3 - Die Kanonen des Drachen
Magisches Erbe
———
Kapitel 3
Es war so still, dass Vin den Wind hören könnte, der zwischen den Inseln durchzog. Der die Wellen zum Rauschen brachte und den Sand am Strand der Insel zum Aufstauben. Sogar Kallias, der sich in einer kleinen Felsspalte auf einem Vorsprung versteckt hielt, gab kein Geräusch von sich.
Doch so leise sie auch sein mochten, sie konnten kaum rechtzeitig die Ankunft der Feuerechse hören. Sie schob sich leise schlängelnd auf der anderen Seite der Felsen empor und es war nur Atlas' Geruchssinn zu verdanken, dass Vin davon erfuhr. Sofort waren beide auf den Beinen.
Dann schob sich ein dunkler Körper über die Bergspitze und verdunkelte für eine kurze Sekunde die Sonne, die sich langsam, beinahe unbemerkt, herabgesenkt hatte.
Vin spürte, wie sie begann leicht zu zittern. Schon wieder. Doch zum ersten Mal konnte sie der Feuerechse in die Augen blicken. Nicht wie zuvor, wo nur gezählt hatte, dass sie überlebte und den Angriffen auswich. Jetzt wartete sie auf die Feuerechse. Erwartete sie. Es waren Augen, die ähnlich wie die von Atlas oder Kallias geformt waren. Doch sie waren nicht leuchtend hellgolden, sondern von einem dunklen Goldton, der aussah, als würde er brennen.
Atlas neben ihr kauerte sich hin, bereit, zuzuschlagen oder auszuweichen. Selbst aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie unsicher er auf seinen Beinen stand. Ob er so ein Gefühl wie Angst überhaupt kannte?
Vin hob ihre Hände. Spürte, wie blasse Ströme aus Magie durch sie fuhren und sich zwischen ihren Fingern sammelten. Sie hatte nicht darüber nachdenken wollen, wie viel von ihrer Magie sie gegeben hatte und wie kurz sie davor gewesen war, dass das leuchtende Leben in ihr verblasste, doch dann sah sie die blassen Funken, die auf ihren Handflächen tanzten. Die sofort wieder verglühten. Das war das, was von ihrer Magie übrig geblieben war. Die Nacht hatte kaum gereicht, dass sie sich komplett erholen konnte.
Doch Vin hatte ihre Entscheidung bereits getroffen. Sie würde sich nicht zurückhalten. Nicht, wenn sie dadurch Atlas helfen und Kallias schützen konnte. Wenn die beiden eines Tages zusammen durch die Lüfte fliegen würden, dann war es das wert. Ein Schutzschild flammte in dem Moment vor ihnen auf, in dem die Feuerechse auf sie zusprang.
Ein lautes Beben fuhr durch die Erde und die Luft und alle Härchen auf Vins Armen stellten sich auf. Der Schutzschild aus Magie brach in sich zusammen und die Feuerechse schüttelte ihren Kopf und war einige Schritte zurückgeworfen worden. In diesem Moment stürmte Atlas vor und Vin konnte kaum zusehen, was passierte, so schnell wie der Drache war. Atlas war so groß und so uralt, dass sie eine derart schnelle Bewegung nicht erwartet hatte. Vielleicht war die Zeit, die sie getrennt gewesen waren, auch schon zu lange gewesen, sodass sie langsam vergessen hatte, wie seine Stimme klang, wie er sich bewegte, was er in welchem Moment dachte.
Die dunkelgrauen Schuppen, die den Körper der Echse bedeckten, verschmolzen mit den grauen und schwarzen Brocken unter ihm. Vin wünschte sich, der Boden würde sich auftun und die Echse verschlingen. Doch sie blieb, dunkler Schatten auf dunklem Boden und rappelte sich langsam wieder auf. Ein tiefes Fauchen schoss aus der Kehle der Echse und Vin riss schnell ihre Hände wieder in die Höhe, um einen weiteren Schutzschild zu schaffen. Sie hatte, seit sie sich an Bord des Schiffes begeben hatte, so oft diese schützende Art der Magie verwendet, dass sie nun nicht mehr darüber nachdenken musste, dass sie nicht länger den Schild umständlich weben musste und die Form fest vor ihrem inneren Augen haben musste.
