Der Junge
Er stand direkt vor den Gitterstäben meiner Zelle. Eine Fackel glomm sacht an der gegenüberliegenden Wand. Der Junge kniete sich hin und breitete meine kleinsten Wurfmesser vor sich aus. Er legte eins neben das andere, bis sie zu einer silbernen Linie aufgereiht waren, der Größe nach sortiert. Ich hatte ihn zunächst nicht bemerkt. Das Klimpern meiner Messer riss mich aus meinen Gedankenspiralen. Ich schaute ihn an: »Was machst du hier?« Der Junge antworte nicht. Er nahm ein Messer zwischen die Finger. »Zeig mir wie du sie wirfst, damit ich dein Herz durchbohren kann.«
Ich stand auf und starrte ihn irritiert an: »Was?«
Der Junge stand ebenfalls auf und machte ein paar Schritte zurück.
»Was glaubst du: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit das jedes Messer von einer Gitterstange aufgehalten wird?«
Ich hatte nichts um mich zu verteidigen.
»Hör auf damit.«
Er schleuderte das erste Messer auf mich zu. Es gelang durch die Gitterstäbe, war aber noch mehr als einen halben Meter von mir entfernt als es gegen die Lehmwand hinter mir traf, in der es nicht einmal stecken blieb.
»Es hat keinen Sinn«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. »Selbst wenn du mich triffst, es wird vermutlich nicht tötlich sein.«
Das nächste Messer wurde klirrend von einer Gitterstange abgelenkt und blieb im Boden stecken. In den nächsten Minuten regnete es immer mehr Messer wie silberne Pfeile in meine Zelle, doch keins erwischte mich ansatzweise. Das schien Sebastian allerdings auch keines Wegs zu entmutigen. Das letzte Messer wog schwer in seiner Hand, ich erkannte eins meiner Lieblingsmesser. »Hör auf«, schrie ich ihn an. Dann flog das Messer geradewegs auf mich zu, durchkreuzte problemlos die Gitterstangen und bohrte sich tief in mein Herz.
Ich schreckte auf.
Mein Atem ging stoßweise und ich fasste mir an die Brust. Kein Messer. Kein Junge.
Alles nur ein Traum. Kerzengerade saß ich da. Erleichterung breitete sich in mir aus.
An der gegenüberliegenden Wand flackerte aber nun tatsächlich eine Fackel und vor meiner Zelle stand ein Becher Wasser und eine Schüssel mit dampfender Suppe. Jemand hatte außerdem eine Wolldecke und ein Kissen dazugelegt. Sarah. Ich kuschelte mich in der Decke ein, trank das Wasser in einem Zug aus und verbrannte mich dann vor Hunger an der Suppe. Als ich alles aufgegessen hatte, wurden meine Augenlider wieder schwerer, doch ich wollte nicht noch einmal einschlafen.
Sarahs Armband lag immer noch an der selben Stelle, wo sie es hatte fallen gelassen. Ich wusste nicht was ich damit bezwecken sollte und sie wusste, dass ich damit nichts bezwecken konnte. Ich wickelte es gelangweilt um meine Finger und nahm die Farbe auf. Danach versteckte ich das graue Band in meinem Schuh. Ich begann kleine Feuerbälle aus meinen Fingern über den Boden zu schnippen. Mir fiel auf, dass ich eigentlich öfter mal mit meiner Magie herumspielen sollte. Es hatte etwas Beruhigendes und man entdeckte neue Tricks. So probierte ich fünf Feuerbällchen gleichzeitig mit jedem einzelnen Finger zu erzeugen und diese dann kreisförmig in der Hand zu rotieren. Ein Bällchen wollte aber irgendwie nicht so wie ich und brach ständig wieder aus der Formation aus, kullerte zu Boden und erlosch im Staub. Ich bedauerte, als meine Magie zur Neige ging und ich die kleine Jonglage nicht weiter verbessern konnte. Plötzlich vernahm ich Schritte aus der Ferne, die sich näherten. Vier Personen erschien im Tunneleingang, der in meine Höhle mündete: Sarah, Sebastian, der Mann, der mich durch die Luft gewirbelt hatte und eine schwarze Kapuze mit dunklem Gewand. Ich hatte nicht mit so vielen Besuchern gerechnet und stand auf. Sie blieben vor meiner Zelle stehen. Der Junge versteckte sich halb hinter dem Mann. Im Gegensatz zu meinem Traum wirkte er nun sehr eingeschüchtert und warf mir zum Glück nur verstohlene Blicke anstatt Messer zu.
