> Sechstes Kapitel <
In Stewards Haus roch es sauber. Die braunen Dielen glänzten, als wären sie frisch poliert worden. Grace vermutete, dass Mrs. Steward eine typische Hausfrau war, die sich einzig und allein um das Wohlergehen ihrer Wohnstätte kümmerte. Der Verlust ihres Mannes musste sie daher umso härter getroffen haben. Sie hatte niemanden mehr, der sich ums Finanzielle kümmerte.
„Setzten Sie sich doch", bot die rothaarige Frau an. Ihr Gesicht schien in den letzten Minuten eingefallen und grau geworden zu sein. Sie wirkte um einige Jahre älter, als sie tatsächlich war. Aus der aufgeweckten Person war ein trauerndes Bündel geworden. Doch wer sollte es ihr verübeln? Immerhin war sie bereit dazu, mit den beiden - zu Graces Groll noch immer angehenden - Detektiven zu sprechen.
Lächelnd nahm Mabery auf der altmodischen Couch Platz. Der Stoff war von einem verwaschenem Orange und wurde von einem verschlungenen Blumenmuster geziert. Grace ließ sich ebenfalls darauf fallen, jedoch wahrte sie Abstand von ihrer Kollegin. Mrs. Steward kauerte sich auf einen Sessel ihnen gegenüber.
„Ist ihre Tochter auch da?", wollte Grace wissen. Sofort zuckte sie zusammen. Vielleicht sollte sie etwas mehr Mitgefühl zeigen.
Doch der Frau schien ihr Versehen gar nicht aufgefallen zu sein. „Nein, die ist noch in der Schule."
Grace nickte. Das hatte sie vermutet.
Vorsichtig tastete Mabery sich an die hilfreicheren Fragen vor. „Wann haben Sie ihren Mann denn das letzte Mal gesehen?"
Mr. Steward schluckte schwer. Sie konnten es wohl immer noch nicht glauben, dass sie ihn tatsächlich nie mehr lebend sehen würde. „Gestern... Gestern Morgen, als er zur Arbeit ging...", stotterte sie bedrückt.
„Und ihnen kam es nicht komisch vor, dass er abends nicht zurückkehrte?", harkte Grace nach.
Zaghaftes Kopfschütteln. „Nein, er bleibt... blieb oft mehrere Tage in seinem Büro. Wenn er einmal in einer Ermittlung steckt, hört er nicht so schnell wieder auf. Er wird manchmal sogar richtig besessen..." In einem schwächer werdenden Murmeln verebbte der Satz.
Grace kannte dieses Verhalten von ihrem ehemaligen Chef nur zu gut. Die Beschreibung passte, soviel war sicher. Sie erinnerte sich daran, wie oft er barsch nach einem Kaffee verlangt hatte und sie nichts tun konnte, als besorgt die dunklen Räder unter seinen Augen zu mustern. Doch Steward war stur gewesen. Stur und herrisch. Fast schon meinte Grace einen Stich in ihrem Herzen zu verspüren, als ihr klar wurde, dass sie nie wieder seine kratzige, befehlende Stimme hören würde. Doch genauso schnell wie er gekommen war, schüttelte sie den Gedanken wieder ab. Sie mochte diesen Kerl nicht und war sogar ein wenig erleichtert, dass sie ihm nun nicht mehr unterlegen war. Doch wer wünschte seinen Arbeitskollegen schon den Tod auf solch eine morbide Weise? Mit einer Vase erschlagen. Sie sah schon die Schlagzeile vor sich. Unwillkürlich schlich sich ein Grinsen auf ihr Gesicht. Als sie bemerkte, wie unpassend es in diesem Moment scheinen musste, setzte sie rasch wieder eine ernste Miene auf. Auch wenn er nicht immer der netteste gewesen war, würde sie den alten Kauz vermissen. Leise stieß sie die von dem Geruch nach Putzmittel durchsetzte Luft aus ihren Lippen.
„Hatte er irgendwelche Feinde?" Mabery hatte begonnen sich Notizen zu machen.
Langsam hob Mrs. Steward den Kopf. „Soweit ich weiß nicht. Er hat sich immer mit seiner Arbeit beschäftigt, kannte kaum jemanden." Ihre Stimme wirkte monoton, ihr Ausdruck leer. Die anfängliche Trauer hatte sich in ein stummes Leiden gewandelt. Es war, als hätte sie ihr Leben aufgegeben.
In Graces Kopf formten sich ein paar spärliche Puzzleteile. Sie sollten sich eher auf Stewards Arbeitsumfeld konzentrieren, als sein Privatleben. Denn offenbar hatte er kaum eines besessen. Schon zu seinen Lebzeiten schien es seine Familie belastet zu haben, dass er so selten da war. Grace kannte das nur zu gut von sich selbst. In ihrer WG war sie nur um zu schlafen und selbst dabei blieb sie in ihrer Arbeit vergraben. Es hatte sich eine Art Panzer um ihren Geist gebildet, der nichts als den Beruf zuließ. Eines stand fest: Eine Familie wie Steward sie hatte, war nichts für sie. Das war es auch nicht für ihn gewesen. Er hatte damit nur Menschen verletzt.
Mabery hatte wohl beschlossen, dass keine relevanten Informationen mehr aus Mrs. Steward herauszubekommen waren, denn sie begann ihren Stift wieder einzupacken.
Auch Grace richtete sich auf und versuchte Mrs. Steward ein letztes, anteilnehmendes Lächeln zu schenken. „Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, können Sie mich - oder meine Kollegin - gerne kontaktieren." Sie schob ihr eine Karte zu, auf die sie vor Jahren mal ihre Telefonnummer hatte abdrucken lassen.
Schwach nickend wurde das Kartonstück entgegengenommen. „Das werde ich."
„Danke für Ihre Kooperation, Sie haben unser vollstes Mitgefühl", schob Mabery noch hinterher, ehe sie sich zur Tür wandte.
Der Regen war stärker geworden. Laut platschten Wassertropfen auf die Straße und es hatten sich bereits einige Pfützen gebildet. Grace und Mabery beeilten sich, das Auto zu erreichen. Der kühle Herbstwind zerzauste Graces Haare. Schnell zog sie die Tür des silbernen Wagens hinter sich zu. Wie schon auf der Hinfahrt nahm Mabery auf der Fahrerseite Platz.
Sie redeten nicht viel. Jeder machte sich seine eigenen Gedanken über die neu gewonnenen Informationen von Stewards Frau. Grace nahm sich vor, heute Mittag nochmal zu dem schicken Haus zu fahren, um auch die Tochter befragen zu können. Vielleicht wusste sie ja noch etwas, was ihre Mutter nicht wusste. Grace war jedenfalls klar, dass so ziemlich alle Mitarbeiter der Detektei Steward unter Verdacht standen, den Chef getötet zu haben. Das bedeutete auch Mabery und sie selbst.
Als hätte die blonde Frau ihre Gedanken gelesen, schlug Mabery mit unruhiger Miene vor: „Am besten wir erstellen eine Liste von allen Mitarbeitern und befragen sie, wo sie zur Tatzeit waren." Sie trommelte einige Male mit den Fingerkuppen auf dem Lenkrad herum.
Etwas ähnliches hatte Grace sich auch schon überlegt. „In Ordnung." Ihr war zwar bewusst, wie langwierig dieses Verfahren werden konnte, doch sie hatten leider keine andere Wahl. Sämtliche Personen, die Zutritt zur Detektei hatte, musste einzeln befragt werden. Da sich bisher noch kein Tatmotiv etabliert hatte, konnten keine Ausschlüsse getätigt werden. Quasi jeder, der eine Vase anheben konnte, hätte auch den Mord begehen können.
Ein leichter Ruck ging durch das Fahrzeug, als Mabery die Bremse zog. Graue Regenwolken wölbten sich über dem ebenfalls grauen Gebäudekomplex. Grace streifte sich ihre Kapuze über und huschte über den nassen Parkplatz ins Innere. Dort wartete sie auf Mabery, die noch damit beschäftigt war, ihr Auto abzuschließen. Jetzt, wo hier anscheinend sogar Mörder herumzulaufen schienen, konnte man nicht vorsichtig genug sein.
Ein eiskalter Schauer lief Grace den Rücken hinunter. Was, wenn Steward nicht das einzige Opfer blieb? Sie musste auf der Hut sein.
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