Innerhalb von dem Bruchteil eines Augenblicks schimmerte zwischen der Echse und Atlas und ihr ein neuer Schutzschild, nicht mehr so flammend und dicht wie beim ersten Mal, aber immerhin. Er hielt stand, als die Echse sich einmal drehte und dann mit den langen Schwanz und voller Wucht dagegenschlug.
Er brach ein, als sie erneut darauf zurannte.
Vin konnte ihre Arme nicht mehr hochhalten und sie fielen zurück an ihre Seite. Mit ihnen fiel auch der Schild.
Doch Atlas wartete schon auf die Echse, öffnete sein riesiges Maul und bekam die schlanke Echse am Hals zu fassen.
Vin konnte beinahe hören, wie sich Atlas' Zähne in das Schuppenkleid der Echse bohrten, den Hals immer fester umfassten und zudrückten.
Sie merkte, dass sie begann zu zittern. Sie hatte es vergessen. Sie hatte vergessen, was für eine raue Gewalt der Drache war gegenüber jenen, die ihm nicht wohlgesinnt waren. Er hatte sie nie verletzt außer mit Worten, die schärfer schnitten als seine Krallen. Doch jetzt, nachdem sie ihre Verbindung verloren hatten und einander ewig nicht gesehen, was würde ihn davon abhalten, sie zu behandeln wie jeden anderen auch?
Sie drängte den Gedanken beiseite und dachte an seine Worte. »Lass uns wieder reden, bis die Sterne am Himmel stehen.« Wenn sie den Tag überlebten und den Folgetag und den Tag darauf, dann konnten sie das vielleicht endlich tun. Und dann würde es vielleicht nach und nach verschwinden, dieses eigenartige Gefühl zwischen ihnen, dass sie sich verändert hatten und nicht mehr sicher waren, ob sie einander noch kannten.
Stattdessen versuchte sie an Feuer zu denken, lodernde, brennende Flammen, die wüteten und Zerstörung suchten, wie diese, die das Haus ihrer Eltern gemeinsam mit ihnen niedergebrannt hatten, wie solche, denen sie auf dem Marktplatz des einen Dorfes auf dem Weg hierher ausgeliefert gewesen war.
Eine kleine Flamme begann auf ihren Handflächen zu tanzen, flackernd nur, ein fahles Abbild des zornenden Tosen, zu dem es wachsen konnte. Doch sie hatte schon früh gelernt, das wertzuschätzen, was sie hatte und so schleuderte sie die Flamme auf die Echse. Feuer würde ihr nichts anhaben können. Doch Feuer, geschmiedet aus Wut und Verzweiflung, das die Echse über den Augen traf, brachte die Kreatur zum Fauchen und lenkte sie ab. Lenkte sie genug ab, dass Atlas seine Zähne noch tiefer in den Hals bohren konnte und seine riesige Klaue um den Leib der Echse schließen konnte.
Vins Beine gaben nach und sie fiel auf ihre Knie. Mehr konnte sie nicht tun. Die Schutzschilde und ihre letzte Flamme war viel Magie gewesen, die sie auf einmal gewirkt hatte. Sie fühlte sich ausgebrannt. Ihre Magie war nicht stark genug. Nicht so wie damals, als sie mit dem Feuer spielen konnte, wie sie wollte. Jetzt verließ es sie.
Auch Atlas schnaubte heftig und sie konnte spüren, wie sein heißer Atem über die Steine fegte. Er wurde müde. Er war müde. Sie wollte nicht wissen, wann er das letzte Mal vernünftig geschlafen hatte. Wann und wie oft er gegessen hatte. Hier gab es keine Bergziegen, die er hätte reißen können und deren Milch er hätte trinken können.
