Drei
[Ein Jahr später]
Ein kleiner Stein flog gegen mein Fenster, was meine Aufmerksamkeit sofort auf sich zog. Eigentlich war ich gerade dabei zu lernen und ich wollte nur ungern meinen Lesefluss unterbrechen, trotzdem sah ich auf.
Erst als ein zweiter kam, stand ich auf, um nachzusehen wer es war.
,,Weißt du, dass es auch Handys gibt?", fragte ich lachend, als ich Nastie unten erkannte. Sie trug ein rotes Sommerkleid und eine dünne, schwarze Jacke darüber. ,,Damit kann man anrufen." Ich machte mit einer Hand eine Geste, um meine Aussage zu unterstreichen.
,,Weißt du, dass es welche gibt? Dafür muss man auch rangehen", antwortete sie und ich warf einen Blick auf mein Handy: zwei verpasste Anrufe.
,,Und was ist mit Klingeln? Die arme Klingel fühlt sich benachteiligt", erwiderte ich.
,,Pff... Klingeln. Sowas von letztes Jahr. Kommst du?"
,,Wo willst du denn hin?", fragte ich.
,,Erkläre ich dir unterwegs. Komm schon. Du beschäftigst dich schon fast seit einem Jahr durchgängig mit lernen!", rief sie zu mir hoch.
,,Ich studiere seit einem Jahr!", erwiderte ich.
,,Das heißt aber Studentenpartys bis in die frühen Morgenstunden und nicht lernen bis zum Umfallen! Also? Kommst du oder kommst du?"
Ich lachte.
,,Klar!"
___
Wenig später saßen wir zusammen im Auto. Nastie am Steuer. ,,Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo wir hinfahren", merkte ich an.
,,Ha, also gut. Wir fahren zum Freizeitpark", erwiderte sie.
,,Ich glaube, da war ich das letzte mal, als wir 13 waren", sagte ich.
Sie schmunzelte. ,,Genau deswegen."
___
Nachdem wir gezahlt und das Gelände durch ein riesiges Tor betreten hatten, kamen uns zuerst einige Menschenmassen entgegen.
,,Jetzt weiß ich wieder, warum ich hier schon so lange nicht mehr war", sagte ich.
,,Komm schon. Das ist das erste Mal seit langem, dass wir mal wieder nur zu zweit etwas unternehmen. Kein Luke, keine mysteriöse Rachel,..."
,,Hey! Mit Rachel war nichts", unterbrach ich sie.
,,Jaja, ich weiß schon." Sie zwinkerte mir zu.
,,Was? Ich... Nein! Wirklich nicht", begann ich zu stammeln.
,,Komm! Ich will zuerst dort die Rollercoster fahren", sagte sie auf einmal und zog mich mit sich in Richtung der Achterbahn.
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,,Du hattest Recht. Das war super lustig", sagte ich und lächelte sie breit an. Wir waren gerade bei einem Schießstand gewesen und Nastie trug eine riesige Plüschmaus. Sie war grau und ihre Ohren verdeckten fast komplett das Blickfeld meiner besten Freundin. In einer Pfote hielt sie ein rotes Samtherz auf dem stand: ,,Dawn won't stop me!"
Doch mein Lächeln verschwand, als ich sah, dass Nasties Jacke an einer Schulter heruntergerutscht war und einen riesigen blauen Fleck offenbarte. ,,Nastie, was ist das?", fragte ich besorgt.
Sie sah auf ihre Schulter und zog die Jacke wieder hoch.
,,Nichts besonderes. Ich bin nur letztens vom Pferd gefallen."
,,Nastie, du musst mir die Wahrheit sagen. Was ist passiert?"
,,Es ist wirklich nichts, Chester. Glaub mir das. Mach dir keine Sorgen." Sie lächelte zaghaft.
,,War es Luke?", fragte ich trotzdem weiter.
,,Nein! Er war es nicht. Lass uns doch bitte einfach diesen Tag genießen."
Ich fragte nicht weiter, auch weil ich von meinem Handy unterbrochen wurde. Es war eine unbekannte Nummer.
,,Hallo?"
,,Guten Tag, spreche ich mit Chester Laurens?", fragte eine Frau.
,,Ja, der bin ich", erwiderte ich.
,,Hier ist das Kreiskrankenhaus. Ihrer Mutter geht es leider sehr schlecht. Wir empfehlen Ihnen, so schnell zu kommen, wie es nur geht."
Ich spürte einen Stich in der Brust. Tausende Szenarien spielten sich vor meinem inneren Auge ab und ich hielt die Luft an.
