6 - Die Worte des Drachen
Magisches Erbe
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Kapitel 6
Vin ließ sich den Wind ins Gesicht peitschen. Immer wieder flatterten ihre Haare in ihr Sichtfeld, doch das veranlasste sie nur, das Gesicht umso mehr in den Wind zu strecken. Jede Brise, die etwas von den Schatten, die auf ihr lasteten, mitnahm, war ihr willkommen.
Sie war an dem Mast emporgeklettert und saß nun auf dem untersten Querbalken und ließ ihre Beine baumeln. Anfang war sie ein wenig unsicher dort gewesen und hatte sich die ganze Zeit festgehalten. Eine dünne Stange war doch etwas anderes als ein Drache mit seinen Stacheln, an denen man sich festhalten konnte. Doch nach einiger Zeit hatte sie sich daran gewöhnt, genoss den Blick über das Hinterdeck, Atlas und die Strömungen des Wassers, die sich hinter Atlas bildeten. Und wenn sie die Augen schloss, dann stellte sie sich für einen herrlichen kleinen Moment vor, dass es nicht Segel waren, die sich gegen den Wind aufblähten, sondern weite, lederne Flügel, die sie über das Meer trugen.
Sie wurde weitestgehend in Ruhe gelassen. Die Matrosen kamen nicht zu ihr hochgeklettert, Atlas hatte seine Augen geschlossen und versuchte, ein wenig Kraft zu tanken. Einzig Kallias suchte sie auf und sie betrachtete seine Versuche, an den Strickleitern emporzuklettern.
Vin hatte bei Atlas geschlafen, während Kallias ihre Kajüte aufgesucht und sich dort in die Hängematte gelegt hatte. Sie streckte die Hand nach ihm aus, als er sich auf ihre Beine hockte und fuhr ihm langsam mit der Hand über den Rücken. Während ihre Finger über die Schuppen glitt, entstanden Bilder vor ihrem inneren Auge. Sie sah sich selbst und sie sah Atlas, der neben ihr riesenhaft aussah und die Sonne verdeckte. Und dann sah Vin, wie sie sich selbst den Rücken zuwandte und ihre Hand an Atlas' Kopf legte.
»Es tut mir leid«, murmelte sie. Jetzt konnte sie verstehen, warum der Drache sich kaum gezeigt hatte, seit sie Atlas wiedergefunden hatte. Er musste sich schrecklich fühlen, wenn sie all ihre Aufmerksamkeit auf den älteren Drachen richtete. Er war Atlas, ihr Atlas, und mit ihm vergaß sie die ganze Welt um sich herum. Vergaß, was auch der Jungdrache und sie durchgemacht hatten.
Kallias drückte seinen Kopf gegen ihre Hand und verharrte für eine Weile in dieser Position. Als er beschloss, dass ihm das zu langweilig war, sprang er von ihrem Schoß, wobei Vins Herz einmal kurz stehenblieb. Dann hockte er sich neben ihr hin, setzte seine Füße nebeneinander, bis er seine Flügel ausbreiten konnte, ohne dass diese Vin die Sicht versperrten. Er hob nicht ab, versuchte nicht, erneut zu fliegen, sondern fing nur den Wind in seinen Schwingen ein. Und sie konnte in seinen Augen sehen, wie er sich fühlte. Wie auch sie sich gefühlt hatte, als sie zum ersten Mal geflogen war. Was für ein Wunder, dass Kallias das Fliegen nicht als selbstverständlich nahm und sich ebenso darüber freute wie jemand, dem diese Fähigkeit nicht angeboren war.
»He, Leichtmatrosin!«
Vin hob ihren Kopf und sah die Kapitänin zu ihrer Seite am Ende des Balkens, auf dem sie saß.
»Wir steuern auf die letzten Inseln zu. Und bei dem, was der Drache da macht, wäre ich vorsichtig. Eine starke Böe und er kippt nach hinten weg«, sagte die Ältere und war durch den Wind nur schwer zu verstehen.
Vin nickte und warf der Kapitänin ein kurzes Lächeln zu. »Danke.« Und dankbar war sie wirklich. Sie konnte kaum etwas bieten als Gegenleistung für die Hilfe, dafür, dass sie hatte mitfahren dürfen, ohne irgendwas an Gold bezahlen zu müssen. Sie hoffte, sich eines Tages revanchieren zu können.
Vorsichtig stand sie auf und spürte, wie der Wind sie von dem Mast drängen wollte. Schnell bückte sie sich, hob Kallias auf und versuchte dann, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Eine Idee tauchte am Rande ihrer Gedanken auf, eine waghalsige, irrsinnige Idee, die sie sofort wieder verwarf, die sie gar nicht erst zu Ende dachte. Vielleicht würde ihre Magie ihr Flügel verleihen und sie in die Lüfte heben.
In ihren Gedanken war sie frei und konnte fliegen. Aber sie war nicht in ihren Gedanken und musste sich der Realität stellen, in der sie fallen und fallen und sich verletzen würde.
Aber es war auch die Realität, in der Atlas wieder an ihrer Seite war. Und es war kein Traum, dass er zu ihr gehörte. Sie lehnte sich gegen seinen Hals und erlaubte es Kallias, wieder auf ihren Schoß zu klettern.
»Wie geht es deinen Flügeln?«, fragte Vin. Atlas atmete heftig aus, woraufhin sich das Segel noch etwas weiter spannte und das Schiff für einen Moment über den Wellen zu schweben schien.
»Nicht viel besser. Es hilft auch nicht unbedingt, sie in dieser unbequemen Position zu halten«, sagte er und Vin konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Atlas konnte es nicht sehen, aber es machte sie glücklich, ihn nörgeln zu hören. Sie spürte es in ihrem Bauch rumoren und bis in ihren Kopf steigen, ein Gefühl der Wärme. Beinahe hätte sie ihn geneckt, dass er auf seine alten Tage doch nicht so jammern sollte, aber sie wollte den Moment einfach nur genießen.
»Hast du dir eigentlich überlegt, wie du von dieser Insel aus weitermachen willst?«, fragte Atlas.
Nein, hatte sie nicht. Atlas würde sie nicht bis zum Festland fliegen können, nicht in seiner aktuellen Verfassung. Sie musste zugeben, dass sie ein wenig gehofft hatte, dass sie in dem einen Tag und der Nacht, die sie unterwegs gewesen waren, mehr Kraft getankt hätten, sowohl sie als auch Atlas. Aber sie spürte immer noch die Schmerzen in ihren Gliedern, das Feuer, das in ihr tobte und sah den letzten Hauch ihrer Magie vor sich, wenn sie die Augen schloss.
»Erst einmal war es mir wichtig, dass wir beide nicht auf der Insel bleiben. Ich finde, du siehst schon viel besser aus, seit sie aus unserem Sichtfeld verschwunden ist«, meinte Vin. Natürlich sah man Atlas immer noch an, was er durchgemacht hatte. Offene Wunden, die einige der Matrosen zumindest mit etwas Alkohol gereinigt hatten, matte Schuppen, Flügel, die in einem unnatürlichen Winkel abstanden. Am schlimmsten aber fand sie die Stumpfheit in seinen Augen. Würde das Feuer irgendwann in diese goldenen Scheiben zurückkehren?
Vin schloss ihre Augen. »Weiter habe ich nicht geplant. Ich wusste nur, dass du dann wieder an meiner Seite bist und ich dann alles schaffen kann.«
Der Abschied ging schnell vorüber.
Vin wünschte der Kapitänin alles Gute und versicherte ihr noch einmal, dass sie zurecht kommen würde. Dann legte sie das letzte Seil, das sie losgebunden hatte, auf einen der Haufen aus Seilen. Ohne einen Blick zurück verließ sie das Schiff.
Als sie den ersten Schritt auf die Insel setzte, spannte der Jungdrache auf ihren Schultern seine Flügel, als wolle er noch einmal das Segel nachempfinden, das bald wieder dem Wind standhalten würde. Vin nutzte diesen Moment, um sich noch einmal umzudrehen und der Kapitänin samt Mannschaft zuzuwinken.
Einige Hände hoben sich, dann wandten sie sich wieder ihren Tätigkeiten zu, zogen an Seilen, schoben sich die Strickleitern empor oder trugen Dinge über Bord. Vin blieb am Rande der Insel stehen, bis die Mannschaft das Schiff wieder in Bewegung setzte und es sich langsam von ihnen entfernte. Dann erst wanderte ihr Blick weiter zu Atlas, der im seichten Wasser stehen geblieben war.
Die seichten Wellen brachen an seinen Schuppen. Der Fels in der Brandung, der er für sie war. Sein Blick richtete sich auf sie. Vin hielt seinem Blick stand.
»Das war demütigend«, sagte Atlas. Seine Stimme war so klar in ihren Gedanken, auch wenn das Meer sie trennte.
»Sagtest du bereits. Tut mir leid, aber es gab keine andere Möglichkeit. Kommst du jetzt an Land?«, fragte Vin und musste sich Mühe geben, ihre Stimme ruhig zu halten. Alles in ihrem Körper war angespannt. Sie war an einem Punkt angekommen, an dem sie nicht wusste, wie sie weitermachen sollte. Immer war da etwas gewesen, das sie doch gestützt hatte. Kalea und Zara nach dem Tod ihrer Eltern. Atlas, als sie sich dem alten König gegenübergestellt hatte. Ihre Magie, als sie sich in der Drachenfeste behaupten musste. Der Gedanke, mit Atlas nach Hause zurückkehren können. Aber hier? Auf einer einsamen Insel mitten im Meer, ohne eine Möglichkeit, von hier wegzukommen? Wer sollte ihr jetzt noch helfen können?
»Ich habe es für dich getan.« Diese Worte kamen für Vin unerwartet. »Ich wollte leben - für dich.«
Er öffnete seine Gedanken für sie. Er alleine auf dieser Insel. Den Launen der Echse ausgesetzt. In Schmerzen. Die Drachen, die er mal gekannt hatte, waren nicht mehr. Er wurde nicht mehr verehrt wie ein Gott. Und als nichts von all diesen Dingen mehr wichtig schien, war da nur noch sie selbst.
»Ich war kurz davor aufzugeben. Dann habe ich deine Magie gespürt.« Schwere Worte für einen Drachen, der Jahrtausende gelebt hatte. Der sich nie verletzlich zeigen konnte.
Vin presste ihre Lippen aufeinander. Seine Worte berührten ihr Herz, nahmen all die zerstobenen Splitter und setzten es wieder zusammen, Stück für Stück.
»Du und ich für immer, Vin, weißt du noch? Ich habe es nicht vergessen, nicht eine Sekunde lang.«
Sie erinnerte sich. An die verregnete Nacht, an das Glühen in ihrem Bauch vor Glückseligkeit und an die Gedanken, die Atlas und sie geteilt hatten. Wie könnte sie es jemals vergessen?
»At«, konnte sie nur sagen, ehe ihre Stimme brach. Dann setzte sie Kallias ab und stapfte in die Wellen und auf Atlas zu.
Vom Wasser aus war es etwas einfacher, eine der Stacheln auf Atlas' Rücken zu greifen und sich daran hochzuziehen. Sie beugte sich an dem Stachel vorbei und lehnte ihren Kopf gegen seinen Hals. Mit ihren Fingern strich sie über seine Schuppen. Und dann schloss sie ihre Augen und konnte diesen Moment mit Atlas zum ersten Mal seit Langen auskosten. Sie musste nicht an die Drachenseelen denken, nicht an ein Königreich, nicht an die Feuerechse. Sie wollte, dass dieser Moment nie endete.
Vin atmete einmal tief ein, atmete Atlas' Magie und Stärke ein, die er verströmte. Sie verharrte so lange dort oben, bis ihr seine Präsenz nicht mehr fremd vorkam. Bis sie sich wieder daran erinnerte, was es hieß, den Mut einer Drachenreiterin zu besitzen. Bis sie die Welt wieder von oben und mit ein bisschen Abstand betrachten konnte.
Langsam ließ sich Vin wieder von Atlas' Rücken gleiten und find sofort an zu zittern. So weit draußen war das Meer eiskalt. Warum ihr das nicht aufgefallen war, als sie auf Atlas zugestürmt war, wusste sie nicht. Schnell watete sie hinaus. Mit Hitze konnte sie umgehen. Mit Kälte machte ihr zu schaffen, selbst dann noch, als sie wieder an den flachen Klippen stand, den glatten Felsstrand, der die diese Insel umrandete.
Vin sah sich um. Die Bäume schossen aus Felsspalten, dicht bewachsen bis auf die versengten Kronen, Büsche bedeckten fast die ganze Insel, soweit Vin sehen konnte. Laut der Kapitänin war diese Insel einst kahl gewesen und ist erst seit Kurzem so üppig bewachsen. Doch es waren keine jungen Bäume, die ihre Äste zur Sonne reckten, sondern welche mit breiten, abblätternden Stämmen, die aussahen, als hätten sie schon mehr Jahrzehnte erlebt als Vin.
Magie hing in der Luft, das spürte Vin ganz deutlich, und sie zog sie zum Herzen der Insel, durch das Unterholz hindurch.
»Lass uns nachsehen, was sich auf dieser Insel verbirgt«, meinte Vin. »Dann gucken wir, wie wir nach Hause kommen.«
Nach Hause, nach Hause. Ein Ort, der unendlich weit entfernt schien und doch mit jedem Schritt näher rückte. Und sie war fest entschlossen, irgendwann anzukommen. Mit Atlas an ihrer Seite.
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