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[166 Tage später]
In letzter Zeit hatte ich mehrmals versucht, Alan zu erreichen, aber ich schien es nicht zu schaffen oder er nicht zu wollen.
Ich hatte heute die Frühschicht im Restaurant erwischt, sodass es eher ruhig war. Nur noch ein Kommilitonen von mir, der hier arbeitete, war da.
,,Hey Chester", begrüßte er mich, als er zu mir in die Küche kam. Er hatte eine weiße Schürtze um und seine roten Locken waren wild durcheinander.
,,Hey Gary", erwiderte ich.
,,Ich hab das mit deinem Vater gehört. Tut mir leid", sagte er.
,,Halb so schlimm. Er wird wieder gesund. Heute Nachmittag kommt er schon wieder raus. Und ein paar Tage ohne Alkohol und unter Aufsicht von Erwachsenen haben ihm vielleicht auch mal gutgetan. Schließlich ist er im Krankenhaus."
Er nickte.
,,Hast du dich gut auf die Abschlussprüfung heute Nachmittag vorbereitet?", fragte er dann.
,,Ich hoffe es", antwortete ich.
,,Ich habe nochmal die ganze Nacht durchgelernt", erklärte er, während er demonstrativ gähnte.
___
Als ich in den Prüfungssaal kam, vibrierte mein Handy kurz. Ich sah drauf: Eine neue Nachricht von Unbekannt.
Ich klickte mit zittrigen Fingern darauf.
Hey Chester, ich kann verstehen, dass du mit mir nicht reden willst, trotzdem würde ich dir gerne etwas sagen.
Achja... Hier ist Alan. Ich habe eine neue Nummer.
Daraufhin folgte eine Sprachnachricht.
Als ich kurz vom Handy aufsah, stand eine meiner Dozentinnen vor mir. ,,Ich muss Sie bitten, das Handy bei mir abzugeben", sagte sie und streckte ihre Hand aus. Dabei sah sie mich streng durch ihre runde Brille an. Ich musterte sie ebenfalls kurz und schaltete dann das Handy aus, bevor ich es auf ihre Hand legte.
___
,,Und? Wie lief's?", fragte Gary mich, als wir den Saal verließen. Ich war etwas irritiert, dass er mit mir sprach, denn wir hatten, außer bei dem Job, nichts miteinander zu tun.
,,Ich... Keine Ahnung", antwortete ich während wir weiter in Richtung Ausgang liefen.
Das war gelogen. Ich musste die ganze Zeit an Alans Nachricht denken und konnte mich nicht auf die Fragen konzentrieren. Ich wusste, dass ich nicht bestehen würde.
,,Ach komm schon. Irgendein Gefühl musst du doch haben", fragte er weiter.
,,Nein", erwiderte ich.
,,Chester..."
,,Nein, Gary!", rief ich auf einmal und schmetterte meinen Rucksack in seine Richtung, den er erschrocken abwehrte, sodass er auf den Boden fiel. Ich selbst war überrascht über meine plötzliche Reaktion. ,,Tut mir leid", sagte ich dann in einem etwas ruhigeren Tonfall.
,,Mh", war seine einzige Reaktion. Doch bevor er von mir wegging, sagte er noch etwas: ,,Das Restaurant entlässt Leute. Ich hatte heute schon einen Brief im Briefkasten. Du solltest vielleicht auch mal bei dir nachsehen."
Als er verschwunden war, hob ich meinen Rucksack wieder auf. Mir fiel wieder ein, dass ich mein Handy achtlos hineingeworfen hatte, als ich es wiederbekommen hatte.
,,Mist, mist", murmelte ich, als ich es herauskramte.
,,Oh nein." Das Display war zersplittert. Ich versuchte es anzuschalten, jedoch reagierte es nicht. Ich stöhnte. Na toll.
Auf dem Rückweg nach Hause dachte ich nach. Was hatte mir Alan mit seiner Nachricht sagen wollen? War ihm vielleicht zuvor ähnliches mit seinem Handy passiert? Sollte ich bei seinem Haus vorbeigehen und einfach klingeln? Bis jetzt hatte ich mich nicht wieder getraut.
Ich beschloss, dass es eine gute Idee war, auch wenn ich Angst davor hatte.
Bevor ich zu Alan kam, kam ich an meinem eigenen Haus vorbei. Ich schaute in den Briefkasten, wie es Gary mir empfohlen hatte und tatsächlich war ein Brief vom Restaurant darin.
Ich öffnete ihn.
'Kündigungsschreiben', stand in fetten Lettern ganz oben auf der Seite geschrieben.
Mist. Ich schlug mit einer Faust so fest auf den silbernen Briefkasten, dass er von seiner Halterung auf den Boden fiel, doch ich ignorierte ihn einfach.
Ich machte mich auf den Weg zu Alan.
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich auf die Klingel drückte.
Madeline machte auf. ,,Hallo?", fragte sie.
,,Hallo, ich bin Chester Laurens", stellte ich mich vor. ,,Ist Alan da? Wir kennen uns von der Arbeit."
,,Ja, ich hole ihn kurz", erwiderte sie und verschwand wieder im Haus.
___
,,Was zum Teufel machst du hier?", fragte Alan mich, als er vor mir stand. Er hatte die Tür hinter sich verschlossen und wir standen in seinem Vorgarten.
,,Ich wollte mit dir reden", erwiderte ich.
,,Ja, aber nicht hier, nicht jetzt", sagte er und fasste sich an den Kopf. ,,Madeline ist da. Geh nach Hause."
,,Ich... Alan..." Ich senkte den Kopf. ,,In Ordnung."
___
Auf dem Rückweg ging mir viel durch den Kopf - noch mehr als sonst. Ich dachte über meinen momentanen Zustand nach.
Ich fasste einen Entschluss.
Mir fiel nur ein Gebäude in der Stadt ein, das mehr als sechs Stockwerke hatte. Ein Hotel in der Innenstadt. Ich war noch nie darin gewesen, aber ich wusste, wie ich hineinkommen würde.
Ich hatte in meinem Auto noch eine neongelbe Warnweste, die ich mitnahm und überzog. Danach holte ich mir noch eine Leiter aus der Garage und fuhr zum Hotel.
An der Rezeption stellte ich meine Leiter in eine Ecke und ging zu der Rezeptionistin, die hinter dem Tresen saß und mich die ganze Zeit beobachtet hatte.
,,Hallo, man hat mich vor kurzem angerufen. Ich wollte mich nur anmelden", sagte ich und deutete auf die Leiter.
,,In Ordnung", sagte sie. ,,Darf ich fragen, was sie reparieren sollen?"
,,Die Lüftung im vierten Stock", erwiderte ich.
,,Nehmen Sie den Fahrstuhl zur vierten Etage. Wenn Sie rauskommen, gehen Sie rechts den Gang entlang, dann treffen Sie auf die Lüftung", erklärte sie mir.
,,Danke", sagte ich, ergriff meine Leiter und ging zum Fahrstuhl.
___
Angekommen im obersten Stockwerk stellte ich meine Leiter ab und zog die Warnweste aus. Ich legte sie über eine der Sprossen. Es war noch einfacher gewesen als ich mir vorgestellt hatte.
Ich suchte eine Weile bis ich einen Aufgang zum Dach fand. Natürlich war die Tür dorthin abgeschlossen und sie war näher am Fahrstuhl, als ich gedacht hatte.
Ich wusste nicht warum, aber als Teenager hatte ich mir selbst beigebracht Schlösser zu knacken. Eigentlich dachte ich, dass diese Fähigkeit niemals brauchen würde, aber es stellte sich nun als ziemlich nützlich heraus.
Meine Eltern, vorallem mein Vater, waren immer genervt davon gewesen, dass ich mich für so viele Sachen interessiert hatte. Besonders für Sachen, die unnütz waren, aber ich hatte mich nie davon abbringen lassen.
Ich war etwas aus der Übung, sodass ich eine Weile brauchte. Noch dazu kamen immer wieder Hotelgäste an mir vorbei, durch die ich meine Arbeit unterbrechen musste.
Fast hatte ich es geschafft, da sprach mich jemand an: ,,Entschuldigen Sie?" Ich erschreckte mich fast zu Tode, was unter gegebenen Umständen vielleicht gar nicht so schlecht gewesen wäre.
,,Ja?", fragte ich und drehte mich langsam um. Ein zierlicher Mann, in den Enden seiner vierziger Jahre, stand vor mir.
,,Könnten Sie vielleicht Ihre Leiter dort drüben zur Seite stellen? Sie blockiert unseren Zugang zum Vorratsraum der Putzgeräte", erklärte er.
,,Oh ja, kein Problem", antwortete ich und holte die Leiter ein Stück näher zu mir, weg von der Tür.
,,Danke", sagte der Mann und verschwand in dem Raum. Die Anspannung fiel langsam wieder von mir ab und mein Herz beruhigte sich wieder.
Als ich die Tür schließlich aufbekam, atmete ich erleichtert aus. Die kühle Brise wehte durch meine Haare und ich schloss die Tür wieder hinter mir, nachdem ich hindurchgegangen war.
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