,,Okay, ich komme sofort", sagte ich mit zittriger Stimme.
Nastie musterte mich mit einem besorgtem Blick.
,,Wir müssen sofort ins Krankenhaus", erklärte ich ihr.
,,Ich fahre", erwiderte sie. Sie musste nicht fragen, was los war. Sie sah meinen Augen an, wie ernst es war.
___
,,Der Krebs hat sein Endstadium erreicht. Wir können für Ihre Mutter leider nichts mehr tun", erklärte mir ein Arzt, der sich vorher als Doktor Sanders vorgestellt hatte.
,,Wie- Wie lange hat sie noch?", fragte ich sorgenvoll.
,,So genau kann man das nicht sagen, aber es handelt sich hierbei nur noch um Tage, vielleicht wenige Wochen."
Nastie legte eine Hand auf meine Schulter und sagte dann: ,,Lass uns erstmal zu ihr gehen."
___
Wir betraten einen Raum mit grellen, kaltweißen Lampen und weißen Wänden. Ich hasste Krankenhäuser.
Schon als ich klein war, wollte ich kein Fuß hineinsetzen, egal was passiert war und ich hoffte inständig, dass ich niemals in einem der Krankenzimmer gefangen sein würde.
Meine Mutter lag im Bett. Sie war an mehrere Infusionen angeschlossen und wirkte schwach. Ihre Augen waren trüb und ihre Haut blass.
,,Hi Mum", sagte ich.
Sie lächelte. ,,Hallo Schatz, hattet ihr einen schönen Tag?"
,,Ja. Mum, wie geht es dir?"
,,Nicht anders als gestern", antwortete sie, auch wenn das nicht stimmte. Das wusste ich. ,,Erzählt mir doch von eurem Tag."
,,Also gut", seufzte ich und begann zu erzählen.
___
Wie immer in letzter Zeit besuchte ich meine Mutter jeden Tag im Krankenhaus. Aber es war anders als sonst. Jeden Tag hatte ich Angst, dass ich sie am nächsten Tag nicht mehr wiedersehen würde. Wenn sie mich nicht jeden Abend nach Hause geschickt hätte, hätte ich wohl alle Nächte neben ihr in einem Stuhl verbracht.
Als ich an diesem Tag in ihr Krankenzimmer eintrat, wirkte sie noch erschöpfter als sonst. Sie lächelte kaum noch, auch wenn sie sich alle Mühe gab.
Es war später Nachmittag, wir hatten stundenlang geredet und sie wurde langsam müde.
,,Chester", sagte sie. ,,Du musst jetzt stark sein. Ich weiß, dass ich nachdem ich eingeschlafen bin nicht mehr aufwachen werde."
Bei diesen Worten schossen mir dir Tränen in die Augen.
,,Nein", sagte ich leise.
,,Chester, verspricht mir, dass du immer das machst, was du gerne möchtest. Lass dich von anderen nicht beeinflussen. Ich weiß, du wirst für dich immer die beste Entscheidung treffen."
Sie drückte meine Hand, die sie hielt, fest.
Ich schluckte.
,,Ja", erwiderte ich dann, ,,ich verspreche es."
,,Du hast dich so toll entwickelt. Trotz all der Probleme, die du in der Schule mit deinen Mitschülern hattest. Danke, dass du für mich da warst", sagte sie weiter.
Ich umarmte sie fest.
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Ich saß noch für Stunden neben ihr. Der schlimmste Moment war, als ihr gleichmäßiger Atem verstummte und der Raum von Stille eingenommen wurde. Meine Wahrnehmung geriet unter einen dicken grauen Schleier und ich konnte mich nicht mehr daran erinnern nach Hause gefahren zu sein.
___
Zu der Beerdigung waren Nastie und ich allein. Wir hörten dem Pfarrer zu, der eine Rede hielt und legten Blumen auf den Sarg. Es war ein warmer Tag und die Sonne schien, doch für mich war alles grau.
Mein Vater war nicht gekommen. Vielleicht war das auch besser so. Die Blumen, die ich gekauft hatte, waren wunderschön. Wenn ich Ahnung von Blumensorten gehabt hätte, hätte ich mir all ihre Namen wahrscheinlich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. So erinnerte mich nur ihr Aussehen an die schönen Momente mit meiner Mutter.
Als wir den Friedhof verließen schwiegen wir. Nastie hatte geweint, doch ich hatte all meine Tränen schon in den letzten Nächten verbraucht. Ich war in einer Art Schockzustand und musste viel nachdenken.
Wie würde es jetzt wohl weitergehen?
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