28 - Die Überlegungen des Drachen
Verlorene Hoffnung
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Kapitel 28
Vin konnte den Mond nicht sehen, doch sie wusste, dass er noch irgendwo dort draußen am Himmel leuchtete. Am Horizont zeigte sich schon das erste Leuchten der Sonne, das die Sterne langsam verblassen ließ.
Sie konnte nicht genau sagen, wie lange sie nun schon in dieser Position verharrte, auf der Seite liegend, eine Hand unter ihrem Kopf, die andere auf den warmen Schuppen des Jungdrachen abgelegt, der zusammengerollt neben ihr schlief.
Die Nacht war still, abgesehen von den tiefen Atemzügen der anderen beiden Mädchen im Raum und denen des Drachen neben ihr. Eine willkommene Ruhe, die nur gestört wurde von dem wilden Getrommel ihrer Gedanken.
Dies war der letzte Morgen in diesem Bett, an dem sie einfach nur liegen bleiben konnte. Am nächsten Morgen wollte sie direkt nach dem Aufwachen aufbrechen, um Atlas zu suchen. Wieder und wieder vergewisserte sie sich, dass sich das Pergamentstück noch immer in der Tasche ihrer Hose befand und nicht herausgefallen war. Doch es war noch da, zerknittert und so viel Gewicht tragend, dass es sie beinahe erdrückte.
Vin wollte nicht aufstehen. Jetzt war sie ruhiges Wasser, entspannt und konnte sich einfach an dem erfreuen, was sie hatte: Ihre Freunde um sich, einen Drachen an ihrer Seite, ein Dach über dem Kopf, keine Schlachten mehr zu schlagen. Doch sie wusste, sobald sie die Bettdecke zur Seite schlagen und ihre Füße auf dem Boden absetzen würde, da würde sich die Angst wie eine große Sturmwolke in ihr ausbreiten.
Das Bett senkte sich ein wenig und Vin bemerkte, dass Zara aufgestanden war und sich zu ihr gelegt hatte. Vin wandte den Kopf, um ihre Freundin anzugucken, und spürte, wie sich Steine auf ihr Herz senkten. Sie konnte weder Zara noch Asteria oder Kerys mit auf diese Reise mitnehmen. Es ging einfach nicht. Niemand konnte sagen, wie gefährlich es werden würde und vor allem sollte der Moment zwischen ihr und Atlas, sollten sie sich am Ende dieser Reise wiedersehen, nur ihnen beiden gehören. Es würde eine Menge geben, über das sie zu reden hatten.
»Wirst du nach Hause gehen?«, fragte Vin leise, um Asteria nicht aufzuwecken. Sie hatte gestern Abend verkündet, dass sie in anderhalb Tagen aufbrechen würde. So würde sie noch einen ganzen Tag Zeit haben, um die Abläufe während ihrer Abwesenheit zu regeln.
»Ich weiß nicht. Vielleicht.« Mit Sicherheit vermisste sie ihre Mutter. »Ich weiß nur nicht, ob ich Asteria alleine hier lassen möchte.«
»Glaub mir, dies ist genau der Ort, an dem sie jetzt gerade sein möchte,« antwortete Vin daraufhin.
»Ja, aber trotzdem. Die letzten Wochen hätte ich hier auch nicht alleine sein wollen. Und auch wenn die Umstände jetzt anders sein mögen, nichts wird sich einfach über Nacht ändern. Vielleicht kann meine Mutter ja auch herkommen. Wobei das wahrscheinlich bei den Drachenseelen nicht gut ankommen wird.«
»Die haben hier aber nicht das Sagen. Nicht mehr«, erwiderte Vin, als müsste sie auch sich selbst daran erinnern. Vin drehte sich auf ihren Rücken, sodass sie Schulter an Schulter neben ihrer Freundin lag. Der Drache neben ihr, scheinbar erwacht, nahm dies als Einladung auf ihren Bauch zu klettern und es sich dort erneut gemütlich zu machen. Vin legte ihre Hände auf seinen Rücken.