Sarah ergriff das Wort: »Physakris und Sebastian bist du ja bereits begegnet«. Sie deutete auf den Mann, der mich hierher befördert hatte und den Jungen. Ich nickte knapp. Physakris war von seiner schwarzen Garderobe zu einem grauen Jogginganzug gewechselt. Der junge Sebastian trug eine kurze Hose und einen Pullover. Er schlang sich nervös die Bänder seiner Kapuze um die Finger. Sarah wandte sich zu der Person in schwarzer Robe: »Eikesha, das ist der junge Mann, von dem ich dir erzählen wollte. Sein Name ist...«
»Jackson«, unterbrach ich sie und machte einen Schritt auf die Gittertür zu. Beim Anblick dieser Kapuze regte sich Misstrauen in mir.
Ich blickte in Eikeshas Gesicht. Er war schätzungsweise Ende Sechzig. Seine Augen waren von einem natürlichen Grün durchzogen. Seine Haare waren weiß und genauso stoppelig kurz gehalten wie sein Bart. Wenn ich mir einen weisen Meister hätte vorstellen müssen, sähe er genau wie Eikesha aus, wobei ich bei ihm einen langen weißen Bart misste. »Nun wie schön, dass du zu uns gefunden hast, wenn auch unter keinen gelungenen Umständen.« Seine Stimme war warm und zugleich kratzig, klang fast ein bisschen verstaubt. »Du hast Sebastian angegriffen, in der Vermutung, dass es sich um Sarah handelte und sie zwei Mädchen hätte umbringen wollen. Ist das richtig?«, fragte er. Er ließ keine Zeit für Plaudereien. Ich nickte stumm.
»Und als du gemerkt hast, dass du einen Jungen angreifst, hast du dich ergeben?«, fragte er weiter. Er hatte es ganz gut zusammengefassst.
»Nein, also im Prinzip schon. Ich wollte wissen wer unter der Kapuze steckt, doch da - naja da war es schon zu spät«, sagte ich langsam. Physakris nahm Sebastian in den Arm.
»Ich wollte ihn heilen, wollte das Geschehene wieder rückgängig machen, doch sowas kann ich nicht«, gab ich bedrückt zu. »Ich habe seine Schmerzen als Gegenleistung übernommen.«
»Wer verletzen kann, sollte auch heilen können. Wir könnten dir zeigen wie du mit deiner Gabe, ein Farbmagier zu sein, richtig umgehen kannst. Doch dieses Angebot beruht auf gegenseitigem Vertrauen, was ich bei dir allerdings als ein heikles Thema ansehe«, sagte Eikesha. Damit hatte er nicht unrecht. Ich vertraute keinem außer mir und schon gar nicht Leuten in dunklen Kapuzen. »Die Erfahrung ist ein harter Lehrer«, gab ich als Antwort zurück. Eikesha nickte zustimmend. »Wir haben einiges zu klären, doch im Fall von Sebastian spreche ich dich frei. Du hast genug erduldet als du ihn zurück getragen hast und das sogar aus freien Stücken. Er ist hier, damit er lernt keine Angst mehr vor dir haben zu müssen«, sprach Eikesha.
Ich schaute Sebastian an und ging in die Hocke. »Wie alt bist du?«, fragte ich ihn.
»Zwölf«, sagte er ohne sich von Physakris zu lösen. »Und ich hab gar keine Angst vor dir!«
»Dann bist du der mutigste und tapferste Zwölfjährige, den ich je kennengelernt hab«, meinte ich. Er blinzelte verlegen.
»Ich wollte dir nicht weh tun, es wird nicht mehr vorkommen. Kannst du mir verzeihen?«
»Weiß nicht«, nuschelte er in den Stoff der Jogginghose von Physakris. Vermutlich konnte er sich nicht mehr an sehr viel erinnern, was vielleicht besser so war.
»Nun, damit werde ich wohl leben müssen. Dass der mutigsten Zwölfjährigen, den ich kenne, noch was bei mir gut hat.«
»Ja«, sagte der Junge und fing ein bisschen an zu grinsen. Ich stand wieder auf.
»Gut gemacht«, meine Physakris zu ihm und wuschelten durch Sebastians Haare. Der Blick, den er mir dann zuwarf, ließ keine Zweifel daran, dass er mich wirklich töten würde, sollte ich seinem Schützling auch nur ein weiteres Haar krümmen. Die Beiden wandten sich zum Gehen ab und ließen mich mit Sarah und ihrem Meister zurück. Eikesha hatte seine Kapuze vom Kopf gezogen. Sarah war einen halben Schritt hinter ihn getreten.
