Kapitel 40
Liv hätte am liebsten vor Erleichterung aufgeatmet und Kieron gleichzeitig ins Gesicht geschlagen, als sie erkannte, wer das Mädchen war. Fiona! Sie war tatsächlich am Leben! Ihr blondes Haar fiel in leichten Locken auf ihre Schultern und ihre blauen Augen blitzten vor Sorge auf, als sie Liv neben dem König stehen sah. Liv wollte lächeln, um ihr zu zeigen, dass es ihr gut ging, doch sie schaffte es nicht.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Anblick der kleinen Gestaltwandlerin vermissen würde" ,murmelte Zayn hinter ihr und sie ballte die Hände zu Fäusten, um sich nicht umzudrehen und ihn mit den Ketten an ihren Händen zu erwürgen. Er hatte anscheinend ihre Gedanken erahnt, denn er drückte die Spitze seines Schwertes noch Fester gegen ihren Rücken. Liv biss die Zähne zusammen, als sie spürte, wie ihre Haut aufriss und Blut ihren Rücken hinunter lief, doch sie ging keinen Schritt weiter nach vorne. Diese Genugtuung wollte sie Zayn nicht geben.
Angespannt beobachtete sie, wie die Adligen, die in der Halle versammelt waren, bei Fionas Anblick anfingen zu flüstern, während andere auf eine Person hinter Fiona deuteten. Ihrer Kleidung nach zu urteilen war es eine junge Dienerin. Sie hatte schwarzes langes Haar, das zu einem Dutt hochgesteckt war und dunkle Augen, die zwischen Fiona und Kieron hin und her huschten.
Als Fiona das Ende der Treppe erreichte und vor Livs Onkel zum Stehen kam, berührte die Dienerin kurz ihren Arm. Liv bemerkte sofort, wie Fiona bei der Berührung das Kinn noch ein Stück höher hob, bevor sie vor Kieron knickste und mit gesenktem Kopf sagte: „Es freut mich, dass ihr endlich zurück gekehrt seid, mein König." Liv konnte nicht erkennen, ob ihre Worte der Wahrheit entsprachen oder gelogen waren. Sie konnte bloß hoffen.
Kieron lächelte leicht und neigte den Kopf erst vor Fiona und dann vor der Dienerin. Misstrauisch verengte Liv die Augen, als Kieron lächelnd erwiderte: „Die Freude ist ganz meinerseits, Fiona, Crow."
Dann veränderte sich sein Lächeln zu dem wahnsinnigen Grinsen, das Liv so hasste und er deutete mit einer abfälligen Handbewegung in ihre Richtung. „Darf ich euch die Königin von Eletheria vorstellen?" ,fragte er laut, sodass der ganze Saal es hören konnte.
Die Adligen lachten spöttisch und Liv fing Fionas überraschten und fragenden Blick auf. Sie nickte leicht, um die Worte von Kieron zu bestätigen und sie sah, wie Fiona bereits dabei war die losen Teile in ihrem Kopf zusammen zu setzen, um die ganze Wahrheit zu entziffern. Am liebsten hätte Liv ihr alles erzählt, doch der König hob eine Hand und die Menge verstummte.
„Ich verkünde ein Fest, anlässlich unseres Erfolges. Heute Abend im großen Saal!" ,rief er feierlich und die Adligen und Soldaten klatschten verhalten. Eine Handbewegung des Königs und sie knicksten oder verneigten sich, bevor sie die Halle verließen und wieder ihren Beschäftigungen im Schloss nachgingen.
Im allgemeinen Stimmengewirr wandte Kieron sich der Dienerin zu, die er Crow genannt hatte und sagte ernst: „Bereite in meinen Gemächern bitte ein Bad für mich vor, Crow."
Liv stutzte. Hatte ihr Onkel gerade wirklich das Wort Bitte benutzt? Crow lächelte Kieron an und sie verneigte sich schnell, um ihre roten Wangen zu überspielen, bevor sie Fiona aufmunternd zu nickte und in einer verborgenen Tür unter der Treppe verschwand. Liv kam es so vor, als würde Kieron ihr ein bisschen zu lange nachschauen, doch sobald sie verschwunden war, wandte er sich mit eiskaltem Blick Liv zu.