»Mach das, wie du meinst«, sagte die ehemalige Drachenreiterin. »Während meiner Abwesenheit können du, Kerys, Asteria und Jerdan alles entscheiden.«
"Wie hast du es eigentlich hinbekommen, dass nicht Perilyx das Kommando übernimmt, solange du weg bist?«
»Gar nicht«, antwortete Vin. »Kerys hat mir geholfen.« Er ist nunmal der König und da wir ihm Unterstützung zugesichert haben, hat sein Wort Bedeutung. Die Worte klangen hallten trocken in ihrem Mund nach. Sie musste an den gestrigen Abend denken. Lange hatte sie darüber nachgedacht, wie sie den Drachenseelen erzählen sollte, dass sie für eine Weile verschwinden müsste, ohne dass sie erfuhren, dass Atlas sich möglicherweise in Gefahr befand oder dass die Verbindung zwischen ihnen nicht mehr bestand. Am Ende hatte sie einfach behauptet, dass sie die Präsenz von einer neu erwachten Magie spürte, der sie auf den Grund gehen wollte und es den Drachenseelen überlassen, was sie da nun hineininterpretierten. Ob sie glaubten, dass sie nach neuen Drachengeborenen suchen würde? Neuen Dracheneiern? Zweiteres konnte sie sich nur allzu gut vorstellen: Es wäre ja auch zu einfach für die Drachenseelen, wenn sie sich weiterhin in ihrer Festung verstecken konnten und das Ei auch noch geliefert bekamen, ohne dafür einen Finger rühren zu müssen.
Lange Zeit langen die beiden einfach nur da, bis die Sonne ihre ersten Strahlen durch das Fenster schickte und das Ende der ruhigen Gedanken einläutete. Es würde ein langer Tag werden, es gab viel zu tun.
Vin richtete sich auf und hüpfte vom Bett herunter. Sie war schon dabei, das Hemd und die Hose anzuziehen, die sie von Leana und Lloyd geschenkt bekommen hatte, als Zara auf sie zutrat, über ihren Armen dunklen Stoff tragend.
»Was ist das?«, fragte Vin, doch in dem Moment, in dem sie danach griff, wusste sie es. Es war das schwarze Gewand mit den hauchdünnen, dunkelgrünen Fäden, die in den dunklen, dicken Stoff eingearbeitet waren. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie es getragen hatte. Doch jetzt wirkte es anders.
»Ich habe es gekürzt und enger gemacht«, erklärte Zara, als Vin das Gewand neben sich hielt und ebendiese Tatsache auch feststellte. Es reichte ihr jetzt nur noch bis zu den Knien. »Außerdem habe ich in den Stoff Drachenschuppen eingearbeitet, die ich in irgendeiner alten Truhe gefunden habe. Sie waren sehr eingestaubt, also glaube ich nicht, dass irgendjemand sie vermissen wird.«
Vin betrachtete es noch eine Weile. »Soll ich es anziehen?«, fragte sie unsicher. Sie wusste nicht, wohin ihre Reise sie führen würde und sie wolle nicht, dass es kaputt ging. Andererseits würde sie heute noch nicht aufbrechen und es war vielleicht keine schlechte Idee, damit anzufangen, die Kleidung der Drachenreiter zu tragen. Obwohl so gesehen die Hose und das Hemd von Lloyds Vater ja auch die Kleider eines Drachenreiters waren.
»Absolut«, sagte Zara. »Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, nur damit ich nicht die Gesichter der Drachenseelen kann, wenn sie dich darin sehen.«
Vin musste lächeln, dann zog sie es über ihr Hemd drüber. Da die Dürre ein wenig nachgelassen hatte und sanften Brisen gewichen war, würde ihr darin auch nicht zu warm werden. Als sie die Knöpfe vorne zumachte und sich im Spiegel ansah, konnte sie nichts mehr von dem Gewand erkennen, in dem sie sich so deplatziert gefühlt hatte.
Das Gewand endete über ihren Knien, vorne hatte es einen Schlitz, sodass sie damit auch vernünftig auf einem Drachen sitzen können würde. Das hieß, falls sie jemals wieder auf einem Drachen sitzen würde. Am Oberkörper saß es eng an ihrer Haut, aber nicht zu eng, als dass sie damit Schwierigkeiten hatte, sich zu bewegen. Und die Ärmel... sie waren kürzer. Nicht mehr bis zum Handgelenk, sondern nur noch bis zu ihren Ellenbogen reichten sie, sie waren weit und gaben ihr genug Freiheit, mit ihren Armen alle möglichen Bewegungen auszuführen.
»Das...« Vin konnte kaum in Worte fassen, wie schön sie dieses Gewand fand. Wie sehr sie sich zum ersten Mal nicht nur als letzte und alleinige Drachenreiterin fühlte, sondern Teil einer Gemeinschaft. Teil der Gemeinschaft, die sie neu aufbauen würde, mit neuen Drachen und neuen Drachenreitern. »Danke«, sagte sie dann einfach, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte. Weil sie nicht ausdrücken konnte, was sie gerade fühlte.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Küche - hier gab es zwar niemanden, der kochte, doch das Dorf von Leana und Lloyd war nicht allzu weit entfernt und dort wurden die Drachen verehrt. Immer wieder kamen die Bewohner des Dorfes an und brachten Gaben vorbei, darunter Kleidung und Essen. Schnell wurde Vin fündig und fand einen Krug Milch, den sie in eine große Schale umfüllte und auf den Tisch stellte. Kallias hüpfte von ihrer Schulter herunter und stürzte sich darauf.
Vin beobachtete den roten Drachen. Kam es ihr nur so vor oder war er schon größer geworden? Und in diesem Moment wurde ihr eines klar: Sie würde ihn nicht hier lassen. Sie hatte lange überlegt, ob sie ihn in die Obhut Zaras übergeben würde, die sich gemeinsam mit Jerdan und Asteria darum kümmerte. Die drei würden ihre Sache gut machen, da war sie sich sicher, Jerdan und Asteria würden sogar mit ihm kommunizieren können. Doch es waren Momente wie diese, die ihr bewusst machen, dass sie nicht zu lange von dem Drachen getrennt sein wollte. Sie wusste noch nicht, wie lange sie unterwegs sein würde und wer wusste schon, was in dieser Zeit alles passieren würde. Was sie alles verpassen würde. Würde er sein erstes Feuer spucken, fliegen lernen, wachsen, bis er zu schwer zum Tragen wurde?
Mit leuchtenden Augen und Milchtropfen blickte der Drache auf und Vin griff nach ihm, um ihn sich auf die Schulter zu setzen - mittlerweile eine Bewegung, die so normal war wie Essen oder Gehen.
Zara lehnte sich an den hohen Tisch in der Küche. »Und«, fragte sie, »was machen wir heute?« Vin blickte zu ihrer Freundin hoch und wurde sich bewusst, dass sie sich in den letzten Tagen kaum gesehen hatten. Das Training und der Jungdrache sowie der Machtkampf mit den Drachenseelen hatte sie geschlaucht und beschäftigt. Da war abends keine Zeit mehr, mit Zara zu reden, alles, was sie nach einem langen Tag hatte tun können, war ins Bett fallen.
Vin dachte an das, was sie sich für heute vorgenommen hatte. Es war nicht besonders viel, sie musste mit den Drachenseelen darüber sprechen, was während ihrer Abwesenheit in der Festung passieren würde oder nicht passieren sollte. Nichts, was sie tun wollte, doch was sie tun musste. Doch danach hatte sie Zeit.
»Ich glaube, die Festung haben wir in den letzten Tagen zur Genüge gesehen«, sagte sie dann. »Wie wäre es, wenn wir nach draußen gehen und uns an den Fluss setzen?« Der Fluss hinter dem Hügel und die Weide, die daneben stand und ihre Äste in das sanft plätschernde Wasser tauchte. »Wir könnten ein wenig von dem Brot und dem Obst mitnehmen.«
Zara richtete sich auf, ihre Augen funkelten. »Oh ja, so wie früher, als wir uns immer ins Gewächshaus gesetzt haben zum Essen.« Vin nickte mit einem Lächeln. Die Momente im Gewächshaus waren für sie immer befreiend gewesen. Die Alternative war nämlich, alleine im Haus zu sein und manchmal, da wurden ihr die Erinnerungen an ihre Eltern, die in jedem Zimmer und auf jedem Flur lauerten, zu viel.
»Ich muss nur vorher noch einmal mit den Drachenseelen sprechen«, meinte Vin dann, »vielleicht können wir uns dann draußen treffen?«
Zara nickte und begann, etwas von dem Brot in einen Korb zu legen. Vin verließ die Küche und bewegte sich durch die kühlen Flure. Im Laufe des Tages würden diese sich aufhellen und wärmer sein, doch so früh am Morgen hing noch die Kälte der Nacht an dem Stein.
Es dauerte nicht lange, da fand sie Callea. Dies war keine große Überraschung, denn obwohl in dieser Festung nur von so wenigen bewohnt war, war es für Vin ein Leichtes, die anderen zu finden. Zum Einen hielten sich die Drachenseelen stets nur in denselben paar Räumen auf, genau wie Vin es auch bevorzugte, sich an die Räume zu halten, die sie kannte. Zweitens hatte das Training, so kurz und erfolglos wie es auch gewesen war, zumindest dazu beigetragen, ihre Wahrnehmung für ihre Umgebung zu verbessern. Sie konnte es fast auf ihrer Haut spüren, das leichte Kribbeln, das sie hin zog zu der Magie der anderen. Und als sie Callea gefunden hatte, da war es auch nicht so schwierig, die anderen ausfindig zu machen, die sich nicht weit von ihr entfernt aufhielten. Vin hatte anfangs gedacht, dass dies die verschiedensten Persönlichkeiten waren, alle Altersstufen und Geschlechter. Doch mittlerweile hatte sie das Gefühl, sie waren wie eine einzige Person, alle vereint durch das gleiche Schicksal.
Es war seltsam, als sie nun alle im selben Raum standen. Vin fragte sich, ob dieses Gefühl jemals abnehmen würde, ob sie sich irgendwann an die Drachenseelen gewöhnen würde.
Vin strich sich über ihr neues Gewand und fragte sich, was die Drachenseelen wohl darüber dachten. Dann griff sie in eine der Taschen, die das Gewand mit sich brachte. Sie hob das Pergament, das sie daraus hervorholte, mit den Notizen, die sie sich gemacht hat, in schmieriger Schrift. Ihre Eltern hatten ihr vor Jahren das Lesen und Schreiben beigebracht und Vin hatte auch danach noch alleine diese Fertigkeit weiterhin ausgeübt, doch sie war keine Schriftgelehrte gewesen. Ihre Eltern und sie hatten ihren Acker und ihr Gewächshaus und starke Hände und das war alles, was sie gebraucht hatten. Sie war sich aber auch zu stolz gewesen, um Jerdan um Hilfe zu fragen.
»Ich habe mir einige Sachen ausgedacht und eine Liste gemacht«, sagte Vin und begann an sich zu zweifeln, als sie die Blicke der Drachenseelen sah. Es war ein brüchiger Frieden zwischen ihnen und jetzt zählte mehr als irgendwann anders, wie sie ihr Anliegen rüberbrachte. Wenn sie es falsch anstellte, dann würde während ihrer Abwesenheit eine Menge Dinge in Drachenfeste passieren, die nichts als Schaden anrichten würden.
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