Und dann ließ er von der Echse ab. Und Vin konnte nur beobachten, wie sie als dunkelgrauer Schatten davonhuschte. Sich über die hohen Felsen schleppte, bis sie nicht mehr zu sehen war. Vin atmete nicht auf, nicht bis endlose Augenblicke verstrichen waren und sie die Echse nicht mehr hörte.
Dann durchzog ein lautes Donnern die Stille, die sich breit gemacht hatte.
Vin blickte auf, doch der Himmel war nur durchzogen von hellroten Wölkchen, als hätte jemand einen Schleier hindurchgezogen und dabei seichte Spuren hinterlassen. Kein Gewitter, das ihnen grollte, das den Sturz eines Drachen begleitete.
»Was war das denn?«
Atlas hatte keine Antwort. »Lass uns nachsehen«, sagte er stattdessen.
»Ich...« Vin versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Ich weiß nicht, ob ich schon kann.« Da waren sie, die Worte, mit denen sie sich ihm auslieferte. Bei denen sie sich fragte, wie Atlas nun mit ihr umgehen würde. Doch sie hatte sie nicht zurückhalten können. Sie konnte nur an diese Schmerzen denken, die noch immer durch ihre Gliedmaßen jagten, ihre wunden Knie, diese Leere in ihr, wo früher die Magie wie ein brennendes Licht pulsiert hatte.
»Ich werde dich natürlich tragen«, meinte Atlas. »Auch wenn ich nicht mehr fliegen kann, werde ich dich an dein Ziel bringen, und wenn ich durch den Staub kriechen muss.«
Vin rief nach Kallias, der tatsächlich auf diesen Namen hörte und aus einer der Felsspalten hervorkroch, um zu ihr zu tapsen. Ein Ausdruck von Angst und Unruhe lag in seinem Blick und Vin wünschte sich, sie hätte ihn vor all dem bewahren können. Stattdessen legte sie ihre Hand auf den Boden und wartete, bis der kleine Drache über ihren Arm und auf ihre Schulter geklettert war und sich dort mit klammerndem Griff festhielt.
Dann ließ sich der Drache neben ihr nieder und lehnte sich zur Seite, gerade so, dass die langen, einst scharfen Stacheln auf seinem Rücken knapp über ihr schwebten. Sie waren abgestumpft, so wie auch seine Zähne und Klauen, von den endlosen Kämpfen, in denen er nicht wie früher allen überlegen war.
Vin griff danach, hakte ihren Arm ein und ließ sich dann auf Atlas' Rücken gleiten, als dieser wieder aufstand. Sie richtete sich auf, ihre Müdigkeit vergessen, nur noch eine pochende Erinnerung an den Schmerz. Sie saß wieder auf dem Rücken ihres Drachen. Da, wo sie hingehörte. Gedankenverloren ließ sie ihre Finger über Atlas' Rückgrat fahren, bis sie dort zum Liegen kamen, wo sie sich sonst auch immer festgehalten hatte. Ein Gefühl der Wärme durchströmte sie. All die letzten Monate, diese einsamen, harten, endlosen Monate waren nicht für nichts gewesen.
Sie war dankbar, dass Atlas für einen Moment verharrte, während ihr leise Tränen über die Wangen liefen. Ihre Finger griffen nun immer fester um die Stacheln, zum Festhalten und weil sie befürchtete, dass sie Atlas wieder verlieren würde, wenn sie ihn losließ.