„Und nun werde ich dir deine neuen Gemächer zeigen, Königin" ,erklärte er süffisant, und bot Fiona seinen Arm an, den sie zögernd ergriff. Liv hasste es, wie er ihren Titel aussprach, doch noch bevor sie etwas erwidern konnte schlug Zayn mit seinem Schwert gegen ihren Rücken.
„Folge ihnen!" ,befahl er laut und sie setzte sich widerwillig in Bewegung, wobei ihre Beine so doll schmerzten, dass sie beinah erneut auf den Knien gelandet wäre.
Vier Soldaten folgten Zayn. Die Anderen blieben in der Halle zurück. Konzentriert versuchte Liv sich den Weg in die Kerker zu merken, doch jeder Gang sah aus wie der vorherige und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass der König absichtlich ein paar Abbiegungen mehr einschlug, um sie zu verwirren.
Als sie vor der bekannten eisernen Tür stehen blieben und warteten, bis zwei Wachen ihnen öffneten, hatte Liv schon wieder vergessen, wie sie hergekommen war. Sie war zu erschöpft, als dass sie sich wirklich konzentrieren konnte und so gab sie seufzend auf, als Zayn sie in den dunklen steinernen Gang stieß. Sofort drang das schmerzvolle und flehende Stöhnen der Gefangenen auf Liv ein und sie konnte sehen, wie Fiona sich neben dem König verspannte und ihre zitternden Hände in den Falten des silbernen Kleides verbarg. Dieser Ort musste die reine Folter für sie sein.
„Lass sie gehen! Sie hat keinen Grund hier unten zu sein!" ,verlangte Liv mit rauer Stimme. Es waren die ersten Worte, die sie seit Tagen aussprach und ihre Kehle fühlte sich dabei so staubtrocken an, als wäre sie Wochen lang in den Dünen von Erimos unterwegs gewesen.
Kieron drehte sich nicht einmal zu ihr um, als er über Fionas Arm strich und antwortete: „Angst ist eine Schwäche, die sich eine zukünftige Königin nicht leisten kann." Liv hätte ihn am liebsten auf Zayns Foltertisch gelegt und ihm die Haut von den Knochen gezogen.
~
Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen,... Fiona konnte das Zittern ihrer Finger und ihrer Atmung nicht unterdrücken, während ihre Gedanken sich überschlugen. Da war die Erleichterung, dass Liv lebte und gleichzeitig die Angst, was der König wohl mit ihr vor hatte. Da waren die Gedanken, die immer wieder darum kreisten, dass Liv die Königin von Eletheria war und damit die rechtmäßige Thronerbin des Reichs der Gestaltwandler. Fiona konnte immer noch nicht ganz erfassen, was das für sie und die anderen Gestaltwandler bedeutete.
Dann waren da die Worte des Königs, die wie ein Sturm durch ihren Kopf gefegt waren. Sie? Eine zukünftige Königin?! Es musste eine Lüge sein, ein Schachzug des Königs, um irgendetwas anderes zu erreichen, doch was?
Und dann waren da noch die Erinnerungen von diesen dunklen Gängen und Zellen, von der Kälte, dem Schmerz, die drohten sie in die Knie zu zwingen und das Denken unmöglich machten. Panik durchströmte sie und sie hörte die Schritte von Zayn hinter sich so überdeutlich, als wären die Soldaten, Liv und der König gar nicht anwesend. Das Knacken ihrer eigenen Knochen, die brachen, das drohende Geräusch der Folterinstrumente, wenn sie aufeinander schlugen und Zayns wahnsinniges Lachen dröhnten in ihren Ohren.
Sie konnte nicht weiter gehen. Sie musste weg! Sofort! Weg von diesem Ort, weg von Zayn und dem König, weg von all den Erinnerungen, die sie bereits in ihren Albträumen immer wieder verfolgt hatten. Fiona wollte den König anflehen sie gehen zu lassen, doch selbst sprechen konnte sie nicht mehr. Irgendwie versuchte sie einen Fuß vor den Anderen zu setzen, weiter zu atmen.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon durch die Kerker gingen. Es fühlte sich an, wie eine Ewigkeit. Als sie einen hell erleuchteten Raum betraten und sie durch ihren von Tränen verschleierten Blick den blutbefleckten hölzernen Tisch sah, wurde ihre Panik nur noch stärker. Ihr ganzer Körper zitterte mittlerweile und als der König ihren Arm los ließ, wäre sie beinah auf der Stelle zusammen gebrochen, hätte eine Person nicht den König zur Seite gestoßen und mit gefesselten Armen dafür gesorgt, dass Fiona wieder Halt fand.
Hinter sich hörte sie, wie Schwerter gezogen wurden, als Liv leise, aber eingehend sagte: „Sieh mich an, Fiona! Sieh mich an!" Irgendwie schaffte Fiona es den Blick von dem Tisch loszureißen und Liv in die Augen zu sehen.
„So ist es gut! Und jetzt atme. Du schaffst das!" ,fuhr Liv fort.
Fiona starrte in Livs sturmgraue Augen und atmete. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen,... Ihr Blick klärte sich ein wenig und ihre Knie hörten auf zu zittern. Sie musste stark sein! Nicht nur für sich selbst. Sie musste für Liv stark sein!
Die Stimme des Königs schnitt wie ein Messer durch ihre Gedanken. „Seit ihr jetzt fertig?" ,fragte er genervt, bevor er Liv an der Schulter packte und nach hinten zog, sodass Zayn ihr sein Schwert an die Kehle halten konnte. Ängstlich schaute Fiona zu Liv, die zitternd Luft holte und dann den Blick des Königs herausfordernd erwiderte.
Doch es war Zayn der leise sagte, sodass es von den Wänden des Ganges widerhallte: „Wenn du noch ein einziges Mal den König anfasst, werde ich die kleine Gestaltwandlerin höchst persönlich foltern und danach umbringen. Hast du das verstanden?"
Liv starrte immer noch den König an, während Fiona versuchte die Panik zu unterdrücken, die wieder in ihr aufsteigen wollte.
„Hast du das verstanden?!" ,wiederholte Zayn nun lauter, sodass Fiona zusammen zuckte.
Liv bemerkte es und sie warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor sie mit fester Stimme antwortete: „Ja, Mylord." Fiona hasste diese beiden Worte, die Worte, die verrieten, dass der König für den Moment gewonnen hatte.
„Gut!" ,sagte der König kalt, „Dann hätten wir das ja auch geklärt."
Er nickte den Wachen zu und sie steckten ihre Schwerter zurück in die Scheiden, während Zayn Liv nach vorne stieß und ihr wieder das Schwert in den Rücken drückte. Diesmal führte der König Fiona hinter den anderen her, sodass sie das Blut sehen konnte, das Livs zerrissenes Hemd silbern färbte.
Einer der Soldaten öffnete die Tür zu den Kerkern für die Gestaltwandler und ging mit einer Fackel voraus. Ein anderer Soldat mit einer weiteren Fackel schloss sich Fiona und dem König an und zog die eiserne Tür hinter sich zu, nachdem sie sie passiert hatten. Krachend fiel sie ins Schloss. Fiona rieb sich die Arme, als die Kälte sie umfing, während sie immer noch versuchte die Panik in ihrem Inneren unter Verschluss zu halten.
Sie gingen an den offenen Zellen vorbei, an der, in der sie eine lange Zeit gelebt und gelitten hatte, an der, in der Liv eingesperrt gewesen war. Immer tiefer drangen sie in den Gang vor. Nur das Geräusch ihrer Schritte und das Knistern der Fackeln war zu hören, während Fiona beobachtete, wie sich ihre Atmung in kleine Wolken verwandelte.
Irgendwann erreichten sie eine weitere Treppe, die sie noch tiefer unter die Erde führte und vor einer dicken eisernen Tür ohne Fenster endete. Fiona fragte sich, ob wohl noch mehr Zellen hinter der Tür verborgen sein würden, als der vorderste Soldat seine Fackel in eine Halterung an der Wand steckte und sich daran machte mit einem rostigen Schlüssel die Tür aufzuschließen. Er musste sich gegen das kalte Metall stemmen, damit sie nach innen aufschwang und einen großen Raum enthüllte.
Nacheinander traten sie ein und auf ein Zeichen des Königs entfachten die Wachen weitere Fackeln an den Wänden, während Zayn mit Liv den Raum durchquerte und sie an der gegenüberliegenden Wand zu Boden stieß. Erst jetzt fielen Fiona die Ringe und Ketten auf, die in die Wand eingelassen waren. Zayn verband die Ketten als erstes mit dem Reif um Livs Hals. Dann legte er ihr eiserne Fuß- und Handfesseln an, die er ebenfalls mit den Ketten an der Wand verband.
Eine weitere Welle der Angst durchströmte Fiona, als sie sah, wie Liv verbissen versuchte die Angst und die Hoffnungslosigkeit, die über ihr Gesicht huschten, zu unterdrücken.
Sei stark, Fiona! Mache nichts Unüberlegtes. Du bist ihre einzige Hoffnung ,hörte Fiona plötzlich die Stimme in ihrem Kopf, doch es war anders als sonst. Es wirkte, als würde die Stimme selbst ihre Hoffnungslosigkeit unterdrücken. Trotzdem hatte sie Recht!
Die zufriedenen Worte des Königs, die auf einmal neben ihr ertönten, rissen Fiona aus ihren Gedanken: „Ich wollte diese Zelle schon immer einmal ausprobieren und ich glaube wir haben die perfekte Gefangene für sie gefunden."
Fiona schaute in die Gesichter der anderen Männer im Raum. Wie konnten sie nur so etwas gut heißen? Einige betrachteten Liv, genauso wie Zayn, mit einem Grinsen auf den Lippen. Andere starrten ausdruckslos den König oder die Wände an.
Fiona sah zu Liv, die mit hoch erhobenem Kopf auf den kalten Steinen saß und die gefesselten Hände zu Fäusten geballt hatte. Sie starrte immer noch herausfordernd den König an, der den Kopf schief gelegt hatte und sie zufrieden betrachtete. Einige Sekunden verstrichen, während weder der König noch Liv den Blick abwandten, doch Fiona konnte sehen, wie Liv versuchte nicht zu zittern, wie sie versuchte ihre Gefühle zu verstecken. Nicht mehr lange und sie würde vor den Augen des Königs zusammen brechen. Zumindest das konnte Fiona versuchen zu verhindern.
„Wir sollten zurück nach oben gehen. Ich muss noch ein Bad nehmen und Crow nach einem neuen Kleid fragen, bevor das Fest heute Abend beginnt" ,sagte sie mit fester Stimme zum König. Dieser riss tatsächlich seinen Blick von Liv los und schaute stattdessen Fiona an.
„Du hast Recht!" ,sagte er zustimmend, bevor er auf zwei Wachen zeigte, die an der Tür standen. „Ihr beide bezieht vor der Tür Stellung. Der Rest von euch wird auf Zayns Befehl hin die Vorherigen ablösen. Ihr werdet mit niemandem über den genauen Standort der Gestaltwandlerin reden. Weder nüchtern, noch mit zehn Flaschen Bier intus. Die Strafe, wenn ihr es doch tut, wird ebenfalls Zayn bestimmen. Verstanden?!" ,befahl der König laut.
Die Wachen nickten und einige Blicke wanderten kurz zu Zayn, der immer noch neben Liv stand und grinsend auf sie hinab blickte. Während der König und die Wachen bereits die Fackeln nacheinander löschten und die Zelle verließen, beobachtete Fiona, wie sich Zayn zu Liv hinunter beugte und leise etwas sagte. Sie konnte nicht verstehen, was es war, doch Livs ausdrucksloses Gesicht, das kurz ins Wanken geriet und noch bleicher als sowie so schon wurde, verriet genug.
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