»Jackson, wir müssen dich etwas genauer kennenlernen, da du nun deinen Weg bis in unser Zentrum gefunden hast.« Also war das Verhör noch nicht vorbei. Na toll.
»Sarah erzählte mir von deinem magischen Potenzial. Ich kann bereits seine Ausläufer spüren, doch ich müsste dich berühren, um es vollends zu überprüfen.« Ich schluckte. Er schien meine Zurückhaltung zu bemerken und fuhr fort: »Es dauert nur ein paar Sekunden, wenn du es nicht willst, musst du es nicht zulassen.« Ich suchte Sarahs Augen, die mir stumm versicherten, dass es keine große Sache war. »Na schön«, sagte ich und streckte meine Hand aus. Eikesha nahm sie zwischen seine rauen Hände und ich spürte tatsächlich nichts. Er schloss die Augen nur für einen Herzschlag. »Ich verstehe was du meintest, Sarah. Sehr ungewöhnlich«, sagte er als er meine Hand wieder frei gab. »Licht und Schatten sind in etwa gleichstark in dir, Jackson. Die Zukunft wird zeigen welche Seite überwiegt. Das könnte Akon interessieren.«
»Wer ist Akon?«, fragte ich direkt.
Es war Sarah, die antwortete: »Unser Gründer und Anführer.«
»Verstehe«, gab ich zurück.
Eikesha fuhr fort: »Ich möchte dir ein paar Fragen stellen, wenn du nichts dagegen hast.«
»Ob ich antworte, kann ich mir ja dann noch überlegen«, sagte ich und musterte ihn misstrauisch.
»Das ist richtig«, pflichtete er mir bei. »Doch wenn du antwortest, würden wir wenigstens gern sicher gehen, dass du uns wahrhaftig antwortest. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme, die wir bei jedem Neuen treffen.«
»Aha, und was wenn ich einfach gehe? Ihr könntet mir die Augen wieder verbinden und mich zurück in die Stadt führen. Ich würde euch vermutlich nicht wiederfinden«, sagte ich. Und genau das war hier der springende Punkt. Ich würde sie nicht wiederfinden. Einen Teil des Weges könnte ich sicherlich auch trotz verbundener Augen rekonstruieren, doch den Eingang in ihr Tunnelsystem könnte ich nicht öffnen. Dazu fehlten mir zu viele Kenntnisse über die Farbmagie. Ich war überrascht als er sagte: »Ja das wäre auch eine Möglichkeit.«
Ich überlegte nicht lange. Es wäre eine vergeudete Gelegenheit mehr über die Silhouetten und den Farbteppich herauszufinden, wenn ich jetzt einfach gehen würde.
»Okay, wie läuft diese Befragung ab?«
»Ich stelle dir Fragen und Sarah oder ich werden dich dabei berühren, um deine Gefühle zu erfassen. Deine Gedanken können wir nicht lesen, aber deine Gefühle geben uns genug Hinweise wie wahr sich deine Antwort tatsächlich anfühlt.« Also hatte ich quasi keine Chance zu lügen, es sei denn ich würde meine Gefühle damit in Einklang bringen. Eine interessante Herausforderung.
»Wenn du es zulässt, also uns innerlich die Erlaubnis dazu gibst, wirst du es kaum merken«, versicherte mir Sarah.
»Fein, dann lasst es uns hinter uns bringen«, sagte ich. Sarah holte einen Schlüssel hervor und schloss meine Zelle auf.
»Wir können die Befragung vor der Zelle durchführen, du bist kein Gefangener mehr. Soll ich oder Sarah deine Gefühle überwachen?«, fragte Eikesha.
»Sarah«, antworte ich und trat vor die Gitterstäbe. Ich fühlte mich trotzdem noch wie ein Gefangener hier unten.
»Okay, ich müsste dich unterhalb der Schlüsselbeine berühren. Kannst du deinen Pullover ausziehen?«, fragte sie mich.
Es war ziemlich kühl hier unten, doch ich tat wie gefragt und zog den Pullover über den Kopf. Mein Shirt Ausschnitt erlaube es ihr problemlos meine Haut mit einer Hand unterhalb meines Halses zu berühren. Eikesha positionierte sich zu meiner Linken und Sarah sah mir in die Augen. »Bereit?«, fragte Sarah.
Ich holte noch einmal tief Luft.
»Bereit.«
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