Vin konnte es nicht in Worte fassen und auch Atlas schiweg. Ob er auch daran dachte, wie sie zum ersten Mal gemeinsam geflogen waren? Oder an ihren letzten gemeinsamen Flug, als sie beide noch dachten, sie würden sich in einigen Wochen vielleicht wiedersehen? Sie konnte es seinen Regungen nicht ablesen und seine Augen konnte sie von hier oben nicht sehen. Eine kleine Stimme in ihrem Herzen brüllte, dass sie dem Drachen nicht mehr jeden Gedanken ablesen konnte, dass sie einander fremd geworden waren, doch sie entschied sich, für den Moment nicht hinzuhören.
Und dann setzte Atlas sich auch schon in Bewegung. Vin klammerte sich weiterhin fest, so stark wie sie konnte, auch wenn sie natürlich wusste, dass Atlas sich nicht im nächsten Moment steil in die Lüfte erheben würde. Doch als er sich an den Felsen emporzog und sich seinen Weg zur Spitze des Felsenkessels suchte, wurde Vin genauso hin- und hergeworfen wie bei einem wilden Flugmanöver. Schon spürte sie ihre Beine und Arme über die Schuppen fahren und war froh über die Hose von Lloyds Vater und das Gewand, das Zara für sie angepasst hatte. Sonst wäre ihre Haut bereits jetzt hoffnungslos aufgerissen worden.
Als sie oben ankamen und Vin das Meer vor sich glitzern sah, durchzogen von feuerroten Streifen, glaubte sie zum ersten Mal seit der langen, dunklen Nacht daran, dass sie die Ereignisse im Felsenkessel irgendwann hinter sich lassen konnte.
Und dann riss sie die Augen auf. Sie wusste, was das Donnern verursacht hatte. Wusste, woher auch die weiteren langgezogenen, rumpelnden Geräusche kamen, als sie einen kleinen dunklen Schatten dorthin jagen sah, wo die Feuerechse gerade hinter dem Horizont verschwand. Ihr Blick wanderte weiter zu dem Schiff mit den vier Masten, das soeben einen weiteren Schuss abgab, auch wenn das Ziel bereits aus dem Sichtfeld verschwunden war.
Es dauerte nicht lange und war nur ein kurzer, aber sehr schaukeliger Weg, bei dem Vin mehrere Male beinahe heruntergefallen wäre, dann waren sie wieder unten am Strand. Atlas atmete schwer und auch Vin musste einmal tief durchatmen und konnte dann endlich ihre brennenden Hände von den Stacheln lösen. Sie hatte sich so lange nicht mehr auf Atlas' Rücken festhalten müssen, dass jede Bewegung ungewohnt wirkte und die Muskeln, um sich festzuhalten, hatte sie auch schon nicht mehr. Zumal Atlas auch nicht wirklich Rücksicht auf sie hatte nehmen können - vielmehr musste er beim Abstieg selbst darauf achten, keinen falschen Schritt zu machen, der ihn in die Tiefe befördert hätte, statt auf sie Rücksicht zu nehmen.
Vin hörte, wie die Kapitänin mit zwei weiteren Mitgliedern aus ihrer Besatzung auf sie zuging, allerdings mit ordentlich Abstand von ihnen stehenblieb und dann mit ihrer Begleitung darüber diskutierte, wer von ihnen denn nun den Kanonenschuss abgegeben hatte, der die Echse in die Flucht geschlagen hatte. Doch ihre Augen blieben auf den Horizont geheftet, den sie zum ersten Mal seit Langem wieder von dem Rücken eines Drachen sah. Auf einen Horizont, hinter dem für die nächsten Stunden erst einmal keine Gefahr lauern würde.
Hallo!
Danke, dass ihr noch dabei seid und die Geschichte verfolgt!
Funfact: Das letzte Kapitel hieß „Das Warten des Drachen" - und ihr musstet lange auf dieses Kapitel warten.
Die Kapitel werden erstmal auch nicht mehr jeden Sonntag kommen können. Den 1-Wochen-Rhythmus schaffe ich derzeit nicht. Danke für euer Verständnis!
Bis zum nächsten Kapitel!
- Danny
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro