen, der vor sechs Jahren verstarb. Sie erinnert mich an Alistair und der Gedanke lässt mich etwas zur Ruhe kommen. Innerlich mache ich mir große Sorgen. Sorgen um Leander; um Kian; um meine Mutter und wie es weitergeht.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro