Kapitel 26
Nach einem Tag und zwei Nächten, in denen Liv meist stumm hinter Kilian herlief, war sie mehr als erleichtert, als sie endlich das Ende des Schattenwaldes erreicht hatten. Sie hatte das dichte Blätterdach, das ihr die Sicht auf den Himmel versperrte und die vereinzelten Dornbüsche, die ihre Hose durchlöchert hatten und blutige Kratzer auf ihrer Haut hinterließen, satt, auch wenn die Kratzer schon wieder verheilten, kaum dass sie entstanden waren.
Sie hatte es Kilian nicht ein zweites Mal gezeigt und nicht nur, weil sie generell versuchte seine Nähe zu meiden. Zum Glück hatte er auch nicht unbedingt einen Versuch unternommen mit ihr über mehr zu reden als das Nötigste. Er schien in seine eigenen Gedanken versunken zu sein, auch wenn er ihr immer mal wieder einen Blick zugeworfen hatte, wenn er dachte, dass sie es gerade nicht bemerkte. Noch ein Grund, weshalb sie sich freute den Schattenwald zu verlassen. Wäre sie noch ein paar Tage mit Kilian allein gewesen, hätte sie wohl versagt ihn auf Abstand zu halten.
Liv hatte das Gefühl, dass zwei Seiten in ihr gegeneinander kämpften. Die eine wollte bei ihm bleiben, ihm noch näher kommen und ihm alles erzählen. Die andere wollte ihn töten und so schnell wie möglich verschwinden, vielleicht nach Erimos oder nach Limani, um dort auf ein Schiff zu steigen und diesen verdammten Kontinent endgültig zu verlassen. Liv hatte keine Ahnung, wie zum Teufel sie diese beiden Seiten zu einer Einigung bringen konnte.
„Wir sind da" ,sagte Kilian plötzlich neben ihr und riss sie aus ihren Gedanken.
Ein Stück von ihnen entfernt lag ein kleiner Bauernhof. Eine Hütte zum Wohnen, zwei Ställe mit angrenzenden Wiesen und einen großen Gemüsegarten hatte man an einem kleinen See errichtet, auf dem Enten schwammen. Die Sonne ging gerade am Horizont auf und aus einem der Ställe trat mit einer Kuh am Zügel und einem Hocker unter dem Arm eine Frau mit rötlichen Haaren.
„Ist sie das?" ,fragte Liv leise, während sie beobachtete, wie Kilian mit leuchtenden Augen in die Richtung seines zu Hauses sah. Er nickte.
„Meinst du sie weiß bereits wie Lucien, was passiert ist?" ,fragte Liv weiter.
Kilian schaute sie an und ein Schatten huschte über sein Gesicht, bevor er sagte: „Ich glaube nicht. Sie hat diesen Ort seit dem Tod meines Vaters niemals verlassen und normalerweise kommt hier kaum jemand vorbei."
Liv nickte langsam und wollte schon weiter fragen, als Kilian ihr bereits die Antwort gab: „Wir sagen ihr die Wahrheit. Ich kann sie nicht anlügen und außerdem könnte sie helfen die Identität des Königs herauszufinden."
Liv sagte nichts dazu. Sie würde selber entscheiden, wie viel diese Frau über sie wissen durfte.
Gemeinsam überquerten sie die grüne Wiese, die sie noch von dem Bauernhof trennten. Erst als sie nur noch wenige Schritte von den Ställen entfernt waren, schaute Kilians Mutter auf. Sie hatte die Kuh gemolken und stand gerade von dem Hocker auf, um ihre Hände an einer weißen Schürze abzuputzen, die locker um ihre Hüften hing. Liv beobachtete, wie sie die Stirn runzelte und kurz darauf ein Leuchten ihr Gesicht erhellte.
„Kilian?! Bist... bist du das?" ,rief sie mit stockender Stimme.
Aus dem Augenwinkel sah Liv, wie Kilian sich anspannte, während er antwortete: „Ja Mutter! Ich bin es!"
Die Frau stieß ein Schluchzen aus, dann rannte sie über die Wiese, sprang flink über den Zaun und flog Kilian in die Arme, der sie fest an sich drückte und sein Gesicht in ihrem rötlichen Haar vergrub.
„Bei den Göttern! Ich habe dich so vermisst" ,murmelte die Frau, während Tränen über ihre Wangen liefen.
Liv hörte, wie Kilian schluckte. „Ich habe dich auch vermisst" ,flüsterte er in ihre Halsbeuge.
Liv wusste nicht, ob sie lachen, schreien oder weglaufen sollte. Sie fühlte sich so fehl am Platz, wie ein Schneeschauer in der Wüste. Liebe, Familie, Nähe, alles Sachen, die sie nie gehabt hatte und die sie bis vor ein paar Tagen auch nicht gebraucht hatte. Jetzt spürte sie ein Stich in ihrem Herzen, wie ein Dolch, der ein Stück weiter hinein gedrückt wurde.
Kilians Mutter löste sich nur wiederwillig von ihrem Sohn, während sie mit ihrem Blick seinen Körper nach Verletzungen absuchte und sich die Tränen von den Wangen wischte. Erst jetzt schien sie Liv zu bemerken, die immer noch stumm neben den beiden stand. Für einen Moment schien so etwas wie Erkennen in ihren Augen aufzublitzen, doch der Ausdruck war so schnell verschwunden wie er gekommen war.
„Ach, entschuldige! Das war nicht gerade gastfreundlich" ,verurteilte die rothaarige Frau sich selbst, während sie Liv ein Lächeln zu warf und ihr die Hand entgegenstreckte.
„Helena! Freut mich sehr dich kennen zu lernen" ,sagte sie freundlich.
Liv ergriff vorsichtig ihre Hand. „Liv" ,sagte sie ausdruckslos, während sie Kilians Mutter ein wenig genauer betrachtete.
Helena hatte rötliche schulterlange Haare, die ein von Sommersprossen übersätes Gesicht umrahmten. Sie hatte die gleichen haselnussbraunen Augen wie Kilian und war einen Kopf kleiner als Liv. Ein weiter brauner Strickpullover, dessen Ärmel sie nach oben gekrempelt hatte und eine durchlöcherte Hose bedeckten ihren drahtigen Körper. Sie war hübsch und schien zu strahlen wie die aufgehende Sonne. Liv hatte keine Probleme sich diese Frau in einem wunderschönen Kleid an der Seite einer Königin vorzustellen.
Helenas Stimme riss Liv aus ihren Gedanken: „Seid ihr... ist sie deine Liebhaberin?"
Liv spürte wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Wie konnte diese Frau es wagen... Bei Kilians Grinsen, das er ihr zuwarf, hätte sie ihm am liebsten einen Dolch an die Kehle gedrückt, als er fast schon bedauernd den Kopf schüttelte. Helena grinste wissend, bevor sie mit ihrer Hand in die Richtung der Hütte deutete.
„Lasst uns erst einmal rein gehen und etwas essen, danach könnt ihr mir immer noch erzählen, wieso ihr hier seid" ,sagte sie lächelnd, wobei Liv nicht der fragende und strenge Blick entging, den Helena ihrem Sohn zu warf. Dieser Ort war geheim und Liv verstand das Misstrauen nur zu gut, das hinter Helenas Lächeln verborgen lag.
~
Glücklich und angespannt zu gleich beobachtete Kilian, wie seine Mutter drei Teller, Besteck, Brot, Käse und Wurst auf den Tisch stellte. Er saß auf einem der dreibeinigen Holzstühle am Tisch und schaute sich in seinem zu Hause um.
Es war noch alles so, wie vor zwei Jahren. Die kleine Küche, der steinige Kamin an der Wand, die selbst gestrickten Kissen, die auf der Eckbank lagen, auf der Liv sich niedergelassen hatte, sogar der dicke Teppich war noch genauso staubig und zerzaust wie damals.
Kilian waren aber auch die Veränderungen aufgefallen. Die morschen Zäune, die die heruntergekommenen Ställe umstellten, die nur grob geflickten Löcher im Dach der Hütte und auch die tiefen Sorgenfalten im Gesicht seiner Mutter, die noch deutlicher zu sehen waren als vor seinem Dienst beim König. Es ging ihr nicht gut, egal wie sehr sie versuchte Glück und Stärke vorzutäuschen. In der Hinsicht waren sie beide gleich. So gute Schauspieler, dass sie es manchmal sogar schafften sich selbst zu täuschen. Um so mehr graute es Kilian davor ihr den wahren Grund zu sagen, wieso er hier war.
Seine Mutter ließ sich auf dem Stuhl neben ihm sinken, bevor sie jedem einen Becher frische Milch einschenkte. „Wann hattet ihr eure letzte richtige Mahlzeit?" ,fragte sie, während sie beobachtete, wie Liv und er sich auf das Essen stürzten wie Aasgeier.
„In Amyr. Wir sind bei Lucien untergekommen" ,murmelte Kilian noch mit vollem Mund.
Seine Mutter lächelte. „Wirklich? Wie geht es ihm? Er war schon so lange nicht mehr hier" ,fragte sie weiter, bevor sie einen Schluck von ihrer Milch trank.
„Es schien ihm gut zu gehen. Er hat meine gebrochene Rippe versorgt" ,antwortete Kilian, wobei er zum Ende hin deutlich leiser wurde.
„Wie bitte? Deine Rippe war gebrochen?! Was ist passiert?" ,fragte sie aufgebracht.
Kilian schaute hilfesuchend in Livs Richtung. Die Wahrheit war doch schwerer als er angenommen hatte, doch von Liv schien keine Hilfe zu kommen. Sie zuckte nur mit den Schultern, als wollte sie sagen: „Du wolltest doch unbedingt die Wahrheit erzählen." Stattdessen schwieg sie.
Kilian fluchte innerlich, doch bei dem Blick, den seine Mutter ihm zu warf, fing er an zu erzählen. Von der ersten Begegnung mit Liv, ihrer Flucht aus dem Schloss von Vasilias, von ihren zweifachen nur knapp geglückten Fluchtversuchen vor Zayn und seinen Soldaten und schließlich von den letzten zwei Tagen im Schattenwald.
Er endete mit den Worten: „Wir glauben, dass der König von Vasilias ein Gestaltwandler ist."
Liv brach ihr Schweigen: „Wir glauben es nicht, wir sind uns ziemlich sicher, dass es so ist."
Seine Mutter hatte während seiner Erzählung an manchen Stellen genickt oder die Stirn gerunzelt, an anderen hatte ihr Gesicht die Farbe von Livs Haut angenommen, doch nun blieb sie stumm. Gedankenverloren starrte sie auf ihren Becher mit Milch, während sie eine ihrer rötlichen Strähnen um den Finger wickelte.
Schließlich fragte sie: „Ihr seid hier, um die Jagd abzuwarten, oder nicht?"
Kilian nickte langsam. Er hatte jede mögliche Standpauke von seiner Mutter erwartet, doch nicht... diese Stille. Einige Zeit verstrich, während sie stumm das Brot aßen. Kilian wusste nicht, was er noch sagen sollte und war deshalb unglaublich dankbar, als seine Mutter sich an Liv wandte.
„Du bist also eine Diebin aus Vasilias. Du hast getötet und gekämpft... und du hast meinem Sohn mehrmals das Leben gerettet. Sag mir, wer bist du wirklich und wieso bist du noch hier?" ,fragte sie, während ihr Blick Liv durchbohrte.
Kilian sah, wie Liv schluckte, bevor sie leise antwortete: „Ich bin noch hier, weil ich nicht weiß, wo ich sonst hin soll. Zurück in die kalten Dörfer werde ich nicht gehen und überall sonst werden die Menschen mich jagen und dem König ausliefern. Und... ich bin noch hier, weil... weil ich jemanden gefunden habe, der mich nicht dafür verurteil, was ich bin."
Überrascht schaute Kilian auf. Diese Worte glichen für Livs Verhältnissen einer Liebeserklärung. Sie schaute auf ihre Finger, die sie nervös ineinander verschränkt hatte. Seine Mutter schien fürs Erste mit dieser Antwort zufrieden zu sein, denn sie stand auf und räumte die Sachen vom Tisch ab.
„Ich würde vorschlagen ihr nehmt beide ein Bad und ruht euch ein wenig aus, während ich mich um den Hof kümmere. Liv, du kannst bei Kilian im Zimmer schlafen, wenn es dich nicht stört. Wir reden heute Abend weiter und was den König betrifft. Ich weiß nicht ob ihr Recht habt, aber wenn es so ist, müssen wir etwas unternehmen" ,sagte sie mit ernster Miene, bevor sie sich die Schürze wieder um die Hüfte band und die Hütte verließ.
Da Kilian ziemlich sicher war, dass er kein weiteres Schweigen ertragen würde, stand er auf und sagte schnell: „Ich hole Wasser aus dem Brunnen. Das Bad ist dort." Er deutete auf eine hölzerne Tür neben der Küche. „Und mein Zimmer ist die Leiter hoch" ,fügte er hinzu.
Liv nickte. Sie schaffte es immer noch nicht ihm in die Augen zu sehen und schaute stattdessen auf einen Punkt an der Wand hinter ihm. Kilian drehte sich um und ging in die Richtung der Tür, durch die auch seine Mutter verschwunden war.
Mit der Hand an der Klinke drehte er sich noch einmal zu Liv um. Er öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, doch er wusste nicht was. Wieso war er noch bei ihr? Er konnte sich nicht mehr einreden, dass sie zusammen eine größere Chance hatten, dem König zu entkommen. Sie waren beide stark genug, um sich auch alleine durchzuschlagen und außerdem brachte er seine Mutter, dadurch dass Liv hier war, nur noch mehr in Gefahr. Also wieso war er noch bei ihr? Kilian wusste die Antwort, doch er wusste genauso gut, dass Liv sie niemals akzeptieren würde.
Schnell öffnete er die Tür und ging auf den Hof hinaus.
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